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Schon das alte Barockwien des ersten Leopold hat seinen Strauß gehabt und dieser Vater der Wiener Schule heißt Johann Heinrich Schmelzer und lebte von 1623 bis 1680. Ein Lebenskünstler, der seinem Fürstbischof Liechtenstein Krapfen und Noten nach Kremsier schickt – nicht genug Tänze konnte der geistliche Herr bekommen! – und der dafür Schmalz, Dukaten und Ruhm einheimst. Ein typischer Wiener, das Weinglas in der Hand, lustige Lieder um den Mund und einer, dem man, hängt auch die goldene Würdenkette an seinem Hals, den Wahlspruch zutraut: »Man lebt nur einmal!«
Dazu ist Schmelzer der »erste und vornehmste Violist seiner Zeit« – der Wiener Geige entspringt der Wiener Tanz wie der spanische der Gitarre, der ungarische dem Cymbal – und spricht in seinen ungezählten Ballettsuiten keck die Wiener Mundart. Er führt, wie die Musikwissenschaft es formuliert, das bayrisch-österreichische Element der Melodik bewußt in die Kunstmusik ein oder, wie wir es formulieren wollen, er schafft den Donaustil der Musik, darin der Ahnherr Haydns, Schuberts, Lanners, Straußens, Bruckners und Mahlers, der zuletzt die Pülchermelodien und Gassenhawerlein in seiner Dritten symphoniefähig macht.
So reichen die Wurzeln des Straußwesens bis in die Barockzeit zurück und greifen in die Wiener Muttererde tiefer, als unseres Meisters dankbare Bescheidenheit es ahnen konnte; wie keiner weiß, wie viel er dem Schoß der Frau schuldet, der ihn austrug.
Die alten Habsburger sind nicht ausschließlich Kriegführer gewesen, sie teilten vielmehr die musikalische Grundstimmung Wiens, ja fachten das von der Landschaft Verliehene noch höher an, trotz ihrer Bindung in steifes spanisches Zeremoniell, trotz ihrer Entrücktheit in majestätische Feierlichkeit. Ferdinand III., Leopold I., Josef I. sind Opern- und Oratorienkomponisten, die sich sehen lassen können.
Mit Recht stehen die Arien, die Ballettsuiten, die Gavotten, Canarios, Bourréen, Gagliarden, Couranten und Sarabanden der Kaiser in den »Denkmälern der Tonkunst in Österreich«. Und mag auch der eine und der andere Hofkomponist, wie Schmelzer etwa, dem Kaiser gegeben haben, was nicht des Kaisers war –, Karl VI., ein melancholischer Vorausseher und beklommener Leiter seines Erbstaats, war ein leidenschaftlicher Dirigent seiner Opern.
In der leopoldinischen und karolinischen Zeit schimmert Wien, die Ballett-, Theater- und Faschingstadt als glänzendes Gestirn Europas, während andere Residenzen noch öde Ackerbürgerstädtchen sind. Italien gehört Habsburg und der katholische Triumphgeist baut die hochgekuppelte Karlskirche. Musik ist die Seele der Stadt und sie, in deren Paläste alle Güter und Menschen der Welt zusammenströmen, entwickelt ein unerhörtes Talent zu Festen; sie tanzt ihren Glaubens- und Machtsieg in endlosen Freudentänzen aus: es gab Karussells, gab Schlittenfahrten durch die Straßen, »wobey Fürsten, Graffen, Herren und Cavagliere« jeder eine Dame führten; es gab die berühmten »Wirtschaften«, wobei Kaiser und Kaiserin sich als Wirt und Wirtin darstellten, und es gab die nicht minder berühmten Pferdeballette, die Sbarra in der Favorita veranstaltete, wobei der Kaiser in einem aus lauter Goldstücken verfertigten Kostüm mit blümerantfarbigen Federbüschen auftrat, jede Hutschnur mit Brillanten besetzt, wobei 18 Trompeter und 2 Heerpauker den Chor bildeten, »von einem andern Chor aber mit lebendigen Stimmen auff einem Triumffwagen allerhöchstgnädig Ihr Mayest. der Röm. Kayserin Glück gewünschet worden«. Den Mittelpunkt aller dieser Feste und Kurzweiligkeiten bildet aber nebst der üblichen Traktierung – die Barockmenschen hatten nicht schlecht Hunger und Durst – der Tanz.
