Sagen aus Franken
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Serpentina von Dinkelsbühl

Vor vielen hundert Jahren war in dem Städtchen Dinkelsbühl ein reicher Hopfenhändler ansässig, der einen braven, gut gearteten Sohn hatte. Der Jüngling wies neben seiner reinen Seele auch ein sehr angenehmes Äußeres auf und wurde deswegen nur der »schöne Heinrich von Dinkelsbühl« genannt. Zur gleichen Zeit lebte in Dinkelsbühl ein sehr stolzer, hochmütiger Bürgermeister, der ein liebliches, wohlgesittetes Töchterlein besaß, das Serpentina hieß.

Diese beiden jungen Leute waren einander sehr zugetan, aber sie hatten keine Hoffnung, je als Brautpaar vor den Altar zu treten, weil der Bürgermeister jeden Freier für seine Tochter abwies; denn keiner dünkte ihn vornehm und reich genug, sein Schwiegersohn zu werden. Daher getraute sich auch der schöne Heinrich nicht, seinen Wunsch laut werden zu lassen; nur seinem Vater, der sein ganzes Vertrauen besaß, offenbarte er seine geheimsten Gedanken.

Der Vater beruhigte ihn lächelnd : »Lieber Heinrich, wenn du keine andere Sorge hast als diese, so kann ich dir helfen. Der Bürgermeister ist weiter nichts als stolz und vornehm und bildet sich wunderviel auf seinen Titel ein. Nun aber weiß ich, daß er unersättlich habgierig ist; habe ich keine vornehmen Ahnen aufzuweisen, so besitze ich doch tausend Schock harte Taler, die unsre Ahnen ersetzen sollen.«

Gesagt, getan! Der Hopfenhändler warf sich in seinen Feststaat, zog seinen hellblauen Samtrock mit den großen silbernen Knöpfen an, nahm seine silbernen Schnallen und ging, das silberbeschlagene spanische Rohr unter dem Arm, nach dem Hause des Bürgermeisters. Hier brachte er seinen Antrag vor. Der Bürgermeister war außer sich vor Freude und willigte sogleich ein, seine Tochter mit dem Sohn des Hopfenhändlers zu verloben, weil er diesen als den reichsten Mann der ganzen Gegend kannte und der schöne Heinrich ein wohlerzogener Jüngling war. Demnach verlangte er, daß die Sache sogleich richtig gemacht werde.

Niemand war vergnügter als Heinrich und Serpentina, und schon wurden alle Anstalten zur Hochzeit getroffen, als mit einem Male ganz unerwartet Heinrichs Vater am Schlagfluß starb. Heinrich, der sich bisher gar nicht um das Geschäft des Vaters gekümmert hatte, war sehr bestürzt, weil er in dessen Geschäftsbüchern nichts fand als ein Verzeichnis aller ausstehenden Gelder und Schulden, aber kein Geld und keine Schulddokumente. Wie vom Blitze getroffen, stand nun der arme Heinrich da; ein Gläubiger nach dem andern kam und machte seine Forderung geltend. Heinrich konnte nicht bezahlen, und bald wurde der verstorbene Hopfenhändler als Betrüger ausgeschrien. Dies konnte dem Bürgermeister nicht verborgen bleiben; er kündigte deshalb Heinrich die Heirat auf. Bald war es so weit, daß das Haus des Hopfenhändlers verkauft werden sollte, damit man die Schulden bezahlen könnte.

Dem unglücklichen Heinrich blieb nichts anderes übrig, als sein Glück in der Welt zu suchen. So gut es ging, beschleunigte er seine Abreise aus der Vaterstadt, wo er nun das allgemeine Gespräch des Tages war. Schon am nächsten Sonntag hörte die schöne Bürgermeisterstochter in ihrem herrlich vergitterten Kirchstuhl tränenden Auges die Bitte des Predigers auf der Kanzel für einen Jüngling, der auf Reisen gehen wolle.

Bereits am nächsten Morgen wanderte der schöne Heinrich unter den Segenswünschen seiner geliebten Serpentina aus Dinkelsbühl fort und nahm seinen Weg nach dem benachbarten Hesselberg. Von dort wollte er nach Nürnberg reisen. Auf dem Hesselberg machte er noch einmal halt. Wehmütig blickte er auf die Türme seiner Vaterstadt hinab und sagte in Gedanken seiner heißgeliebten Serpentina ewiges Lebewohl. Er setzte sich auf den Stein eines alten Gemäuers und sah dabei ein wunderschönes Schlänglein, das über und über himmelblau war, einen goldenen Gürtel um den Leib und eine kleine goldene Krone auf dem Kopfe trug. Da das Schlänglein ihn zutraulich anschaute, fing Heinrich an, es zu streicheln, dann aber fiel ihm wieder seine geliebte Serpentina ein, und er rief dreimal : »Serpentina!«

Mit einemmal verschwand die Schlange, und eine blühende Jungfrau in himmelblauem Seidengewande, einen goldenen, edelsteindurchwirkten Gürtel um den Leib und eine goldene Krone auf dem Haupt, stand vor ihm und fragte ihn, was sein Begehren sei. Heinrich erschrak über die Erscheinung nicht wenig und meinte, er habe sie nicht gerufen.

