Sagen aus Franken
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Die verwunschene Jungfrau auf Schloß Schönstein bei Röttingen

Etwa ein halbes Stündlein von Röttingen an der Tauber gegen Stalldorf zu, liegt ein Waldgebiet, das den Namen Schönstein führt. Dieser Wald bildete vor Zeiten die Grenzmarkung eines Dorfes, das einstmals hier stand; noch heutzutage findet man im Gestrüpp Spuren vom Mauerwerk, deutlich sind die Gewölbe eines Schlosses zu erkennen. Wie das Dorf zugrunde ging und weshalb die Gemeinde sich auflöste, ist unbekannt. Ein großer Teil der Bewohner ist nach Röttingen gezogen. Vom Schloß Schönstein weiß die Sage allerlei zu berichten.

Vor vielen Jahren lebte ein schöner junger Schäfer in der Gegend, der seine Herde oft in der Nähe des schon damals verfallenen Schlosses weidete. Eines Abends hörte er den traurigen Gesang einer zarten Frauenstimme aus dem Innern der Burg dringen. Aber vergebens spähte er nach allen Seiten aus, um die Sängerin dieser zarten Lieder zu entdecken.

Die Stimme ließ sich mehrere Abende nacheinander hören, bis der Hirt einmal aus seinem Versteck das holde singende Fräulein auf dem Gemäuer des Schlosses wandeln sah. Anstatt aber beherzt zu ihr zu gehen, ergriff der gute Schäfer, von heimlicher Furcht überfallen, die Flucht, eilte geraden Weges nach Hause und berichtete dem Pfarrer seines Ortes, was er soeben erlebt hatte. Der Geistliche sprach ihm Mut zu und gab ihm den Rat, sollte er noch einmal die Erscheinung sehen, möge er sogleich auf sie zugehen, sie in Gottes Namen anrufen und fragen, was ihr Begehr sei und wie man ihr helfen könne.

Der Jüngling versprach, das gute Werk zu vollbringen, betete inbrünstig zu Gott um Beistand und zog am nächsten Morgen guten Mutes mit seiner Herde in die Nähe des alten Gemäuers. Es währte nicht allzulange, da ließ sich der traurige Gesang wieder vernehmen, und bald zeigte sich auch die gleiche Frauengestalt, in ein weißes Gewand gehüllt und von einem weißen Schleier umflattert. Nun faßte sich der Jüngling ein Herz, schritt auf die Gastalt zu und fragte sie im Namen Gottes, wie er ihr helfen könne.

Das Fräulein antwortete, sie sei hierher verbannt und müsse einen großen Schatz hüten, bis ein unschuldiger Jüngling käme und sie erlöse. Zu diesem Werk habe sie ihn auserkoren, er möge den Mut nicht verlieren, sich aber auf einen harten Kampf gefaßt machen. Am Walpurgistag solle er wieder kommen, jedoch seine Herde daheim lassen, dann müsse er, ohne sich umzusehen, entschlossen nach der Burg eilen, dürfe sich aber durch keine Trugbilder und Erscheinungen abschrecken lassen, sondern möge kühn von ihrem Hals einen Schlüssel nehmen. Damit sei das Werk ihrer Erlösung vollbracht, ihm aber werde ein reicher Schatz zufallen.

Der Jüngling versprach, diese Worte genau zu befolgen. Darauf verschwand das Fräulein sogleich von der Mauer. Der junge Schäfer aber machte sich nachdenklich auf den Rückweg und berichtete seinem Pfarrherrn, was vorgegangen war. Dieser ermunterte ihn aufs neue, nur den Mut nicht zu verlieren; denn er könne ein gutes Werk vollbringen und noch dazu für sich und seine armen Eltern reichlichen Lohn gewinnen.

Als schließlich der festgesetzte Tag herangekommen war, machte sich der Schäfer, nachdem er sich noch durch Buße vorbereitet hatte, beherzt auf den Weg, dem Schönsteiner Schloß zu. Kaum näherte er sich dem Gehölz, da stieg plötzlich ein mächtiger Geier vor ihm auf und umkreiste sein Haupt mit wildem Gekreisch und Flügelschlag. Doch der Schäfer ließ sich dadurch nicht aufhalten, still und vertrauensvoll ging er seines Weges weiter. Gleich darauf sprang ein gräßlicher Wolf, die Zähne fletschend, vor seinen Weg, während sich eine grüne Schlange neben ihm auf dem Boden hinringelte und in den Lüften das »wilde Heer« mit Höllenlärm vorbeibrauste. Gleichzeitig rollte der Donner, zuckten die Blitze neben und über ihm, und wildes Gewürm umkroch seine Füße, daß er meinte, keinen Schritt weiter tun zu können.

Doch all diese Schrecknisse vermochten den Mut des Jünglings nicht zu erschüttern; wacker schritt er aus, auf die Jungfrau zu, die er auf einmal auf dem Gemäuer droben stehen sah. Aber, o Graus! Um ihren Hals wanden sich zwei scheußliche Schlangen, die zischend um sich züngelten und den goldenen Schlüssel mit ihren Ringelleibern festhielten. Aus diesem Knäuel giftigen Gewürms sollte der Jüngling den Schlüssel nehmen! Dazu gehörte mehr als der Mut eines Menschen!

Schon war der junge Schäfer nahe daran, wieder umzukehren, als ein Blick auf die arme, still duldende Jungfrau sein Herz noch einmal mit frischem Mut und neuem Mitleid erfüllte. So wagte er, den – letzten Schritt zu tun : schon streckte er seine Hand aus, den Schlüssel vom Hals des Fräuleins zu nehmen, da fuhr eine Schlange zischend und Feuer sprühend auf ihn los, der Jüngling taumelte zurück, und im gleichen Augenblick waren Schlangen und Schlüssel verschwunden, und die Jungfrau stand allein und wehklagend vor dem betäubten Schäfer. Darauf hob sie eine Eichel vom Boden auf, stampfte diese mit den Füßen in die Erde und rief: »Ich pflanze diese Eichel, aus ihr wird ein gewaltiger Baum werden, den man dereinst fällen wird. Aus seinen Brettern wird eine Wiege gefertigt, in dieser Wiege wird ein Knäblein liegen, dieses Knäblein wird nach Jahren zum Jüngling heranreifen, und dann erst wird dieser Jüngling mich dereinst erlösen!«

Nach diesen klagenden Worten verschwand die Jungfrau. Der arme Schäfer aber stand wie vernichtet verlassen im Wald und dachte schmerzerfüllt an die unglückliche Jungfrau und an sein entschwundenes Glück. Oft hat er nachher seine Herde an dem Schönstein geweidet, aber die Jungfrau hat er, wie die Sage vom Schloß Schönstein berichtet, nie wiedergesehen.

 


 


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