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Unter Lähmung, Paralysis, versteht man die Verminderung oder Aufhebung der Fähigkeit, die aktiven Bewegungsorgane – d. h. den motorischen Nervenapparat und die Muskeln – zu ihrer normalen Funktion anzuregen. (Störungen der Bewegung durch Krankheiten der passiven Bewegungsorgane, Knochen, Gelenke, Bänder usw. werden daher nicht hierher gerechnet, ebenso nicht die durch Mangel der zentralen Willenserregung. – Willenlosigkeit als Krankheit des Geistes, Abulie – bedingte Immobilität.) Ist die Erregbarkeit der Muskeln vollkommen erloschen, dann nennt man die Lähmung Paralysis completa, ist jedoch noch einige Bewegungsfähigkeit vorhanden, dann nennt man die Lähmung eine unvollkommene: Paralysis incompleta oder Paresis. Der Verlust der Bewegungsfähigkeit erstreckt sich entweder auf einzelne Muskeln oder auf ganze Körperdistrikte; gewöhnlich stellen sich Empfindungslosigkeit und Muskelzuckungen in den gelähmten Teilen ein.
Nach dem Sitze der lähmenden Einwirkung unterscheiden wir die von Störungen im Gehirn abhängigen zerebralen Lähmungen und die vom Rückenmarke und seinen Umhüllungen ausgehenden spinalen Lähmungen. Bei der vom Gehirn ausgehenden Lähmung wird gewöhnlich nur eine, die der Verletzung oder Läsion im Gehirn entgegengesetzte Seite ergriffen, was meist bei Affektionen der linken Seite vorkommt. Sie betrifft als Halblähmung (Hemiplegie) das Gesicht, die Zunge, den Arm und das Bein. Hat die Läsion jedoch ihren Sitz in beiden Gehirnhälften oder in der Mittellinie des Gehirns, dann betrifft die Lähmung beide Seiten ( Paraplegie). Die cerebralen Lähmungen treten gewöhnlich nach Gehirnhämorrhagien auf, also nach Schlagflüssen, gewöhnlich durch Blutergüsse im Großhirn, in dem die Willenserregungen in motorische Erregungen umgesetzt werden, und es sind dann Kopfschmerzen, Bewußtlosigkeit, Gedächtnisschwäche usw. zugegen. – Die spinalen Lähmungen treten am häufigsten unter der Form von Paraplegien, aber auch als spinale Hemiplegien, Hemiparaplegien, sog. wechselständige Spinallähmungen, Monoplegien, endlich als allgemeine Rückenmarkslähmungen auf. Hat die Läsion ihren Sitz im Lendenteile des Rückenmarkes, so erstreckt sich die Lähmung auf die Unterglieder, wenn weiter oben im Halsteile, auch auf die Arme. Rückenmarkslähmungen verbreiten sich von unten nach oben; tritt Besserung ein, dann schwindet – im Gegensatze zu den Gehirnlähmungen – die Lähmung zuerst in den Obergliedern. Begleitende und meist sehr lästige Symptome dieses Leidens sind: zeitweise, durch Druck erhöhte Schmerzen in der Wirbelsäule und infolge der Lähmung der Blasen- und Mastdarmnerven unwillkürlicher Harn- und Kotabgang.
Mit Übergehung der Darstellung der zahlreichen entfernteren Lähmungsursachen wollen wir zunächst hervorheben, daß nur in solchen Fällen von dem Gebrauche unserer Arzneimittel eine Heilung oder Besserung zu erwarten ist, wo die Erregbarkeit der betreffenden Nerven, primär oder sekundär, nicht gänzlich erloschen ist und die mit den Nerven in Verbindung stehenden Muskeln in ihren Gewebselementen noch nicht entartet sind.
Bei der Hemiplegie nach Gehirnhämorrhagie, also nach Schlagfluß, ist vollständige Heilung nur selten zu erreichen, doch haben wir häufig nach dem Gebrauche unserer Medikamente eine bedeutende Besserung im Befinden des Kranken wahrgenommen und verweisen daher auf das bei Schlagfluß Gesagte.
Unter den spinalen Lähmungen, die vom Rückenmark und seiner Umhüllung ausgehen und am häufigsten unter der Form von Paraplegien auftreten, sind die tabetischen Lähmungen die häufigsten und aussichtslosesten.
