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192. Müller an Bonstetten

Boissiere, den 11. Mai 79.

Der ganze Frühling lacht und athmet aus allem, das Gras ist hoch und schön und stolz und scheint lebendig, die Lerchenrosen duften an den Zäunen, und alle Spaziergänge zwischen den hohen Spalieren sind Paradiese, vom sanften Jasmin wandelt man zur stärkern Geldernrose, und alle Nelken in ihrer orientalischen Pracht prangen am Rand unserer Terrassen. Wie schön, daß alle Fenster offen sind und alles lichte ist bis an den späten Abend. Alle Menschen in allen ihren Kräften frisch, und wer nicht lacht und munter ist, ist eben so wohl eine Lehre, als der andere eine Erquickung. Komm, Freund, Geliebter, ich kann mich nicht enthalten, mich bey Dir zu setzen an den Fuß Deiner Alpen; versenkt in hohen Blumen. Da Du mir nicht schreibst, ich weiß nicht warum, habe ich unternommen, täglich sechs Deiner alten Briefe von Anfang an zu lesen, denn im Glück bedarf ich Deiner sowohl, als in andern Zeiten, und wenn ich unserer Freundschaft von dem hölzernen Saal an durch Italien und manche Reise und manche weise Freude und vergeblichen Verdruß folge, und immer Dich, Dein edles göttliches Herz, Deine tugendhafte und unveränderte Liebe finde, vergesse ich darüber, daß Du mich nun vergissest. Es ist kein Tag im Leben, da ich meines Freundes nicht bedürfte, keine kleine Handlung noch Freude, noch Traurigkeit, von deren ich ihn nicht gern theilhaftig machte, und ich nicht gern von ihm wissen und mit ihm theilen möchte. Gedenke! nur 4 Wochen! wäre ich einsamer, wenn das Weltmeer uns trennte, und wie lange gedenken wir zu leben, um diese Verschwendung zu gestatten. Weiß ich denn, was Du thust, wie Du lebst, ob Du gesund bist, was Dich freut, was Du gerne ändern möchtest, Plane, Empfindungen, die Du hast. Mein Lieber, die Natur ist in vollem Leben, und warum lebe allein ich nur halb!

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