Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Schützenliesel war eine wohlbekannte Gestalt in Nürnberg noch um das Jahr 1820. Undenkbar war es dem Bürger, daß Weihnachten kommen konnte, ohne daß auf dem Kindlesmarkt die Schützenliesel ihren Stand am Krebsstock aufgeschlagen hätte.. Schon mehrere Wochen zuvor sah man die Alte dort hinter einem weiß gedeckten Tischlein sitzen, worauf in Reih und Glied ein ganzes Heer von selbstgefertigten Zwetschgenmännern stand; alle überragte ein großer Zwetschgenmann, der stets in der Mitte paradierte und einen französischen Soldaten in voller Armatur vorstellte. Den aber verkaufte die Liesl nie, er wurde allabendlich eingepackt, um am anderen Morgen wieder dort zu stehen. So blieb die Liesl auch ihrer Tracht getreu. Noch im hohen Alter sah man sie, selbst bei grimmiger Kälte, mit ihrer weißen, immer frisch gestärkten Rassapasserihaube sitzen. Trat ein Käufer an ihren Stand, der gewillt war, sie erzählen zu hören, was gar nicht selten geschah, so durfte er nur fragen was der große Zwetschgenmann koste. Da fing die Liesl unter Weinen und Schluchzen an, ihre Lebensgeschichte zu erzählen auf eine wunderliche Weise, mit vielen französischen Brocken vermischt. Gewöhnlich war die Einleitung: »Nix, nix, mon mesiö Mon Scherschang! Mon ami! Den verkaf i niet – 0, mon dieu! 0, mon dieu, man pauvre ami Scherschang!« – Nun, diese, der armen Schützenliesel Lebensgeschichte ist es, die ich erzählen will. Die ganze Jakobiterei stand bei den Nürnbergern in nicht besonders gutem Ansehen; das Handwerk der Pauterles, Bahknupfmacher und Hornpresser, die dort hinter der Mauer ihre Werkstätten hatten, roch man ganze Straßen weit. Das Übelste im Viertel, der Schandfleck, war der Sehützenhof in der »Loudergass«. »Du mit dem Schützeng'sicht,« sagte der alte Nürnberger, wollte er jemand gar arg schimpfen. Die Schützen, worunter man aber nicht Büchsen- oder Armbrustschützen verstehen darf, waren lange Zeit die niedrigste Klasse von Menschen in Nürnberg, sie standen noch weit unter den verrufenen Stadtknechten. Sie waren ehrlos, allgemein verachtet. Man brauchte sie nur zu den niedrigsten Geschäften, als Handlanger der Henker und zum Hinwegschaffen von Selbstmördern oder Verunglückten, kein Bürger konnte von den Schützen vor Gericht geladen werden. Von ihren Vorgesetzten wurden sie mit du angeredet. Kein ehrlicher Mensch, nach damaligen Begriffen bürgerlicher Ehre, mochte sich mit ihnen verschwägern, so konnten sie nur unter sich Ehebündnisse eingehen. Ein eigener Hof in der Ludergasse war ihnen zum Wohnen angewiesen. Bei alledem waren die Schützen, was man so heißt, doch gute Christen; sie besuchten fleißig ihre Kirche, das war die Suden im HeiliggeistSpital; auch eine Schule ausschließlich für die Schützenkinder wurde im Spitalhof errichtet. Die Schützenkleidung war von derbem, grauem Tuch, ohne jeden Ausputzt. Ihr Ursprung ist unbekannt. Im Volksmund hatte sich über sie folgende Sage erhalten: Nach einer Pest und Hungersnot in Nürnberg sollen mehrere verarmte, auswärtige Familien die nachgesuchte Aufnahme in die Stadt um die Bedingnis erhalten haben, daß sie die gemeinsten und niedrigsten Arbeiten verrichten würden. Die Schützen hatten mit dem Henker, dem Fallmeister und deren Knechten im Wirtshaus einen abgesonderten Tisch und tranken aus Gefäßen ohne Deckel. Im Ofenloch, einer Wirtschaft in der Johannisgasse, konnte man sie finden. Einmal, so um die