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Zu dem Libretto der »Nacht von Venedig« soll Johann Strauß nach einer mündlichen Überlieferung durch einen Librettistenkniff gekommen sein. Zell und Genée boten ihm zwei Bücher an, ein polnisches und ein italienisches, und ließen durchblicken, Millöcker wolle das italienische komponieren. Strauß wurde dadurch verführt. Wenn Millöcker die »Nacht in Venedig« begehrte, war sie sicher sehr stark. So ging er den Autoren in die Falle, denn den Bettelstudenten hatten sie für Millöcker bestimmt ...
Eisenberg stellt die Entstehungsgeschichte geradliniger dar: Strauß habe bei Zell und Genée ein Buch mit dem Markusplatz als Szene lustiger Verwicklungen bestellt, die Autoren hätten nach Vorschrift gearbeitet, ja die Gestalten der drei Senatoren, die den düsteren Rat der Zehn im heiteren Zerrbild zeigen, seien von Strauß selbst hineinerfunden worden.
Wie jedem Wiener war Venedig für Strauß der romantische Vorhof von Österreich und beim Klang dieses Namens empfand er wie jeder Österreicher Selbstmitleid und Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies von 1866. Er freute sich, südliche Landschaft mit Wiener Heiterkeit zu erfüllen.
Wie dem immer auch sei – gegen die erste Überlieferung spricht vor allem, daß der Bettelstudent schon 1882 erschien –, auch innere Gründe müssen Strauß an dieses Buch geführt haben und wir dürfen uns nicht mit Oberflächenpsychologie beruhigen.
Die Hauptfigur, der fatale Guido, Herzog von Urbino, der nach Venedig kommt, um sich mit drei Senatorenfrauen auf seine Weise zu vergnügen, und dem eine Köchin und eine Fischerin zugeschoben werden; dieser Herzog, ein kleiner Bruder des großen Don Giovanni, der am Schluß der Geprellte ist, in einen resignierten Humor flüchtet und einen Schleier über die so unergiebige Nacht in Venedig breitet, mußte als Seltenheit unter den üblichen Operettenhelden auffallen.
Die Uraufführung der Nacht in Venedig ging nicht wie üblich in Wien, sondern in Berlin (3. Oktober 1883) am Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater vor sich, das Direktor Fritzsche leitete. Die Annahme, Strauß wollte dem Theater an der Wien ausweichen, da Lily dort als Pseudogattin Steiners wohnte, erklärt nicht alles, da die Wiener Aufführung in diesem Theater kaum eine Woche später (9. Oktober) folgte.
Direktor Fritzsche hatte die Bühne, auf der früher die Posse, dann das klassische Schauspiel gepflegt wurde, geschmackvoll umbauen lassen und ausschließlich für die Operette bestimmt. Nach dem Lustigen Krieg war Berlin auf die Nacht in Venedig, mit der das neue Theater eröffnet werden sollte, in einer Weise gespannt, die dem Werk eher gefährlich als nützlich wurde.
In der edlen Unzufriedenheit des Tasso stieß Strauß selbst hinterher manchen Seufzer aus: das Buch seiner Wunschträume war diese »Nacht« in allen Stücken gerade nicht und die Unfreiheit des immer gebundenen Musikers, der absolut: losgebunden sein möchte, begehrt gegen den herrischen Textdichter auf, den Mann, von dem man abhängt, dem man ausgeliefert ist, für den man büßen muß. In einem Berliner Brief (wahrscheinlich an seinen Freund Priester) bricht diese Stimmung durch und er erzählt die Probenabenteuer mit aller Ironie:
»Bisher täglich Proben ... Daß ich nach jeder Probe, sonst nichts that, – als mein Weib u. mich selber bis aufs Blut sekiren, ist eine traurige Consequenz meiner Arbeit. Kann's denn aber auch anders sein, wenn's Hirnkasterl nicht mehr in der Ordnung ist? ... Die Abwesenheit des Dichters Walzel benützend, hat Director Fritsche gleich in der 1sten Scene, einer genialen Eingebung folgend, bei Gelegenheit des Entrées der Cibeletta selbe über einen kleinen Buben stolpern lassen; später machte er zwei Buben daraus, um den Effect zu erhöhen, und ich versichere Dich, lieber Freund, daß ich den Director herzlichst umarmte, aus Freude über diesen das Libretto so sehr unterstützenden glücklichen Einfall. Vielleicht encouragirt durch unsern Beifall, ließ der liebe Director dem gefallenen Buben, von dem Macaronibuben noch ein paar auf den A.... hauen; dies der wirksamste Effect im Buche, durch Fritsche's Nachhilfe. Adele und ich dankten gerührt dem rettenden Engel, der gern bereit wäre, das Buch weiter zu verbessern, als heute Walzel eintraf, der sich jede dichterische Einmengung verbat ... Du weißt, daß ich immer über das Buch zur »Nacht in Venedig« klagte; nun kannst Du Dir meine Seligkeit vorstellen, in Fritsche Denjenigen gefunden zu haben, der mit ein paar Strichen neue belebende Situationen u. z. mit einer Leichtigkeit ins Werk zaubert, daß ich mit Ungeduld seinen weiteren Verbesserungen entgegensehe. Wenn nur nicht Walzel angekommen wäre ... Schade! Schade! Adele und ich, beide betrübt, grüßen Dich herzlichst.«
