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In Tiefen

Wer nie Höhen aufsuchte, kennt das Schwindelgefühl nicht. Um es kennenzulernen, um Firnatmosphäre zu atmen, stieg der Künstler zum einsamen Grat, ging er, der Bergscheue, den schwindelnden Weg, Abgrund rechts und links.

Das war der Sinn der Pázmántat. Fehlte Straußens Leben dieses Wagnis, so fehlte ihm die künstlerische Größe.

Die absonderlichste Tiefenleistung ist die Operette »Fürstin Ninetta«. Eine Musik, geschrieben zu einem – unbekannten Textbuch, zu einem, das dem Komponisten bis zu den Bühnenproben vorenthalten wurde. Strauß schloß etwas voreilig mit Hugo Wittmann und Julius Bauer einen Vertrag und die Autoren sendeten ihm bloß die Gesangstexte: eine Geheimtuerei, die nur durch hypernervöse Angst vor der Konkurrenz erklärt werden kann.

Strauß fand, als er das übrige im Theater kennenlernte, daß seine Musik »viel zu edel« ausgefallen sei, daß der Schwank der Musik nicht bedürfe, ja ihr geradezu widerstehe. Nun war es einmal geschehen und ein gewisser Außenerfolg: 75 Aufführungen, deren erste (10. Januar 1893) Kaiser Franz Josef besuchte, tröstete über Ärger und Verschwendung. Die Operette, deren Text von der Presse sehr warm, deren Musik sehr kühl behandelt wurde, ging, durch ihre lokalen Späße an Wien gefesselt, nicht über viele andere Bühnen.

Am 12. Oktober 1894 folgte, die Erinnerungsfestlichkeiten einleitend, die Operette »Jabuka«, die Vorläuferin der Lehárschen Slawenoperette, wohl angeregt durch die Erfolge von Smetanas »Verkaufter Braut« auf der Theater- und Musikausstellung (1892) und darauf im Theater an der Wien. Des Textbuch lieferten Gustav Davis, der Dichter eines ausgezeichneten Lustspiels (»Das Heiratsnest«), und Max Kalbeck, dessen Steifheit indessen nur einen kärglichen Humor hervorbrachte. Ob sich Johann Strauß in den südslawischen Gegenden wohlfühlte, mag dahingestellt bleiben –, jedenfalls sind ein paar reizende Musiknummern entstanden, wozu vor allem das F-dur-Vorspiel zum dritten Akt gehört.

Ein Jahr darauf erschien im Theater an der Wien »Waldmeister« (4. Dezember 1895), dessen Textbuch diesmal Davis allein verfaßte. Mit gutem Instinkt fand er heraus, was Johann Strauß suchte und was er brauchte: ein Buch, von gesellschaftlichem Ton und hellem Himmel wie die Fledermaus. Strauß überlegte lange. Schon war er zur Ablehnung entschlossen, schon sollte Herr Priester, sein Freund, das Buch dem Textdichter zurückstellen, – da, im letzten Augenblick, – er hatte schon Bothos Lied (»Im Walde, wo die Buchen rauschen«) komponiert – widerrief er seinen Entschluß und machte sich an die Komposition des Ganzen, als dessen erste Frucht der Walzer »Trau, schau, wem« entstand.

Davis erzählte von seiner vergnüglichen Zusammenarbeit mit Strauß: wie der Meister oft unbekümmert um das Einzelne des Textes seine Musik geschrieben habe, Stücke, zu denen der Textdichter erst Duette, Terzette, Lieder unterlegen mußte. Der Klang eines Worts, die Vorstellung einer Szene erregte Strauß schon zur Musik, die nachträglich fixiert sein wollte.