Jahrhundertwende, sahen sie im Schützenhof eine ganz seltene Erscheinung. Ein bildhübsches Mädchen von zehn bis Zwölf Jahren ging dort aus und ein, sang und tanzte in der Gasse und war fröhlichen Mutes. Es war aber kein Schützenkind, es wußte auch niemand, woher es kam, aber die Schützen behielten das Kind bei sich, weil es so fröhlich und wohl anzusehen war. Wer wollte lang Nachforschungen darüber anstellen, woher es stammen konnte? Niemand mochte mit den unehrlichen Leuten Verkehr haben, keiner kümmerte sich draußen darum, was die im Schützenhof unter sich trieben. So blieb das Mädchen im Hof und wuchs dort zur Jungfrau auf; wo man sie in der Stadt kannte, hieß sie kurzweg Schützenliesel Für die jungen Handwerksgesellen war es verlockend genug, wenn die schöne Schützenliesel zur Abendzeit mit ihrem Strickstrumpf um den Stock ging. Sehnsüchtig. oder neugierige, manchmal auch freche Blicke trafen sie überall Einst tanzte man am Jakobskirchweihtag auf dem Plätzchen bei der Kirche. Die Liesl stand von ferne und sah bedrückt auf die fröhlichen Platzmädchen, die da tanzten und sprangen, wie jede das Geschenk von ihrem Platzknecht den Umstehenden entgegenschwang. Eben als sich die Liesl umdrehen und heimwärts gehen wollte, kam ein Bäckerknecht auf sie zugesprungen. Der war fremd und wußte nicht, daß das liebe Mädchen für unehrlich galt Ein so Schönes Mädchen, dachte er, darf nicht zusehen, die muß mit um den Baum tanzen. Er packte sie, und wenn die Liesl sich auch sträubte, es half nichts, mit ein paar kräftigen Rucken war das Paar mitten unter den Tanzenden. Schon einmal hatte der fremde Geselle mit der Schützin den Baum umkreist, da verstummte die Fiedel mitten im Stück. Der Musikant und die Tänzer hatten die unehrliche entdeckt. Alles wich zurück, als ob ein Aussätziger gewagt hätte, mit zu tanzen. Dann fielen böse Worte, sie hörte noch aus dem Durcheinander »Verdammtes Schützenluder« kreischen; da lief sie davon in den Hof, und lange ließ sie sich draußen nicht wieder sehen. So oft auch die Kirchweih wiederkehrte, die Liesl kam nimmer; sie mied überhaupt die ganze Nachbarschaft und ging nur aus, wenn es nimmer anders zu machen war. Die Schützen trieben neben ihren fragwürdigen »Ämtern« noch verschiedene unzünftige Handwerke. Der eine war ein Altreißer oder Hafenbinder, ein anderer versorgte die Schuhmacher mit den Unentbehrlichen Holzzwecken, andere machten Lichterbäume, die, seit der Weihnachtsbaum aufkam, niemand mehr kennt, Goldengel, Hadlrutn und Zwetschgenmänner. Im Winter vergoldeten sie Hasel- und andere Nüsse. Die Liesl brachte es bald zur Meisterschaft in vielen solchen Künsten, das schönste aber waren ihre Zwetschgenmännlein. Von den Schützen wollte sie keinen zum Mann haben, denn im stillen hoffte sie immer auf einen ehrlichen Mann, wenn sie auch darüber schon in die Jahre kam, wo sich die Kunden vom Markt verlaufen, wie unsere Alten sagten. Doch die Zeit, die alles bringt, aber auch heilt und vergessen läßt im ewigen Wechsel, brachte auch der armen Liesl einen Mann. Die Franzosen durcheilten ganz Deutschland und auch in die damals noch freie, aber verarmte, vor dem Bankrott stehende Reichsstadt Nürnberg kamen sie in Haufen. Es waren in Nürnberg einst deren so viele, daß oft bei einem nicht allzu wohlhabenden Bürger drei bis vier Mann lagen- und als immer wieder Nachschub kam, ging en nicht anders, auch zu den Armen im Schützenhof wurde ein Franzose ein