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Am Marktplatz in Nürnberg standen eine Reihe von schönen Häusern, in denen die reichsten und vornehmsten Nürnberger Familien, die Patrizier, wohnten. In einem solchen Haus war es schöner als im Kaiserpalast. Da waren die besten Möbel, die feinste Wäsche, die herrlichsten Kleinodien. So reich waren die Nürnberger Patrizier. Die besten Speisen kamen auf ihren Tisch. Damals gab es noch keinen Zucker in Deutschland, drum mussten die Herren Honig nehmen, wenn sie ihre Speisen süssen wollten. Der Honig aber wurde draußen im Reichswald von fleißigen »Zeidlern« so hiess man damals die Bienenzüchter – in hohlen Bäumen gewonnen. Zu jener Zeit hatte man noch keine Bienenstöcke.
Der Reichswald war in damaliger Zeit noch viel grösser und viel dichter als heute. Es gab nur wenig Wege darin und wer sich einmal verirrt hatte, fand nur schwer heraus. Besonders, weil viele Sümpfe immer wieder den Weg versperren. Viel Wild, auch viele Wölfe, gab es in den alten Zeiten. Als einmal eine Patrizierfamilie am Frühstückstisch saß, sagte der Hausherr ärgerlich: »Der Honig ist auch schon wieder zu Ende. Das wird wieder lange dauern, bis unser Zeidler neuen Honig aus dem Wald hereinbringt.« Der junge Sohn des Herrn sagte: »Da kann ja ich hinausgehen und ein Töpflein Honig holen.« Der Herr war zufrieden, und wirklich machte sich der Bursche auf und wanderte den bekannten Weg hinaus zu dem Zeidlergütlein, das seinem Vater gehörte. Noch am Vormittag kam er draußen an, aß dort ein wenig und machte dann von dort aus einen Spaziergang in den Wald, weil gerade ein so schöner Frühlingstag war. Die Salweiden blühten, die Vögel sangen überall. Ein warmer Wind mit kräftigen Düften zog durch den Wald. Der junge Bursch ließ seinen Mantel auf dem Zeidlergütlein. Er wollte ihn nach dem Spaziergang zum Heimweg in die Stadt wieder abholen. Fröhlich wanderte er in den Wald hinein. Er freute sich an dem grünen Gras, das die Bächlein entlang schon mächtig herauswuchs Die Sonne schien warm auf eine Lichtung. Dort setzte er sich nieder und, weil er von seinem weiten Weg müde geworden war, schlief er dort ein. Als er auf wachte, war die Sonne schon im Untergehen; es war kühl. Er sprang erschrocken auf und wollte rasch zurücklaufen; aber bald merkte er, daß er den Weg verloren hatte. Es wurde rasch dunkel. Die Dornen zerrissen ibm seine Kleider und seine Haut. Er mußte immer wieder durchs Dickicht schlüpfen. Es wurde finsterer und finsterer. Großen Sümpfen mußte er ausweichen. Schließlich blieb er stehen und horchte. Aber alles blieb stumm. Kein Hundebellen, kein Hähnekrähen, kein Rufen von Menschen konnte er hören nur das Rauschen des Windes in den Zweigen und das Knacken von alten Ästen und – war da nicht das Bellen eines Wolfes?
Zu Hause war man in großer Sorge. Als der Junge am späten Nachmittag noch immer nicht nach Haus gekommen war, hatte man einen Boten nachgeschickt; der brachte nach Einbruch der Dunkelheit die Nachricht von dem Zeidlergut, daß der junge Herr einen Spaziergang in den Wald gemacht habe, wie es nun immer dunkler wurde, dachte der Vater mit Schrecken daran, daß erst vor wenigen Wochen bei einer Wolfsjagd 20 Wölfe erlegt worden waren. Der angesehene Patrizier ging zu den Geistlichen von St. Sebald und St. Lorenz und bat in seiner Angst um seinen Sohn, daß die Herren die großen Glocken läuten ließen. »Vielleicht«, so dachte er, »wird mein Sohn da draußen im Wald die Richtung finden, wenn er die Glocken hört.« Weil der Vater so herzlich bat, und weil er ein so angesehener Mann war, ließen die Herren alle Viertelstunden abwechselnd bei St. Sebald und dann wieder bei St. Lorenz die großen Glocken läuten. Und wirklich, der Bursch im Wald hörte das Läuten. Er ging der Richtung nach und kam so nach Gleißhammer. Dort war weit draußen vor den Mauern der Nürnberger Stadt ein Schlößlein, das einem anderen Patrizier gehörte. Dort wurde der Junge gut aufgenommen. Man gab ibm einen Mantel und ließ einen Wagen anspannen, damit er ohne weitere Gefahr nach Hause komme. Als der Sohn glücklich wieder bei Vater und Mutter angekommen war, da war die Freude groß und der Vater gelobte in seinem Glück, daß er so viel Geld für die Kirchen von St. Sebald und St. Lorenz stiften wolle, als nötig sei, um jeden Abend um 9 Uhr die Glocken läuten zu lassen. Mancher Wanderer im Reichswald hat seitdem die Glocken gehört und dadurch den Weg in die Stadt gefunden.