Die Jungfrau aber erwiderte: »Hast du nicht dreimal mich bei meinem Namen Serpentina gerufen?« Und nun setzte sie sich zu ihm auf den Stein und bat ihn, ihr seine Geschichte zu erzählen.

Nachdem Heinrich sein Schicksal berichtet hatte, erklärte Serpentina: »Gottlob! Wenn es weiter nichts ist, so will ich dir helfen.«

Sie befahl ihm, ihr zu folgen. Sogleich stieß sie mit dem Fuß an einen großen Stein, und augenblicklich öffnete sich eine Tür. Heinrich stieg mit der Jungfrau eine lange Treppe hinab; nachdem sie ein finsteres Gewölbe durchquert hatten, kamen sie in einen großen Saal. Hier berührte die Jungfrau eine Marmorsäule, und augenblicklich war der Saal von vielen brennenden Wachskerzen erleuchtet.

Von da führte ihn die Jungfrau in einen zweiten Saal, der noch köstlicher als der erste war. An den Wänden standen mehrere große Kisten; sie öffnete eine davon, und Heinrich sah, daß sie mit schweren Goldstücken angefüllt war. Nun befahl die Jungfrau ihrem Begleiter, sein Felleisen auszuleeren und mit Gold zu füllen, soviel er zu tragen vermöge. Dann nahm sie aus einem Kistchen einen herrlichen Myrthenkranz, der aus goldenen Ranken verfertigt und mit blitzenden Edelsteinen besetzt war, und eine lange Schnur von schönsten orientalischen Perlen und sagte: »Nimm diesen Schmuck und gib ihn deiner Braut als Hochzeitsgeschenk; es ist der Brautschmuck meiner seligen Mutter. Mit dem Golde aber löse dein väterliches Erbe aus!«

Heinrich dankte der Jungfrau auf das innigste. Nun bat er sie noch, ihm doch auch die Geschichte des versunkenen Schlosses zu erzählen. Sie begann: »Mein Vater war Ritter Arno, der weit und breit bekannt war, und hauste auf diesem Schlosse. Er führte ein ausschweifendes Leben und vergaß sich soweit, daß er mit dem Fürsten der Hölle einen Bund schloß, der ihm auch ungeheure Reichtümer verschaffte, wofür er ihm seine Seele verschrieb. Als dies meine selige Mutter erfuhr, betete sie unaufhörlich für meinen Vater zu Gott.

Damals kam ich zur Welt. Da erschien meiner Mutter die Himmelskönigin und sprach: 'Wenn deine Tochter nie der Liebe eines Mannes folgen, sondern ihr Leben Gott und der Kirche weihen wird, so soll dein Gemahl von der Verdammnis erlöst sein.'

Meine selige Mutter gelobte dies der heiligen Jungfrau, aber ich hielt, als ich erwachsen war, nicht Wort, sondern schenkte mein Herz dem Ritter Benno von Lenkersheim, als ich sechzehn Jahre alt war, und an dem Tage, an dem wir uns verlobten, spaltete sich der Berg und verschlang das Schloß mit allem, was es enthielt. Meinen Vater entführten höllische Geister in die Lüfte, ich aber wurde in eine Schlange verwandelt und dazu verdammt, so lange hier auszuhalten, bis die Kiste geleert sein wird, aus der du soeben das Gold genommen hast. Mir aber ist jedes Jahr nur auf einige Augenblicke vergönnt, menschliche Gestalt anzunehmen und guten Menschen zu helfen, die ohne ihr Verschulden in Not geraten sind. Nun kehre in deine Vaterstadt zurück, morgen wird dein elterliches Haus versteigert; verwende das Gold, um damit die Gläubiger deines Vaters zu bezahlen, und nimm wieder Besitz von deinem väterlichen Erbe! Dann geh in das Zimmer deines Vaters, dort hängt ein altes Ölgemälde an der Wand; rücke es weg, und du wirst dahinter einen gemauerten Schrank finden, in dem alle in dem Geschäftsbuch deines verstorbenen Vaters eingetragenen Schuldscheine enthalten sind; damit wird dann auch die Ehre deines Vaters wiederhergestellt sein; für mich aber laß hundert Seelenmessen lesen und bezahle eine jede mit einem Goldstück.«

Nach diesen Worten führte ihn die Jungfrau wieder aus der versunkenen Burg hinaus, und sogleich war die Öffnung samt der Erscheinung verschwunden. Heinrich wanderte nun getrosten Mutes seiner Vaterstadt zu, nahm sein väterliches Erbe in Besitz und führte Serpentina, die schöne Bürgermeisterstochter, als seine Gattin heim. Beide führten die glücklichste Ehe.

Als sie starben, stifteten sie ein Waisenhaus und verordneten, daß die Waisenkinder alle Jahre an dem Todestag der Stifter einen frohen Festtag feiern sollten, den man später das »Kinderfest zu Dinkelsbühl« nannte.

 


 


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