Sergeant, gesteckt. Marodig) hungrig, mit zerfetzter Montur und keinem ganzen Hemd auf dem Leibe zog er in den Schützenhof ein. Doch schon nach etlichen Tagen sah man ihn ausrücken, gewaschen, geflickt, in ganzer Montur und mit heilen Schuhen. Wem der Franzose am meisten seine Verwandlung zu danken hatte, wird nicht schwer zu raten sein. Auch denke ich nicht sagen zu brauchen, wie die Verständigung zwischen der Liesl und dem Franzosen vor sich ging, denn Liebe vermag alles. Im Schützenhof lebten nun zwei recht glückliche Menschen; die Liesl mit Ihrem Herzenssschatz, dem Franzosen. Sonntags sah man die beiden miteinander »auf das Lande« spazieren gehen. Die Liesl erschien mit ihm immer recht zierlich und sauber, sie drehte sich am Arm ihres Franzosen wie der Nachmittagskaffee im schönsten Kochen. Es war ein malerisches Bild. Die Liesl in ihrer großen, gestärkten, blendend weißen Rassapasseriehaube, mit den schönen schwarzen Schmachtlocken an den Schläfen, der kurzen, groß geblumten Kattunschaube und einem bunten Kattunkamisol war wirklich adrett. Ihre kleinen Füße, in weißen Strümpfen mit gestickten Zwickeln, in zierlichen und hohen Stöckelschuhen steckend, setzte sie beim Gehen auswärts, nach französischer Manier, ganz so, wie es die Damen in der Heimat des Franzosen hielten. Der Franzose, war nicht minder herausgeputzt. Angetan mit dem Seitengewehr, trug er noch einen zierlichen Spazierstock in seiner Linken; im Mundwinkel einen kleinen tönernen Pfeifenstummel, einen so genannten Nasenwärmer. Am Brustlatz hing ein hübscher Tabaksbeutel, gefüllt mit aromatischem Kraut, das die Nürnberger »Lauswenzel« für Wenzeslaus nannten. Ein lebendiges Eichhörnchen saß bald auf einer seiner Schultern, bald auf dem Arm der Braut; es war an einem feinen Kettchen aus Messing angelegt. Viele Französische Soldaten führten solch ein Tierchen mit sich; es sollte Glück bringen, und sie erzählten allerlei Wunderliches darüber. Beinahe sechzehn Wochen hatte der Franzose Quartier im Schützenhof. Im stillen bedauerten die Nachbarn das überglückliche Mädchen denn über Nacht konnte Marschordre kommen, und die schöne Zeit war dann wohl für immer vorüber. Wirklich kam auch bald das Gefürchtete, doch freudig begrüßt von den Bürgern Nürnbergs, die schon lange saure Gesichter schnitten. Die Franzosen zogen ab. Doch die Heiratslustige hatte lange zuvor ihre ?Pläne gemacht und allerlei geschickte Vorbereitungen tu gutem Gelingen. Kein einziger französischer Soldat war mehr in der Stadt, nur im Schützenhof saß noch einer und schusterte in einer Altreisser-Werkstatt, als wäre er dort geboren. Die Liesl hatte den großen Napoleon um einen Soldaten geprellt. Im Stadtregiment wußte kein Mensch davon. Schon Wochen vor dem Abmarsch hielt die Liesl ihren Franzosen versteckt; der Sergeant des Kaisers hatte sich in den Gesellen des Schuhflickers verwandelt. Der Liesl schien diese Abgeschlossenheit auch aus anderen Gründen gut und heilsam, hatte sie doch noch vieles an ihm zu bessern. Er war nicht wenig verwildert, und weil es die Liesl für nötig hielt, mußte er auch ihrem Gott sich näher bringen, denn fluchen und gotteslästerliche Reden führen, das durfte ihr zukünftiger »ehrlicher« Mann nimmermehr. Bei jeder Gelegenheit sagte sie ihm, er könne doch deutlich genug sehen, wie gut es Gott mit ihm bisher gemeint habe; schon längst könnte er draußen auf der Landstraße verkommen liegen oder in fremder Welt auf dem Schlachtfeld geblieben sein.