Die peripheren Lähmungen unterscheiden sich von den bisher besprochenen Paralysen durch ihr Beschränktsein auf das Gebiet eines oder mehrerer Nervenstämme, durch das Fehlen von Reflex- und Mitbewegungen im Bereiche der gelähmten Nerven, durch das frühzeitige Erlöschen der elektrischen Kontraktilität. Bei Lähmungen gemischter Nerven findet sich auch Anaesthesie (Gefühllosigkeit) in dem bekannten Verbreitungsbezirke der sensibeln Fasern. Sie sind jedenfalls immer Leitungslähmungen, deren Ursache an irgendeiner Stelle zwischen dem Austritte der motorischen Bahnen aus dem Gehirn und Rückenmark und ihrem Eintritte in die Muskeln einwirken kann. Bei den peripheren Lähmungen verdienen unsere besondere Beachtung die sog. rheumatischen, die traumatischen und manche Lähmungen nach akuten Krankheiten (Typhus, akute Exantheme, Diphtherie usw.).
Die Ursache der rheumatischen Lähmungen ist Erkältung. Sie befallen am häufigsten die Muskelgebiete des Nervus facialis, des Nervus radialis, die Schulter- und Nackenmuskeln und die Muskeln der unteren Extremitäten. Es ist wahrscheinlich, daß Hyperämie und Ödem des Neurilemms (Nervenscheide), durch die die Nervenfasern gedrückt werden, diesen Lähmungen zugrunde liegen. Unter den hier in Anwendung kommenden homöopathischen Heilmitteln heben wir besonders hervor: Arnica, Calcium carbonicum, Causticum, Dulcamara, Ledum, Nux vomica, Rhus Toxicodendron, Sulfur. Außerdem sind oft von Nutzen die warmen Quellen und Moorbäder von Teplitz, Wiesbaden, Wildbad und Oeynhausen.
Die traumatischen Lähmungen, die durch äußere Gewalttätigkeiten, Quetschung, Dehnung und direkte Verwundung der Nervensubstanz entstehen, treten entweder unmittelbar hervor oder werden verursacht durch Entzündung und Exsudation, welch letztere dann durch Druck Lähmung erzeugt. Selbstverständlich ist hier die Möglichkeit einer Heilung von dem Grade der Verletzung abhängig. Arnica, Ruta und Rhus Toxicodendron sind nach den obwaltenden Umständen und Symptomen in Anwendung zu bringen. Zur Beförderung der Aufsaugung der etwa der Lähmung zugrunde liegenden Exsudate verdient außer Arnica noch Mercurius corrosivus oder Kalium jodatum Berücksichtigung. Oft entstehen Lähmungen infolge längerer Untätigkeit eines Gliedes, wie sie zur Heilung eines Traumas (Knochenbruches usf.) erforderlich ist. Man versuche hier die Elektrizität mit Vorsicht.
Periphere Lähmungen nach akuten Krankheiten (Diphtherie, Scharlach, Typhus usw.) sind oft Gegenstand ärztlicher Konsultation. Diese Lähmungen haben bald den Charakter der cerebralen oder spinalen, bald den der peripheren Lähmungen. Wo, wie sehr häufig, infolge der Lähmung Muskelschwund eingetreten ist, muß von jedem therapeutischen Eingriffe abgesehen werden. Am günstigsten gestalten sich die Resultate nach Diphtherie (siehe diese), auch kann man hier von der Elektrizität (nach fachmännischer Begutachtung) Gebrauch machen; ungünstiger nach Scharlach, am ungünstigsten nach Typhus. In frischen Fällen sind oft von sehr gutem Erfolge: Belladonna, Gelsemium, Kalium jodatum, Mercurius solubilis, Phosphorus, Rhus Toxicodendron, ferner: Argentum nitricum, Cocculus, Plumbum, Nux vomica, Sulfur und Zincum metallicum.
Schließlich wollen wir hier noch einige der aufgeführten Mittel näher charakterisieren.
Argentum nitricum: Sehr wirksam bei Lähmung mit heftiger Affektion des zentralen Nervensystems, wie Betäubung, Atemnot, Krämpfe, Lähmung bis zum Eintritt des Todes. Große Schwäche und Mattigkeit; Blutandrang und Überfüllung der Blutgefäße mit Empfindung der Pulsation. Schwindel, Ohnmachtsanwandlungen, schwieriges Denken. Krampfhafte Gesichtsmuskelverzerrungen.
