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Die Ruhr, der dysenterische Prozeß, beruht auf einer über den größten Teil des Dickdarmes ausgebreiteten, epidemisch und endemisch, in unserem Klima auch häufig sporadisch vorkommenden Affektion, die sich im wesentlichen durch Kolikschmerzen und mit Zwang (Tenesmus) erfolgende häufige Entleerungen geringfügiger, mehr oder weniger blutiger Schleimmassen aus dem Darme, durch ein begleitendes geringeres oder stärkeres Fieber und durch akuten Verlauf äußert. Die einheimische Ruhr wird durch den Kruseschen Ruhrbazillus erzeugt. – Man kann zwei Stadien der Ruhr unterscheiden: das katarrhalische und das diphtherische. Das letztere ist die Steigerung des ersteren. Nicht selten schließt die Ruhr, wenn sie nicht endemisch oder epidemisch auftritt, sondern nur vereinzelt (sporadisch) vorkommt, mit dem ersten Stadium ab. Es gibt demnach eine katarrhalische oder gutartige (benigne) und eine diphtherische oder bösartige (maligne) Ruhr.
Im katarrhalischen Stadium ist die Schleimhaut des Darmes stark hyperämisch, rot und geschwollen; beteiligen sich, wie nicht selten, die Darmfollikel an der Entzündung, so stoßen sich diese durch Eiterung ab und hinterlassen eine Menge kleiner, siebartig gruppierter Löcherchen in der Schleimhaut. Diese follikulären Darmgeschwürchen führen oft umfängliche Schleimhautverschwärungen herbei, durchbrechen aber selten sämtliche Hautschichten des Darmes, in welchem Falle Bauchfellentzündung auftritt.
Im diphtherischen Stadium bilden sich diphtherische Infiltrationen mit Blut, Eiter und amorphem Faserstoff. Die Schleimhaut (Mucosa) und Submucosa sind enorm geschwollen. Es kommt zu häufigen Abstoßungen des diphtherischen Belages, die Geschwüre greifen nach der Fläche und Tiefe um sich. Durchbohren die Geschwüre den Darm, dann tritt der Tod durch Bauchfellentzündung ein. Werden große, schwärzliche Fetzen von der Schleimhaut abgestoßen und als stinkende Massen durch den Stuhl entleert, so spricht man von brandiger oder gangränöser Ruhr.
Die endemische Ruhr kommt nur in den Tropen vor (Amöbenruhr) und verläuft hier mit besonderer bösartiger Heftigkeit. Sie ist oft mit Leberabszessen verbunden. Als Krankheitsursache wird eine gewisse Form von Amöben (Amoeba hysterolitica) betrachtet. Die sporadische Ruhr tritt in unserem Klima meist im Herbste oder Hochsommer auf und entsteht gewöhnlich durch Erkältung, durch den Genuß unreinen Trinkwassers oder unreifer, saurer, wässeriger Früchte (Pflaumen). Sekundär wird sie bisweilen bei Typhus, Morbus Brighti usw. beobachtet.
Am häufigsten beginnt die Ruhr mit unbedeutendem Durchfalle ohne Stuhlzwang und Leibweh. Je mehr die Durchfallstühle sich häufen, desto mehr entwickeln sich die für die Diagnose höchst wichtigen charakteristischen Erscheinungen der Ruhr: häufige, blutige und stark eiweißhaltige Stühle, Tenesmus (Stuhlzwang), heftige, kolikartige Schmerzen im Unterleibe vor Entleerung der Stühle und Schmerzhaftigkeit des Dickdarmes, besonders des absteigenden Teiles. Je nachdem die entleerten, dem gekochten Sago ähnlichen, nicht mehr kotigen Massen vorwaltend schleimig oder blutig sind, spricht man von einer weißen oder roten Ruhr. Nicht selten gehen mit diesen schleimigen oder blutigen Massen auch einzelne harte Kotklümpchen ab. – Stets enthalten die Stühle eine große Menge Eiweiß, selbst in den milderen Ruhrfällen. In einer Krankheitsdauer von 3 Wochen beträgt der durchschnittliche Eiweißverlust nach Oesterlen 900 bis 1000 g. Die Zahl der Stuhlentleerungen kann in 24 Stunden 10 bis 15 bis 30 und darüber betragen. Bei mäßigen Erkrankungsgraden ist der Puls voll, der Durst gering, die Pulsfrequenz und Temperatur unbedeutend erhöht. In den schwereren Fällen ist der Puls klein, die Temperatur beträchtlich gesteigert, der Durst äußerst stark, die Hinfälligkeit sehr groß.