Waldmeister ist eine Verwechslungskomödie, die sehr erfrischend und dramatisch mit einem Gewitter einsetzt. Das Naturereignis jagt vergnügte Ausflügler in eine Mühle, nasse Stadtkleider werden mit trockenen Müllerskleidern vertauscht und die Komödie der Liebe kann beginnen. Freund Alkohol fördert dies Beginnen. Frau Amtshauptmann will den Gästen ihres Hauses Lindenblütentee kredenzen, aber dem Getränk wird echte Maibowle unterschoben: die Welt beginnt zu kreisen und Paare, die sich längst gesucht, finden zueinander. Das Motiv kleinstädtischer Prüderie und Kleidermoral spielt mit: heimlich lüsterne Feinde allzu dekolletierter Damentoiletten werden abgeführt, Küsse photographiert und ein mit Tinte schwarz gefärbter Waldmeister entlarvt. Hier sitzt die Schwäche der Komödie. Der Dichter, der diesen botanischen Scherz erfand (»Schwarzer Waldmeister«), ist ersichtlich Mann des Prosalustspiels, nicht musikalischer Librettist gleich Genée. Im ganzen verhält sich Waldmeister zu Fledermaus wie Lindenblütentee zu Champagner. Statt eines mondänen Maskenfests ein Teeabend, statt Orlofsky ein Amtshauptmann, statt der Amüsierwelt ein kleines sächsisches Provinznest. Die Komödie hätte entweder zur Satire wie Thomas »Moral« gespitzt oder ein deutsches Mühlenidyll werden können. Ihr Gesellschaftston und der Straußische Musikton wollten nicht zusammenpassen. Strauß in Sachsen? Bezeichnend, daß Waldmeister sich in Deutschland, nicht in Österreich sehr lange erhalten hat.

Die Ouvertüre ist lustvolle Behaglichkeitsmusik. Ihr liebenswürdiges D-dur-Andante mit dem übersingenden Violin-A, der in Mediantenrucken schwelgende Teewalzer, der Trau-schau-wem-Walzer, die D-dur-Polka mit ihrem Wiener Geblüt bezeugen unerloschenes Jugendfeuer.

Der »Trau-schau-wem-Walzer« ist von solch anmutiger Linienführung, daß ihm der Titel eines »umgekehrten Donauwalzers« zuteil wurde. Auf ihm baut sich das große Quintett-Finale des zweiten Aktes auf und Einfallsfülle durchdringt sogar die Couplets wie das Lied des Thymoleon mit seinem kostbar weitausschreitenden Refrain: »Und doch und doch, es war so wunderschön!«

Waldmeister wurde keine Fledermaus – wie wäre es auch möglich gewesen! –; der Ton war vorhanden, sie zu zeugen aber die Dichtung fehlte ...

Der Aufführung ging ein Krach mit Alexander Girardi voraus, der, durch eine Privatangelegenheit nervös geworden, seine Mitwirkung verweigerte. Strauß beruhigte ihn und darauf spielen die Zeitungsberichte an:

 

»Die Ouverture wurde von Johann Strauß selbst dirigiert. Als er am Dirigentenpult erschien, brach im Haus ein Beifallssturm los, der sich am Schluß wiederholte, wofür Strauß immer wieder danken mußte. Dann übergab er Kapellmeister Müller den Taktstock und dieser ausgezeichnete Musiker leitete die Vorstellung mit großer Energie. Die Darstellung ist alles Lobes wert. Girardi, der den Professor im sächsischen Dialekt spricht, hat vor der Rolle bekanntlich große Angst gehabt. Es war unnötig. Seine Komik ist hier so siegreich wie immer.«

 

Am 13. März 1897 erschien im Theater an der Wien die letzte Straußoperette: »Die Göttin der Vernunft«. Der Text stammte von Willner und Buchbinder und mutete Strauß die Welt der französischen Revolution zu. Er komponierte das Buch lustlos und glaubte selbst so wenig daran, daß er nicht einmal zur Aufführung erscheinen wollte. Das Theater an der Wien stellte seine bedeutendsten Kräfte zur Verfügung (Frau Kopacsi-Karczag, Frau Dirkens, Frau Biedermann, die Herren Blasel, Streitmann und Joseffi). Allein vergebens. Einem Premièrenjubel folgten halbleere Häuser. Im Jahre 1909 arbeitete Felix Salten unter dem Decknamen A. Stollberg den Text um, d. h. unterlegte der Partitur einen ganz neuen Stoff. Die Musik ließ sich vom Text, mit dem sie nicht verbunden war, ablösen – was bei der Nacht in Venedig oder dem Zigeunerbaron unmöglich gewesen wäre – und Saltens geistreicher Humor gestaltete dazu ein Wiener Volksstück: »Reiche Mädchen« mit einer Rolle für Girardi, der durch eine große pathetische Rede über die Vorzüge des Ortes Weidling am Bach die Komödie eine Zeitlang über Wasser hielt.