Arnica: Hauptmittel bei frisch entstandenen Lähmungen, sowohl nach Schlagflüssen, als auch nach Überanstrengung und Verletzung. Kongestivzustände nach dem Hirn, Überfüllung der Blutleiter. Hervorragendes Resorptionsmittel, wenn durch Berstung kleiner Gefäße (Kapillaren) Blutaustritt stattgefunden hat. Überhaupt bei Paralysen, die durch Exsudationen irgendwelcher Art erzeugt worden sind. – Lähmung und Kraftlosigkeit der Arme und Hände mit dem Gefühl von Ameisenkriechen; auch Lähmung der Füße. Konvulsivische Muskelzuckungen oder Sehnenhüpfen in den gelähmten Teilen, auch mit Empfindung krankhafter Stöße, wie von elektrischen Schlägen.
Baryum carbonicum: Verdient größte Beachtung bei alten, zu sich wiederholenden Schlagflüssen geneigten Personen mit Arteriosklerose, auch bei Kopfweh, Schwindelanfällen und Ohrensausen. Puls schnell, weich, unregelmäßig. Erschlaffung der Glieder, mit mürrischer, verdrießlicher Gemütsstimmung und Verdauungsschwäche. Zungenlähmung. Aphasie, d. h. Verlust der Sprache bei anhaltender Intelligenz. Bei Bulbärparalyse und Bewegungsstörungen der Zunge und Störungen des Schluckens infolge sklerotischer Entartung der Arterien allen anderen Mitteln vorzuziehen.
Causticum: Bei halbseitiger Lähmung (Hemiplegie) nach Schlagfluß, besonders wenn die rechte Seite ergriffen ist; bei halbseitiger Gesichtslähmung durch Zugluft und Erkältung, auch mit Ergriffensein der Zunge und beeinträchtigter Sprache. Gelähmtsein der Füße oder der Arme. Große Kraft- und Gefühllosigkeit in den Händen, das Festhalten der ergriffenen Gegenstände verhindernd. Bei Lähmungen nach gewaltsamer Schweißunterdrückung oder nach plötzlich unterdrückten chronischen Hautausschlägen.
Cocculus: Besonders nach frisch entstandenen, von Erkältung herrührenden Paraplegien, die vom Kreuze ausgehen und die Beine betreffen, mit heftigen Schmerzen in den gelähmten Teilen oder konvulsivischen Zuckungen darin. Auch bei Lähmung der Zunge, des Gesichtes und des Schlundkopfes.
Cuprum: Sehr beachtenswert bei vom Gehirn und Gehirnnerven abhängenden Lähmungen der Bewegungsnerven, mit Gedächtnisschwäche, Schwindel und Zuckungen in den gelähmten Teilen, besonders in den Fingern. Auch bei Lähmungszuständen einzelner Nervengebiete nach akuten Krankheiten (Typhus, Diphtherie usw.). Lähmungen der Zunge.
Gelsemium: Paralysen der motorischen Nerven, besonders nach Diphtherie, Influenza und akuten Exanthemen; nicht von organischen Veränderungen im Gehirn, Rückenmark oder der peripheren Nerven abhängig. Mit und auch ohne Benommenheit oder Trägheit des Denkvermögens. Erschlaffung der Sphinkteren; daher unwillkürlicher Stuhl- und Harnabgang. Venöse, auch arterielle Kongestionen von Erkrankung der vasomotorischen Nerven. Mühsames Atmen, schwieriges Sprechen, besonders nach Gemütsbewegungen, bei hysterischen Personen. Lähmung des oberen Augenlides. Schwieriges Aufrichten und Gehen.
Ledum: Lähmungsartige Zustände und Lähmungen, besonders rheumatische, im Hüftgelenke, ohne vorliegende organische Gewebsstörungen. Ähnlich Dulcamara bei Lähmungen von Erkältung. Überhaupt ist Dulcamara ein vorzügliches Mittel bei Erkältungslähmungen und, besonders wenn die oberen Gliedmaßen ergriffen sind, dem ersteren vorzuziehen.
Nux vomica: Hat sich oft in spinalen Lähmungen, besonders bei Schwere und Lähmigkeit in den Beinen, mit Ameisenlaufen darin, nach Erkältung, im Wechsel mit Sulfur, vorzüglich bewährt. Oft sind Blasenlähmung und Stuhlverstopfung zugegen: Symptome, die auf Erkrankung des Rückenmarkes deuten. In solchen Fällen hat von Bönninghausen auch Alumina empfohlen.