Das Wiener Volk ist von dem verwelschten Hof und seiner Sonne abgetrennt. Lange Zeit schließen eiserne Ketten über steinernen Sockeln die feudalen Palais vom Pöbel ab und räsonnierendes Bürgertum kämpft bis in den Vormärz hinein einen Kampf gegen jene Ketten.
Aber von dem heiter beglänzten Leben, vom Fahren in den gläsernen Prunkwagen mit zwei Lakaien hinten, von den mythologischen Festen in marmornen Sälen träumt Zeit seines Lebens der gleiche Wiener Bürger, träumen Geschlechter von Bürgern. Dazugehören ...! »Man stand stundenlang, ja halbe Tage lang«, um den Auffahrten in Kirchen, Bälle und Theater zuzusehen, »in Ordnung gehalten von Bewaffneten, die oft der Landessprache unkundig waren und von ihrem Gewehrkolben nicht immer den angenehmsten Gebrauch machten ...« Es galt als gesellschaftlicher Erfolg, im Kaffeehaus als Baron angesprochen, für einen Erzherzog oder nur den illegitimen Sproß eines Erzherzogs gehalten zu werden, und der Adel des »Herrn von« wurde jedem von jedem verliehen. Die Fiaker in der Pepitahose und im Stößer (einem aus England stammenden Hut) zeigten das Kleidungsideal des unteren Wieners, das im »Gawliertum« gipfelte.
Doch auch die umgekehrten seelischen Strömungen sind geschichtlich merkwürdig und sie haben im letzten Grund, als bestimmende Triebfedern einer Mode die Ausbildung des Wiener Tanzes bewirkt.
Die Herrschaften, die »Fürsten, Graffen, Herren und Cavagliere«, die im Fasching ihre Allemanden, Sarabanden, Couranten und steifen Bourréen tanzten, unterlagen zuweilen einem gewissen Heimweh nach unten: einem heimlichen Drang nach der derberen Erotik der ferngehaltenen Plebs, deren stilisierte Liebesgebärde eben ihr Tanz ist.
Vermied das Cinquecento jede heftigere Bewegung und beschränkte sich sein Tanz auf ganz kleine, vier Zoll lange Schritte, erlaubte das Menuett nur die Berührung durch die Fingerspitzen –, so wuchs nun die Sehnsucht nach Verschlingung der Körper, wie es die glücklichen Kinder der Hernalser und Liechtenthaler Gründe übten. Jede Hochkultur will hinab zur Unterkultur, der Graf, der sich in Grinzing von den Schrammeln aufspielen ließ, setzte sich unter die Fiaker und Pauline Metternich, in Paris die Fürstin, liebte es in Wien, »in Aussprache und Gesang zum Volk niederzusteigen ...« Nostalgie de la crotte nennen es die Franzosen.
Schon 1681 tauchen in einem Leipziger Tabulaturbuch, das Paul Nettl auffand und das die neuesten Partite ex Vienna mitteilt, neben höfischen Sarabanden und Couranten die Bauerntänze und ein »Brader-Tanz zu Wien« auf, ein Gesell von vulgärer Herkunft und, wie die alpinen Sexten verraten, ländlicher Abstammung. Das ist der ersehnte Eindringling.
