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Noch eine Seite Dickons muß ich beleuchten, um sein Bild zu vervollständigen, einen Wesenszug, der tief in ihm wurzelt. Was ich erzählen will, mag dem Leser recht nichtig erscheinen, mir aber zeigt sich darin Dickons innerster Kern. Die kleine Geschichte spielt vor kaum zwei Jahren. Ich hatte eben die Provence entdeckt und Dickon war im Begriffe, nach Brüssel zu reisen. Ich wohnte wie auch sonst des öfteren bei ihm in der Bordon Street und las eines Abends am Kamin, als er heimkam.
Es war spät. Er zeigte ein gerötetes Gesicht und Falten auf der Stirn, war im Abendanzug und hatte seine Orden auf der Brust. Wo er gewesen war, erfuhr ich erst im Verlauf des Gesprächs.
Eine Gruppe von Reklamefachleuten hatte ein Diner gegeben – ich glaube, es war eine der Organisationen, die Dickon gegründet hatte –, und er hatte eine Rede gehalten und sich gehen lassen. Ein wenig erwärmt durch Champagner und professionelles Brüderlichkeitsgefühl, hatte er seinen Traum vom Reklamefachmann als Propheten und Lehrer einer ergötzten, aber ungläubigen Versammlung dargelegt. Irgend jemand hatte gelacht, und er hatte als Antwort darauf einen prophetischen Ton angeschlagen. »Wir sind die Herren der Zeitungen, und sie wissen das«, hatte er gesagt. »Wir und nur wir besitzen das Ohr der Welt. Wir können bestimmen, was bekannt werden soll und was nicht, was existieren soll und was nicht. Wir können das Volk erziehen oder verderben, können das Gute loben und das Schlechte herabsetzen. Wir können der Führer, der Philosoph und der Freund des gemeinen Mannes sein – wenn wir zusammenstehen. (Erneute Heiterkeit). Warum sollten wir uns nicht zur vollen Höhe unserer Möglichkeiten erheben?«
Dann hatte er eine Pause gemacht und war zu einer Art Antiklimax übergegangen.
»Sollen wir niemals über Automobile und Medizinen, Zigarren und Eingepökeltes hinausgelangen?«
Er senkte die Stimme eindrucksvoll und setzte sich dann nieder.
Die organisierten Reklameleute schrien Beifall und schlugen auf die Tische, aber sie sahen einander verstohlen an und warfen Blicke auf Dickon, der mit gerötetem Gesichte dasaß und bereits an der Weisheit seiner Rede zweifelte. Ganz neu waren ihnen seine Ideen nicht, aber so ausführlich und so offen hatte er sie noch nie geäußert.
»Mäßigung ist in allen Dingen vonnöten«, erklärte der folgende Redner. »Unser tatkräftiger Genosse, dessen eifriger Organisationstätigkeit unsere Branche soviel verdankt,« neige, so meinte er, ein wenig zu Übertreibung. Das sei, alles in allem, vielleicht bei einem Reklamemann kein Fehler (Heiterkeit) – innerhalb bestimmter Grenzen. (Erneute Heiterkeit.) Doch wenn es auch ein gutes Geschäft sein könne, zu übertreiben, sei es nicht klug, zu drohen. (Hört, hört!) Die Reklameleute spielten wohl in der Förderung des Geschäftslebens eine Rolle, eine recht große, ja, er wolle sogar sagen, eine wesentliche Rolle, die Wohlfahrt des Landes hänge in gewissem Maße von ihnen ab. Trotzdem sei ihre Bedeutung eine untergeordnete. Man dürfe sich nicht allzu ernst und wichtig nehmen. Man müsse ein wenig Humor haben ...
Wahrscheinlich hatte er aus reiner Unbeholfenheit denselben Gedanken drei- oder viermal wiederholt. Aber er wurde durch ›Hört-Hört‹-Rufe und ein sanftes Klopfen auf den Tisch ermutigt. Was als freundschaftlicher Vorwurf gemeint gewesen war, wurde zu einem Angriff auf Dickon, ja schließlich fast zu einer sogenannten ›Abfuhr‹.
Dickon war in der Welt der Reklamefachleute geachtet und populär, doch hatte er sich diese Popularität durch seine Erfolge errungen. Seine Genossen mochten ihn recht gern, fühlten aber zu Zeiten, glaube ich, daß er sie gewissermaßen dazu zwang, ihn zu mögen. Die Tischrede über ihre hohe Verantwortlichkeit hatte ihnen nicht so sehr geschmeichelt, wie sie mit einem gewissen Unbehagen erfüllt, und so griff die ganze Versammlung den freundschaftlichen Tadel der ›Übertreibung‹ und des ›Mangels an Humor‹ bereitwillig auf. Man applaudierte warm und nickte zustimmend. Die weiteren Redner zeigten eine steigende Neigung, dem ersten Angreifer Dickons nachzusprechen und ihn sogar noch zu übertrumpfen, schließlich kam noch ein Witzbold an die Reihe, und Applaus und Gelächter wuchsen.