Phosphorus: Sehr empfehlenswert und von großem Nutzen bei Lähmung und Erschlaffung sämtlicher Gliedmaßen. Spinale Lähmungen nach akuten Krankheiten und unschätzbares Mittel bei der sog. Kinderlähmung, auch im Wechsel mit Nux vomica. Beim Versuche zu stehen Zittern der Knie mit Zusammenknicken; Kraftlosigkeit und zitternde Lähmigkeit in Armen und Händen.
Plumbum: Die Störungen in der Motilitätssphäre sind dem Grade und der Örtlichkeit nach verschieden. Graduell wechseln sie von erschwerter Beweglichkeit bis zur vollständigen Paralyse mit Abmagerung und geringer Wärme in den ergriffenen Teilen. Oft sind nur einzelne Muskeln, besonders die Streckmuskeln (Extensoren), ergriffen und in ihrer Bewegung verhindert. Zuweilen werden alle Muskeln der ganzen Extremität gelähmt, und in einzelnen Fällen sind die unteren wie die oberen Gliedmaßen in ihrer Gesamtheit der Bewegungsfähigkeit beraubt. In schlimmen Fällen gesellen sich Anaesthesie und Gliederreißen (Arthralgie) hinzu. – Während bei Cuprum vorwiegend die motorischen Nerven gelähmt sind, die Empfindung nicht erloschen ist und sich leicht konvulsivische Zuckungen in den gelähmten Teilen finden, sind bei Plumbum Bewegung und Empfindung erloschen und die Gehirnfunktion ist bedeutend gestört. Beide Mittel haben Beziehungen zur Zunge.
Rhus Toxicodendron: Ein höchst schätzbares Mittel bei peripheren Lähmungen, besonders nach Erkältung im Feuchten und nach Rheumatismus, aber auch bei Lähmungen nach akuten Krankheiten (Typhus), mit Schwerheitsgefühl in allen Gliedern und Strammen wie von Flechsenverkürzung. Halbseitige Lähmung, besonders der Unterglieder, mit Ameisenlaufen und Kälte der ergriffenen Teile.
Sulfur: Lähmungen bei skrofulösen Personen und auf materiellen Veränderungen beruhende Paralysen. Auch solche, die nach plötzlich vertriebenen chronischen Hautausschlägen entstehen.
Ferner haben sich noch bei vom Gehirn und Rückenmark ausgehenden Paralysen bewährt: Argentum nitricum, Zincum, Secale. – Bei rheumatischen Lähmungen, besonders der Arme: Ferrum metallicum; der Fuß- und Handgelenke: Ruta. – Bei Lähmungen der Augenlider: Gelsemium, Spigelia; der Zunge: Stramonium, Belladonna.
Hier wollen wir noch die höchst lästige und qualvolle Schüttellähmung erwähnen ( Paralysis agitans). Sie kommt vor im mittleren und höheren Alter. Zitternde Bewegung der Arme und Hände, zunächst rechtsseitig. Verschlimmert durch jede Aufregung. Die Finger sind meist nach der Innenseite gekrümmt, der Daumen eingeschlagen. Später fällt das Gehen, wobei der Körper nach vorn gebeugt ist, schwer. Die Ursache der Krankheit ist unbekannt, Heilung kaum erzielbar. Empfohlen sind: Argentum nitricum, Arsenicum, Causticum, Zincum valerianicum. Prof. Erb empfiehlt faradische bipolare Bäder, will auch sehr gute Resultate erzielt haben von Hyoscinum hydrobromicum, in sehr kleinen Gaben, längere Zeit gebraucht.
Bei Lähmungen nach Vergiftungen ist ein antidotarisches Verfahren durch die geeigneten chemischen Gegengifte einzuleiten. Lähmungen durch Quecksilber erfordern zunächst den Gebrauch der Aachener Thermen, dann: Acidum nitricum, Hepar sulfuris, Aurum muriaticum natronatum; durch Arsenik: Ferrum, China, Graphites. – Lähmungen durch Blei: Opium, Nux vomica.
Die sog. essentielle Kinderlähmung ist bei Kinderkrankheiten abgehandelt worden.