Der Franzose mußte sich bequemen, den Morgen- und Abendsegen mit zu beten, und durfte bei dem Mittagsgebet nimmer auf die Seite gehen, und an den Fenstern mit den Fingern zu trommeln, bis das Gebet vorüber war, wie er es anfangs gehalten, als er in den Hof kam. Als keine Gefahr des Entdecktwerdens sich zeigte, mußte ihr Schützling auch Sonntags mit in den Sudenbetsaal gehen. Der Geistliche dort gab sich alle Mühe, der Liesl Herzenswunsch, sie mit ihrem Franzosen ehelich zu machen, durchzusetzen. Am ersten Pfingstfeiertag in früher Morgenstunde setzte sich ein gar seltsamer Zug vom Schützenhof nach dem Heiliggeist-Spital in Bewegung; es war der Brautzug der Schützenliesl. Lautlos zog man dahin; keine Glocke ward gezogen, auch die Türmer bliesen nicht, was nur bei ehrlichen Leuten damals üblich war. Voran schritt die Braut, geführt von den Schützenweibern, alle, so wie sie es eben konnten, als das beste geschmückt, dann kam der Franzose. Seinen Anzug zu beschreiben, ist nicht möglich, es war eben alles von den Schützen zusammengesteuert. Sie hatten unter anderem auch das Recht, die Kleider der Selbstmörder und Delinquenten an sich zu nehmen, und so mag der Bräutigam recht wacker, wenn auch ein wenig wunderlich, ausgesehen haben. Die Trauung war kurz, wie sich's für solche Leute damals ziemte, nach Beendigung des Gottesdienstes zog die ganze Schar nach Mögeldorf. Dort war Kirchweihtag, und da dachte man die Hochzeit nach Gebühr mit Essen, Trinken und Tanz zu feiern. Es ging auch alles gut und gar ab; doch der Abend nahte, und man mußte noch vor Torschluß in der Stadt sein, um nicht in Strafe zu fallen. Mit einem Menuett, allein getanzt von Braut und Bräutigam, sollte die Feier ein Ende haben. Damals zogen preußische Werber in den Städten und mehr noch auf den Dörfern herum. Zur späten Abendzeit übten sie in den Wirtshäusern ihre Pfiffe und Schliche, um dem König Mannschaften zu dingen, wobei es nicht immer säuberlich, aber zuzeiten gewalttätig und unmenschlich genug herging. Viele von ihnen führten große, wohlabgerichtete Hunde mit sich, englische Schweisshunde oder Bullenbeisser; und einer dieser scharfen Tiere gab den Anlaß zu einem bösen Handel, der zur wüsten Balgerei ward, in die zuletzt alle Gäste hineingerieten, wie das so geht, halb mit und ohne Absieht und Willen.
Die Schützen hatten einen Kreis um die Tanzenden gebildet. Einer dieser Werberhunde durchbrach, wie man später sagte, auf einen Hetzruf, den Kreis und riß die Braut zu Boden. Die Schützen warfen sich auf den Hund und schlugen ihn tot, da liefen die Werber mit Geschrei zusammen, und es gab einen grimmen Tanz. Der Bräutigam riß einem der Preußen den Säbel aus der Hand und verteidigte sich und seine Braut; er suchte sich einen Weg nach dem Gartenausgang zu sichern, was auch gelang. Von da aus ging die Rauferei den Berg hinunter auf die Wiese, und dort umgab die Streitenden finstere Nacht. Da hörten, die noch oben waren, einen gellen Schrei; die Werber stoben auseinander. Nun lief alles hinunter. Auf der Wiese im hohen Gras lag der Bräutigam und regte kein Glied mehr; sie hatten ihm den Leib durchstochen. Die Liesl warf sich zu ihm auf die Erde; bald waren ihre Hände voll Blut, sie sah sie an und lachte, hell und laut wie ein Kind über ein Spielwerk. Der Franzose war tot, die arme Liesl wahnsinnig. Die Schützen trugen das Irre Weib und den Toten in die Stadt. Auf dem Studentenplätzlein, hinter dem St. Rochuskirchhof, begruben die Schützen tags darauf den Franzosen.
Die Liesl ging lange Zeit wirr herum. Körperlich erholte sie sich langsam wieder, aber in ihrem Kopf kam es nie mehr zur Ordnung wie vorher. Lange Jahre lebte sie noch im Schützenhof in der Ludergasse; jedes Jahr hockte sie auf dem Kindlesmarkt mit ihren drolligen Zwetschgenmännern, die vor sich an einem kleinen Tischchen auf einem roten Decke aus gezacktem Glanzpapier schöne messingene oder zinnerne Ringlein mit farbigem Glas liegen hatten. Auf dem Tisch des großen Zwetschgenmannes in französischer Uniform lagen zwei Ringe ohne Stein. Um das Jahr 1820 starb sie, und man sagt, sie ruhe auf dem Studentenplätzlein auf dem Rochus bei ihrem ehrlichen Mann, ihrem »pauvre ami sergeant«.