Die Ruhr ist stets eine bedenkliche Krankheit. Bei bösartigen Epidemien entwickeln sich häufig aus den leichtesten Fällen schwere Ruhrformen, denen kränkliche und schwächliche Individuen sowie Greise und Kinder am meisten unterliegen. Die Sterblichkeit ist am größten unter den Armen, in biwakierenden Heeren, in Spitälern, in Gefängnissen, auf Schiffen usw. In den milderen Fällen tritt meist unter Nachlaß der Leibschmerzen und der blutigen Entleerungen nach 8 bis 10 Tagen, in schwereren nach 3 bis 4 Wochen Genesung oder eine allmähliche Rekonvaleszenz ein. Oft bleiben, infolge des während der Krankheit erlittenen großen Verlustes an Eiweiß, wassersüchtige Erscheinungen zurück. Wenn nach bedeutender Schleimhautzerstörung Genesung erfolgt, dann bleiben immer mehr oder weniger erhebliche Verengerungen im Dickdarme zurück. Geht die Ruhr in die chronische Form über, dann können die zurückbleibenden, lentescierenden (langsam fortschreitenden) Geschwüre noch nach längerer Zeit den Tod herbeiführen.
In Ruhrzeiten muß man Erkältungen, besonders des Unterleibes und der Füße, ebenso Durchfall erregende Speisen vermeiden. Man trage wollene Unterkleider und lege warme Leibbinden an. Abtritte, Stechbecken, Klistierspritzen Ruhrkranker dürfen von Gesunden nicht benutzt werden. – Da die Contagiosität (Ansteckungsfähigkeit) der Ruhr sicher erwiesen ist, so sind die Kranken von den Gesunden zu trennen und die Entleerungen (Dejekte) sorgfältig zu desinfizieren.
Im vorstehenden haben wir zwei wesentlich voneinander verschiedene Stadien der Ruhr geschildert und wollen demnach auch für unsere therapeutischen Zwecke auf diese beiden Stadien der Ruhr Bezug nehmen. Das erste Stadium, mit dem nicht selten die sporadisch auftretende Ruhr abschließt, zeigt uns das Bild eines Dickdarmkatarrhes. Es werden anfangs unter kolikartigen Leibschmerzen und Tenesmus (Stuhlzwang) mit den wässerigen Stühlen oft noch knollige Kotmassen entleert. Übernehmen wir in diesem Stadium den Patienten, dann lassen wir auf die schmerzhafte Bauchstelle warme Breiumschläge machen und verabfolgen Belladonna in ½- oder ¼stündlichen Gaben. Den Durst stillen wir am besten durch schleimige, mit etwas Eiweiß vermischte kalte Getränke (1 Eiweiß auf ½ l Hafergrützschleim oder Reiswasser). Dabei bleibe der Patient in gleichmäßiger Bettwärme. Belladonna eignet sich am besten bei heftigem Fieber, Durst, großer Empfindlichkeit der Bauchdecke gegen Berührung und häufigem Stuhldrange. In ähnlichen Fällen, aber bei mäßigem Fieber, heftigem Tenesmus mit oder ohne Abgang geringer und mit Kotklümpchen vermischter Schleimmassen, kolikartigen Schmerzen in der Nabelgegend und Brechübelkeit verabfolgen wir Nux vomica. – Wenn vor jeder der mehr oder weniger mit Blut gemischten, schleimigen, unter stetem Tenesmus erfolgenden Stuhlentleerungen außerordentlich heftige, zum Rasendwerden sich steigernde Kolikschmerzen, besonders in der Nabelgegend, empfunden werden, dann verabfolgen wir sofort Colocynthis. Treten jedoch keine Harnbeschwerden auf, dann würden wir bei gleich heftigen Kolikschmerzen, besonders wenn diese den ganzen Unterleib einnehmen, der Dioscorea villosa den Vorzug geben. Die Leibschmerzen und der Tenesmus werden durch dieses Mittel oft so schnell beseitigt, daß die Kranken glauben, es wären betäubende Mittel angewandt worden. Dr. Hale, der dieses Mittel bei den genannten Symptomen sehr empfiehlt, will niedere Potenzen (3.) angewandt wissen. – Ferner verdient noch Colchicum besondere Erwähnung, das sich bei jenen Herbstruhren bewährt, die mit Schleim- oder Galleerbrechen verbunden sind und besonders bei Kindern nach dem Genusse unreifer, saurer Früchte beobachtet werden. Bei Aufgetriebenheit des Magens und Unterleibes, argen Kolikschmerzen mit heftigem Schneiden in den Därmen und Stuhldrang; bei flüssigen, sehr stinkenden oder blutigen und blutig-schleimigen Stühlen; bei großer Mattigkeit, kühler Haut und Schweiß auf der Stirn. Ebenso Capsicum, wenn gleichfalls der Leib sehr aufgetrieben ist und bei den geringen, aber häufigen Ausleerungen heftiges Zwängen und Brennen zugegen sind. – Mit diesen Arzneien, denen wir noch Ipecacuanha hinzufügen, die dann von vortrefflicher Wirkung ist, wenn bei der katarrhalischen Ruhr zur Herbstzeit, neben bedeutendem Leibschneiden, Übelkeit und Erbrechen vorherrschen, hätten wir alle gegen die einfachen katarrhalischen Ruhrformen zu empfehlenden Mittel erschöpft.