Die Sache wurmte Dickon sichtlich. Er stand in Brüten versunken am Fenster. Schließlich platzte er los.
»Dieser verdammte sogenannte Humor«, schrie er in plötzlicher Aufwallung.
»Eh?« sagte ich, indem ich von meinem Buch aufsah.
»Wenn einer sich bemüht, etwas Anständiges zu leisten, so heißt es, er wolle sich patzig machen. Da tut er also lieber schäbige, halbherzige Arbeit und sagt grinsend: ›Gott sei Dank, ich bilde mir nichts ein, ich nehme die Dinge und mich selbst mit Humor.‹ Darauf läuft das Ganze im Grunde hinaus.«
»Sprichst du mit mir, Dickon?«
»Oh nein, Billy! Ich dachte laut. Einer hielt heut Abend eine Rede ... tadelte mich ... ich hätte das Reklamewesen zu hoch eingeschätzt. Vielleicht habe ich zu viel gesagt ... Vielleicht.«
Er fuhr fort, als wende er sich an eine dritte Person:
» Bescheidenheit! Seinen Platz in der Welt kennen! Blödsinn ist das, alles Blödsinn, sag ich dir! Kriecherei, heuchlerisches Getue, Ausflüchte, das wird den Jungen in der Schule eingebläut. Just von einem Reklamemann Bescheidenheit verlangen! Ein Reklamemann! Denke bloß! Bescheidenheit! Sich nicht mit ganzer Kraft für die Dinge einsetzen, die getan werden müssen! Die Kerle würden ein Kind ruhig vor ihren Augen ertrinken lassen! Gott sei Dank, sie geben sich ja für keine Schwimmer aus. Sie denken nicht daran, die ertrinkenden Kinder der Christenheit zu retten. Wenn es irgend einem anmaßenden dummen Esel, der überhaupt kaum schwimmen kann, beliebt, ins Wasser zu gehen und sich in Gefahr zu bringen, werden sie doch nichts anderes tun als lächeln. Und ihm einen Stein an den Kopf werfen, wenn er zum dritten Mal an die Oberfläche kommt. Es sind eben gelassene Leute!«
Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und lauschte. Mehr konnte ich vorläufig nicht tun. Ich war immer noch gänzlich im Unklaren darüber, um was es sich überhaupt handle. Er war ein ganz klein wenig beschwipst, aber in der Hauptsache war sein Zorn, das sah ich klar, durchaus vernünftig.
»Humor!« fuhr er fort. »Es gibt jedenfalls nicht viel von diesem Gift im Reklamewesen ...«
Er schien sich meiner Gegenwart zu erinnern.
»Du magst lachen, Billy! Aber dieser Idiot heute abend hat mich in Wut versetzt. Ich bin heute abend inmitten humorvoll-gelassener Leute ein Hitzkopf gewesen. Kochend vor Zorn. Der Kerl hat mich gelehrt, was das überlegene Lächeln, das unaufdringliche Schmunzeln der Wohlerzogenen im Grunde bedeutet. Warum sollte ein Mann sich nicht ernst nehmen? Was sollte wohl sonst ernst genommen werden? Die Kerle, die sich nicht ernst nehmen wollen, hätten lieber nicht geboren werden sollen! Pfui über die Lauheit! Pfui über halbe Arbeit! Ein Witz am rechten Platz ist schön und gut, aber sich niemals ernst nehmen, das ist eine Sünde wider den Heiligen Geist!«
Und plötzlich schwebte Dickon hoch über mir. Er wurde eine Kanzel und mein bequemer Lehnstuhl eine Kirchenbank. In seiner Stimme mischten sich Mißbilligung und leidenschaftliche Überzeugung.