 

Wir haben die letzten Operetten von Johann Strauß – Fürstin Ninetta, Jabuka, Waldmeister, Göttin der Vernunft – nicht mehr im einzelnen betrachtet, denn es kommt darauf nicht an, sondern auf ihre Stellung im Gesamtwerk des Künstlers. Sie alle waren Saisonerfolge. Nach glänzenden Premièren wurden sie den Winter durchgespielt und verschwanden mit dem Frühjahr. Ihre geschichtliche Bedeutung aber liegt darin, daß sie die letzten Operetten einer mit ihr verschwindenden Gesellschaft bildeten.

Bis zum Ende der Neunzigerjahre herrschte, finanziell und familiär zusammengeschlossen, die liberale, durch Altern konservativ gewordene Gesellschaft aus der Schmerlingzeit. Ihre Herrlichkeit war die Ringstraße, ihre Führung und Macht die Neue Freie Presse. Dort fand sie ihren künstlerischen Spiegel. Hanslick selbst schrieb über die Straußoperette, womit sie sanktioniert und womit sie, mochte er auch nörgeln, »gemacht« war. Was Hanslick verschwieg, was Hanslick lächerlich machte – der Fall Hugo Wolf, der Fall Bruckner –, war für die Wiener Gesellschaft erledigt.

Aber Wien erweiterte sich zum zweitenmal: die alten, aus den Türkenzeiten stammenden Linienwälle wurden abgetragen, die Vororte eingemeindet, die Stadt bekam 20 statt 10 Bezirke, es entstand »Groß-Wien« – wie aus einem Straußischen Walzertitel zu ersehen ist – und durch die Breschen drangen neue Massen ein: das Kleinbürgertum der Vororte, von Lueger als christlich-soziale Sturmtruppe geführt. Hiermit wurde die alte zusammenhängende Gesellschaft zertrümmert. Die aristokratisch-feudale Oberschicht spaltete sich in ein klerikales und in ein jüdisches Patriziat.

Die gesellschaftliche Umschichtung zog auch für die Kunst ihre Folgen nach sich: neben das exklusive Philharmonische Orchester trat das Populär-Konzert, neben die privilegierte Hofoper eine Volksoper und der auf den alten Gesellschaftston gestimmten Strauß-Operette folgt 1901 »Das süße Mädel« von Reinhardt, der Anfang der sentimentalen Operette.

1905 erschien Lehárs »Lustige Witwe«, die textlich noch mit einem Bein im Offenbachismus steckt (ihr Libretto ist nach Meilhacs Attaché gearbeitet). Womit die Operette vom Lehár-Typ ihre Herrschaft antritt. Sie schwärmt dem kleinen Mann vom Gentlemandasein in einer abenteuerreichen, unerreichbar fashionablen Welt vor ...

Wie Kretzschmar aus der venezianischen Oper auf die Geistigkeit Venedigs im siebzehnten Jahrhundert schloß, so kann man auf das Wiener Ethos aus dieser seiner neuen Operette schließen.

Die alte Wiener oder Strauß-Moral: Man lebt nur einmal! wird in neuen poetischen Formen fortgesponnen wie etwa: »Küssen ist keine Sünd' mit einem schönen Kind« ... Im Punkt des Ethos blieb die Stadt unverändert. ...

Die neue Operette bediente sich neuer Durchnervungen des Orchesters, der Harfenglissandi, der Celestablitzer, übernahm die harmonischen Errungenschaften Mahlers, Puccinis und Richard Strauß'. Und doch hängt sie organisch mit der Operette von Johann Strauß zusammen.

Die Keimzelle des Lehár-Tones ist im Trau-schau-wem-Walzer zu finden:

Noten


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