Und allmählich erobert der Volkstanz den Barocksalon, wobei er das Gesellschaftsbild vollkommen verändert. Die alte Suite, die in edler gemessener Weise den Raum gliedert und die im Menuett »das Vorbild aller feinen Sitte und alles salonmäßigen Anstandes« erreichte, stirbt an der Française, wo die Paare nicht mehr hintereinander, sondern gegeneinander tanzten; und in der Rokokogesellschaft erscheint als Nachrichter der heimlich gerufene und öffentlich verschimpfierte Deutsche, später Langaus genannt, wobei der Tänzer die Tänzerin querüber von Saalecke zu Saalecke schleifte, was auch Damen mit robusteren Lungen nur sechs- bis achtmal aushielten. Man will nicht mehr den Raum gliedern, man will ihn durchrasen, will, Raum- und Zeitgefühl verlierend, traumlos und schwindelnd dem Leben entgleiten. Und dieses ungestüme Verlangen nach Sinnlichkeit erfüllt der Walzer, der letzten Endes ein Revolutionskind ist. Nach den napoleonischen Kriegen erwacht der Lebenshunger, Europa tanzt über frischen Gräbern. Und der Walzer dringt nicht ein, er »erobert« nicht die Salons: er wird als Befreier von einem lechzenden, geistig-sinnlichen Bedürfen geholt und lange haftet ihm wie einst der frommen Sarabande der Ruf des Unanständigen, des Ausgelassenen, des nicht Salonfähigen an. Der Walzer ist der tödliche Keim, der dem Menuett, dem letzten Rest alter, gesitteter Rundtänze, dem Vergnügen der feudalen Gesellschaft den Garaus macht. Neue Ideen – neue Tänze!
»Der Deutsche Tanz oder der Walzer, von den Alten Schleifer, jetzt auch Ländler genannt; theilt sich ein in den engen, und den weiten. Der enge Schleifer; ein sehr scandalöser, und dem deutschen Ernst zur Schande gereichender Tanz, hat immer zweyviertel Tact; der weite Schleifer, ein stürmender, in weiten Kreisen sich herumwälzender Tanz, welcher Solo oder Tutti allein oder gesellschaftlich getanzt werden kann, wird in dreyachtel oder dreyviertel gesetzt, mit oder ohne Trios ... die Bewegung darf nie zu rasend, auch nie zu langsam seyn. Im ersten Fall wirbelt er das Hirn durcheinander; im zweiten artet er von der Natur ab ...«
Diese Ästhetik des Skandaltanzes gibt Chr. Fried. Dan. Schubart in seinen Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, 1806, zur Kaiser-Franz-Zeit, da der Walzer, bei dem die Paare einander wie Walzen weiterdrehten, noch unter Protest, aber als genußvolle, beliebte Neuerung bereits in lebhafter Übung stand.
Es bilden sich vom Walzer (nach Robert Lach) verschiedene Typen aus: der ältere (langsame) Walzer mit drei gleichen Vierteln
und der Wiener Walzer, der Geschwind- oder Schleifwalzer mit dem Rhythmus
oder (als sogenannter Zweitritt):
In dieser letzten Form beherrschte der Sieger die biedermeierischen Salons. Eine Halbe und ein Viertel bilden den rhythmischen Typ des echten Wiener Walzers und es sind die Strauße, die ihn in Urform wie in Mischform zu allen Möglichkeiten der Verfeinerung führen, seine Nervosität nervöser, seine orgiastische Natur orgiastischer anfachen. Bis daraus der edle Straußische Verzückungswalzer entsteht.
Die Walzerseele bleibt volkhaft; aber die Gebärden werden immer sensibler und aristokratischer. Endlich schlägt auch seine Stunde. Wie alles Gewordene erliegt der Walzer dem Gesetz des Lebens, auch der Skandaltanz von einst, der die Geometrie der alten Gesellschaft gesprengt, die Anmut des Menuetts ums Leben gebracht hatte.
Ganz ähnlich verläuft ja die kurze Lebensgeschichte der Polka, die um 1830 von einem böhmischen Landmädchen (Anna Slezak in Elbeteinitz) erfunden wird, von Wien nach Paris kommt, wo sie um 1840 schon große Mode ist (»il faut bien polker«, behauptet Paul de Kock). Wird 1845 in Kalkutta beim Geburtstag der Königin Viktoria getanzt und kurz darauf am Hof der berühmten Königin Pomare in Otaheiti. Worauf sie ihre Abarten entwickelte, die Française, die Mazurka, etwa zwei Generationen entzückte, bis sie heute als überholt gilt und ihrem Grab zuwankt.
Im ewigen Kreislauf der Dinge verlangt die letzte Tanzkultur nach Abrüstung des Walzers, Auffrischung durch heißere Geblüte, nach neuen Narkosen – und über das Altwalzertum triumphieren Foxtrott, Tango und Swing.