»Weil einer Großes leisten will, Billy, da Großes zu leisten ist, weil einer arbeitet, bis er fast zusammenbricht, so ist er deshalb noch lange nicht anmaßend. Wir zwei haben Erfolg gehabt, Billy; das Leben hat es gut mit uns gemeint, hat uns viel gegeben, uns seine besten Teppiche unter die Füße gebreitet. Haben wir ein Recht, etwas anderes zu sein, als ernsthafte Männer? Verflucht ernste Männer! Es ist nicht Mangel an Bescheidenheit, wenn man sich aufs äußerste anstrengt, so viel zu erreichen strebt, wie man kann. Man ist dazu verpflichtet. Was wir sind ... das ist eine andere Frage.«
»Kennen wir einander nicht durch und durch, Billy? Maßen wir uns etwas an? Sind wir hochmütig? Weiß ich nicht, was für Esel wir sind, ich, der ich keinen Bissen auf meinem Teller lassen kann, und du, dem das Gesicht beim Rauschen eines Weiberrockes zu leuchten beginnt? (Komm, Billy, gib es ruhig zu!) Wissen wir nicht, welche Schnitzer wir machen, wie leicht wir die gute Laune verlieren, wie viele Dummheiten wir begehen? Und nichtsdestoweniger, trotz all unseren Schwächen müssen wir todernst sein und so angestrengt arbeiten, wie wir können.«
»Wenn nicht wir, wer sonst? Sieh, Billy ... Gibt es Götter unter den Menschen, so daß wir, du und ich, locker lassen könnten? Götter, die etwas schaffen, wenn wir es nicht tun? Wenn wir schmunzelnd, in vornehmer Bescheidenheit abseits stehen, wer ist dann da, um die Dinge anzupacken? Dieser sogenannte Humor, sage ich dir, Billy, paßt nicht für einen anständigen Menschen. Laß die Untüchtigen Humor haben! Und ihn pflegen. Sie brauchen ihn. Mögen sie hinter dem Rücken der ernsthaften Männer kichern und Grimassen schneiden. Das ist eben ihre Art, ihre niedrige Art. Uns aber, Billy, sind große Aufgaben gestellt worden und wir müssen sie zu lösen trachten. Wir sind keine Aristokraten; unser Glück mag nur Zufall sein; aber, zum Guten oder Bösen – Gott hat uns zu Führern gemacht. Und ein Führer will ich bleiben ... Oh, ich möchte lieber –«
Er machte eine Pause.
»Ich möchte lieber ein Stinktier sein und den Graben, in den ich gefallen bin, mit Gestank erfüllen, als einer dieser verdammten humorvollen, gelassenen Kerle!«
Sonderbar, wie aufgebracht Dickon manchmal sein konnte. Er war für einen Augenblick still. »Ich bin ein heilloser Esel«, sagte er mit veränderter Stimme. »Oh, ich weiß, ich bin ein Esel und verdiene es, daß sie mir ins Gesicht grinsen. Ob ich es weiß!«
Er fuhr fort in abgerissenen Sätzen zu sich selbst zu sprechen. »Immer recht üppig essen ... In den Klub gehen. Da ißt man selbstverständlich zu viel. Und dann schläft man ... Alle Tatkraft dahin ... Ja, ja. Wutanfälle wegen eines zu engen Kragens. Wie oft war Minnie entsetzt über mich – über mein kläglich-komisches Gehaben! ...«
Das Gemurmel wurde zu unzusammenhängendem Gebrumm und endete mit einem Nicken und einem ›Jawohl‹.
Dann stand er ganz ruhig. Plötzlich flüsterte er Worte vor sich hin, die mich seltsam ergriffen. Er hatte vergessen, daß ich da war. Der Satz, den er sprach, war ihm offenbar schon oft durch den Kopf gegangen, er hatte ihn sich gewiß seit langem zurechtgelegt und ihn so manches Mal wiederholt – als abschließende Betrachtung nach ähnlichem Verdruß.
» So schwach wir auch sein mögen,« sagte er, » die anderen sind noch schwächer.«
Ich starrte ihn an. Ich hatte mir eingebildet, Dickon genau zu kennen, und nun dämmerte es mir plötzlich auf, daß ich ihn in mancher Hinsicht nicht kannte.
Er erwachte wieder.
»Zu dumm, daß ich zornig geworden bin!« sagte er. »Zu dumm!«
»Ich hätte den Schafskopf ermorden können ...«
»Ich zeigte meinen Ärger, und sie grinsten ... Wie gut, daß ich dich da hatte, alter Junge, um mir Luft zu machen ...«
»Ich hätte sonst die ganze Nacht nicht geschlafen. Hätte bald ihn, bald mich selbst verwünscht. Wenige Leute wissen, wie schlimm solch eine Nacht sein kann.«
»Siehst du, Billy, was ich sagte, war nicht ganz das, was ich sagen wollte. Ich übertrieb. Was ich sagte, war richtig, aber irgendwie übertrieb ich. Und da konnten sie mich fassen. Ich kann nie ganz genau sagen, was ich meine. Es ist verdammt schwer, genau zu sagen, was man meint.«
»Aber sie begriffen ganz gut, worauf ich hinauswollte. Und es war zu viel für sie ...«
»Sie freuen sich, wenn sie nörgeln können ...«
Ich weiß nicht, was er sonst noch sagte. Ich hörte nicht mehr zu. Mir ging sein erstaunlicher Satz im Kopf herum. » So schwach wir auch sein mögen, die anderen sind noch schwächer.«
Das ist, glaube ich, die Quintessenz Dickons.