Die Aufführung kam und Strauß saß am kranzumrahmten Pult. Der erste Akt verlief ganz unterhaltlich. Im zweiten wurden Laute des Mißbehagens hörbar, die die klassischen Wendungen des Textes bei den Hörern hervorriefen und die die Freunde des Komponisten durch Beifall zu übertönen suchten. Im dritten Akt ging der Skandal richtig los, als bei der Wiederholung des Lagunenwalzers, der damals auf die romantischen Worte hörte: »Bei Nacht sind die Katzen ja grau, dann singen sie zärtlich miau ...« das Publikum mit dementsprechenden Tierlauten einfiel. Da nutzte auch der in verspäteter Erkenntnis dem Tenoristen aus der Kulisse gegebene Zuruf: »Text weglassen!« nichts mehr. Man suchte den Durchfall später zu beschönigen, als sei er eine Art irdischer Wiedervergeltung für den Durchfall des Deutschen Theaters in Wien gewesen; allein umsonst wurde der Splitter aus dem Auge des anderen gezogen. Direktor Fritzsche hatte für eine glänzende Aufmachung und erste Kräfte gesorgt (Fräulein Collin, die Herren Steiner und Szika), – der Unfall wurde von allen Zeitungen einstimmig in die Tiefen des Buches verlegt.
»Die Aufnahme war geteilt; Beifall kämpfte mit Opposition, die bei dem Lied ›Auf der Lagune‹ im letzten Akt sogar eine bedrohliche Haltung annahm.« (»Voss. Ztg.«) »Die schwache Seite ist das Textbuch, und man versteht kaum, wie Johann Strauß einen solchen Wust von Albernheit und Unsinn zu komponieren sich überwinden konnte. Nicht die, die das Libretto verfaßten, sondern der es auf die Bühne brachte, trägt die größere Schuld und darum darf sich Herr Strauß nicht beklagen, daß er keinen vollen Erfolg errang: er hat ihn von vornherein unmöglich gemacht.« (»Kreuz-Ztg.«) »Schade um die musikalischen Einfälle von Strauß, die zwar lange nicht so dicht gesät sind wie im Lustigen Krieg, aber doch das Schicksal, auf solche Weise um ihre Wirkung gebracht zu werden, keineswegs verdient haben ...
Im Finale des zweiten Akts faßt sich der wirkliche Gewinn zusammen, den die Operette hinterlassen hat. Von da an schwächt sich der musikalische Wert des Werkes ab, während die Zudringlichkeiten des Textes immer ärger werden. Strauß ist viel zu fein und zierlich, um auf einen groben Klotz einen groben Keil zu setzen; er zieht bei den Versuchen, auf die derben Späße seiner Mitarbeiter einzugehen, fast regelmäßig den Kürzeren.« (»National-Zeitung.«)
Ein so kompletter Unsinn ist die »Nacht in Venedig« durchaus nicht. Sie muß sogar zu den besseren Büchern Genées gezählt werden und wirkt noch heute amüsierlich. Nun ist das Buch, das vielleicht von Offenbachs »Seufzerbrücke« beeinflußt wurde, leichtsinnig und schluderhaft gearbeitet und die Ansätze zum Musiklustspiel, zur Wiener komischen Oper blieben in einer Johann Strauß geringschätzenden Art unentwickelt. Ansätze dazu boten die drei Senatoren in den roten Samtroben, drei Vögel, die sich kein echter Parodist als geniale Vertreter behördlichen Regierungskollers hätte entgehen lassen; Ansatz bot ferner der Makkaronikoch Pappacoda mit dem großen Mundwerk, ein Vertreter des niederregierten und sich zungenfertig rächenden Volkes. Leider benutzten die Textdichter die Anregungen des Komponisten zu bloßen Wiener Wortwitzen.
In erster Linie tut die Musik, was ihre ehrbare Schwester, die Opernmusik, zu tun pflegt: sie bildet Landschaft, ein Venedig mit den Fliesen des Markusplatzes, den Lagunen, worauf Mondschein blitzt, Balkone, vor denen Sänger schmachten, – eine Welt, die in den Sechsachteln der Tarantellen, Barkarolen, Serenaden steht, in den Ruderschlags- und Prestorhythmen, in den eingeflochtenen Originalliedern, die auch Hugo Wolf komponiert hat (»Der Mond hat eine schwere Klag' erhoben« und »Heb' auf dein blondes Haupt«).