Im vorgeschrittenen Stadium der Ruhr, bei blutigen und blutschleimigen Stühlen mit außerordentlichem Zwange vor und nach den Ausleerungen, Brennen am After, großer Unruhe mit Angstschweißen ist Mercurius solubilis das Hauptmittel. Wir lassen von der Verreibung eine gehäufte Federmesserspitze in 6 Eßlöffel Wasser auflösen und verabfolgen von dieser Lösung ¼- bis ½stündlich 1 Eßlöffel voll. Lassen bei dem Gebrauch dieses Mittels in 8 bis 12 Stunden die Schmerzen nicht nach, dann greifen wir zu Mercurius corrosivus. Wir verrühren hiervon 12 Tropfen in 6 Eßlöffel Wasser und verabfolgen hiervon in der vorerwähnten Weise. Mercurius corrosivus hat unstreitig in den höheren Graden der Ruhr eine weit intensivere Wirkung als Mercurius solubilis, und wir geben ihm daher vor diesem den Vorzug. Er entspricht ganz hervorragend dem diphtherischen Darmprozesse. Bei sehr bedeutendem Tenesmus geben wir Klistiere von Reiswasser. Man führe sehr schonend die Kanüle der Spritze ein und bringe das Klistier nicht vor, sondern gleich nach erfolgtem Stuhlgange bei. Gegen den verzehrenden Durst verabfolgen wir kleine Eisstückchen, die der Patient im Munde langsam zergehen lassen muß. Treten trotz Anwendung des Mercurius corrosivus immer wieder neue Verschlimmerungen auf, die sich besonders nachts durch bedeutenden Stuhlzwang bemerkbar machen, dann schalten wir noch Sulfur, zu täglich 2 bis 3 Gaben, ein. Er hilft oft in den verzweifeltsten Fällen, wenn andere Mittel im Stiche lassen.
Gegen den durch die Verarmung des Blutes an Eiweiß herbeigeführten Schwächezustand sowohl, als auch gegen die etwa eintretende Wassersucht verabfolgen wir China oder Arsenicum. – Besonders sahen wir nach China die große Schwäche und Hinfälligkeit, die ermattenden Schweiße und die kühle Temperatur der Haut sehr bald schwinden und die sehr gesunkenen Kräfte sich wieder heben. Die belegte Zunge wurde rein, der pappige Mundgeschmack schwand, und bei der sich nun wieder einstellenden Eßlust wurde eine vorsichtig gewählte, nahrhafte, leicht verdauliche Kost verabreicht.
Bei der brandigen oder gangränösen Ruhr empfehlen sich Arsenicum oder Carbo vegetabilis. Bei heftigen Blutungen: Acidum muriaticum oder Acidum phosphoricum.
Geht die Ruhr in die typhöse Form über, was sich durch plötzlich erscheinende Schüttelfröste ankündigt, dann tritt sehr bald mit den sich bis ins Unerträgliche steigernden kolikartigen Leibschmerzen und den häufigen, viel Blut, Schleim und Epithelien (die oft als größere Hautmassen entleert werden) enthaltenden Stühlen, die unter stetem, sich bis zur Ohnmacht steigerndem Tenesmus erfolgen, große Hinfälligkeit ein. Der sehr saturierte Urin wird sparsam gelassen, der Durst ist unerträglich, die Zunge trocken und weiß belegt und der aufgetriebene Leib gegen Druck sehr empfindlich. Die Kranken fangen an zu delirieren und werden apathisch; der Puls wird klein, fadenförmig und fast unzählbar. Die Klagen über Schmerzen und Tenesmus hören auf, der Stuhl geht unwillkürlich ab. Dieser Zustand kann sich bis in die 3. oder 4. Woche erstrecken; im besten Falle erfolgt die Rekonvaleszenz nur langsam. In schlimmen Fällen tritt unter immer mehr zunehmendem Collaps der Tod ein.
Die in obiger Weise auftretende Krankheit erfordert zu ihrer Bekämpfung Rhus Toxicodendron, Baptisia oder Arsenicum. Bei geringem Durste, aber bedeutender Hinfälligkeit und Apathie: Acidum phosphoricum oder Phosphorus.
Um Wiederholungen zu vermeiden, verweisen wir bei der Wahl der gegen die typhöse Ruhr aufgeführten Mittel auf die bei Nervenfieber erörterte Charakteristik jedes einzelnen.
Oft bleibt nach erfolgter Rekonvaleszenz eine habituelle Stuhlverstopfung zurück, die gewöhnlich die Folge einer Verengerung ist, die sich an irgendeiner Stelle des krank gewesenen Darmkanals gebildet hat. Die Beseitigung solcher Verengerungen ist in den meisten Fällen unmöglich. Im Beginne ihrer Bildung versuche man Silicea oder Natrium muriaticum.