Dazu kommt die Wiener Walzerwelt, die sich in den Ballsaal des Herzogs schwingt und die im ersten Finale mit der Südwelt so kunstvoll zusammenfließt, daß man die Kunst gar nicht merkt.
Zuerst klingt hinter der Szene die Längenmelodie des Caramelloständchens (6/8):
Sie verklingt ... ulkige Karnevalsvölker sammeln sich vor Dell' Acquas Tür und stimmen auf seine Herrlichkeit den Spottwalzer an:
Und zum Finale werden beide Themen verbunden: das Ständchen (jetzt ¾-Takt) spannt sich über den Spottwalzer wie eine leichtgeschwungene Lagunenbrücke:
So wird der Musiker der Spaßvermehrer der Komödie. Die Partitur ist besonders einfallverschwenderisch. Außer dem zungensausenden Pappacoda-Couplet (»Drum sei glücklich, sei fröhlich, Venetia, Pappacoda ist da ...«), der Agricolapolka (»So ängstlich sind wir nicht«), dem Taubenchor mit zwei unausstehlichen Zithern im Trio – einem wahren Publikumsreißer – sind noch vier Walzer da, jeder auf besondere Art lustvoll: das Walzerquartett, B-dur: »Alle maskiert« mit seiner Leichtsinnsmelodik, der Spottwalzer mit der kostbaren Ironie des Ritornells:
der Ballwalzer, dessen über die Taktstriche gedrängte Rhythmen von Dialogzartheiten durchflüstert werden:
und der Lagunenwalzer, das lyrische Gesangsstück, dem man alle Tugenden Straußischer Erfindung nachsagen muß: die reizvoll verschobene Rhythmik (der Auftakt als Melodienanfang), die lange Welle, die ziervollen Arabesken imitierender Holzbläser und die spitzbübischen Triller der Flöten auf c (»Wie sie schmeicheln, wie sie heucheln«).
Der Walzer erhielt nach den Berliner Erfahrungen einen neuen Text:
»Ach wie so herrlich zu schauen
Sind all' die lieblichen Frauen,
Doch wagst du einer zu trau'n,
Auf Sand, Freundchen, wirst du bau'n ...«
In dieser Form, die aus den Katzen, den grauen, eine Umschreibung des »La donna è mobile« machte, wurde der Lagunenwalzer ein Favoritstück aller Operettentenöre bis heute.
Die Mitteilung Eisenbergs, Strauß habe das Motiv des Lagunenwalzers beim Miauen von Katzen, den des Dell'Acqua-Walzers beim Quaken von Fröschen gefunden, halten wir für holde Nacherfindung. Warum haben die Tierstimmen Strauß gerade bei der »Nacht in Venedig« befruchtet?
Die Nacht in Venedig wurde später vom Wiesbadener Staatstheaterintendanten Dr. Carl Hagemann von Grund aus neu bearbeitet und in dieser Form mit großem Erfolg gelegentlich der Operettenfestspiele in Baden-Baden (August 1918) aufgeführt. Von hier begann eine Wiedergeburt des Werkes, das über zwanzig Bühnen ging.
Die Bearbeitung faßt das Stück als »Maskenspiel aus dem Rokoko«, als erotische Verwechslungskomödie, wie sie Zell und Genée – vielleicht – vorschwebte. Zu diesem Zwecke wurde der Text von allen geschmacklosen Extempores gereinigt, stark gekürzt und sprachlich ein wenig kultiviert. Musikalisch wurde namentlich der zweite Akt umgestaltet, das Finale straffer geführt und allerlei Füllsel weggelassen. Nach dem tempo di marcia alla breve »Wer sich will der Freude weihn« folgt nochmals das »Horch von San Marco der Glocken Geläut«, wobei jetzt alle Solisten eine Art von cantus firmus mitsingen. Damit schließt der überraschend wirkungsvolle Akt. Von Nr. 11 »Ensemble und Couplets« ist nach den ersten 16 Takten Eingangschor nur das Couplet des Caramello und Pappacoda geblieben: »Wer steckt ein«. Im dritten Akt wurde das sehr matte Spottlied weggelassen (Nr. 16), dafür Johann Strauß' Walzer »Künstlerleben« als Einlage vom ganzen Ballett getanzt. Eine liebevolle Hand vermochte auf diese Art Zell und Genée zu erhöhen, wie Genée bei der Fledermaus Meilhac und Halévy erhöhte.
Und so erhielt der Komponist, der zeitlebens seufzte: »si mette tutto in sacco« nachträglich das Buch, das er gern geschrieben hätte.