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In den ersten harten Phasen des Unglaubens, die ich durchmachte, waren meine Begriffe von geistigen Vorgängen noch recht roh und ich verurteilte Lehrer, Priester und Diener einer sogenannten geoffenbarten Religion, in deren Offenbarungen ich vieles als zweifellos falsch erkannt hatte, sehr streng. Ich meinte zum Beispiel, jeder Geistliche müsse ganz leicht seines Irrtumes überführt werden können, und eine schlichte Erklärung der Tatsache, daß die neue Lehre des Darwinismus – wie neu war sie doch damals! – mit dem überlieferten Sündenfall, also der Grundlage des priesterlichen Erlösungswerkes, aufgeräumt habe, müsse ihn dazu veranlassen, Bäffchen und Priesterrock hinzuwerfen, auf daß irgend ein Landstreicher sie auflese, und sich, in Hemdärmeln sozusagen, auf die Suche nach einem weniger veralteten Kostüm und einem nützlicheren Amte als dem der Seelenrettung zu machen. Und wenn ich sehen mußte, daß die Kirchen allenthalben immer noch offen standen, die Prediger die alten Sprüche wiederholten und die Gläubigen nach wie vor die alten Hymnen sangen und des alten Vertrauens voll zum Gebete hinknieten, da fragte ich mich, was größer sei, die Dummheit oder die Verlogenheit der Menschen.
Sehr lebhaft ist mir noch in Erinnerung, wie einer meiner Mitstudenten im ›College of Science‹, Davidson mit Namen, sich gegen meine Versuche wehrte, ein Gespräch über die Anwendung der neuen Biologie auf die Theologie mit ihm zu führen. Wir teilten während des ersten Physik-Kursus eine Bank miteinander. Wenn ich mein Thema bloß anschlug, ging ihm die Luft aus wie einem Gummirade, das ein Loch bekommen hat; er schnaufte und errötete heftig. Dabei hatte er eine Art, sich, neben mir auf der Bank sitzend, so weit abzuwenden, daß ich nichts von seinen Zügen sehen konnte als ein rotes Ohr. Heute erst beginne ich Furcht und Abscheu, die er empfunden haben muß, zu verstehen. »Ich will dem Unterricht folgen«, stieß er in der Regel hervor und blickte mich haßerfüllt an. »Ich will nicht mit Ihnen sprechen. Nicht im geringsten ... Bitte, sprechen Sie nicht mit mir.«
Trotzdem war er, ehe er meine Neigung zur Ketzerei entdeckt hatte, durchaus geneigt gewesen, alles Mögliche mit mir zu besprechen.
Ich weiß nicht, ob Davidson noch unter den Lebenden weilt und am Ende gar lesen wird, was ich hier schreibe, jedenfalls aber bitte ich ihn nun, wenn auch arg verspätet, ob der zudringlichen Verletzung dessen, was ihm als heilig galt, um Entschuldigung. Sein Gemüt hing an diesen Heiligtümern, aber er konnte sie nicht verteidigen. Ich war damals innerlich schon so frei und dabei noch so jung, daß ich nicht zu erfassen vermochte, wie tief und notwendig fest das Alte in ihm wurzelte. Die Religion hat nur äußerlich mit dem Verstande zu schaffen; im Grunde ist sie Gefühl und Lebensart. Zwar gibt jede Religion vor, auf Tatsachen und Erkenntnissen zu beruhen, in Wahrheit ist das aber bei keiner der Fall. Der Durchschnittsmensch hat eine persönliche und ihm allein gehörige Welt, die mehr oder weniger in seine religiösen Überzeugungen eingekapselt ist; dadurch fühlt er sich beschützt, dem All wohl eingeordnet und im Besitze einer bestimmten persönlichen Bedeutung. Ganz instinktiv weiß er, daß die ihn und seine Welt einschließende Sphäre, der er Geborgenheit und Zuversicht verdankt, nicht erschüttert werden darf. Geschieht es dennoch, dann kann er ebensowenig leben wie ein Küchlein, das vorzeitig aus dem Ei gekrochen ist. So findet das überzeugendste Argument gegen die Formel, auf der seine Sicherheit beruht, bei ihm kein Gehör, ja er ist nicht einmal imstande, es auch nur einer Betrachtung zu unterziehen. Er will nichts davon wissen, er versucht gar nicht, es zu widerlegen.
Vor einigen Tagen versetzten mich Angesicht und Benehmen eines Priesters in angestrengtes Nachdenken. Clem und ich trafen den Mann, der wohl zwanzig Jahre weniger als ich zählen mochte, in einem Eisenbahnabteil, das wir in Vence bestiegen. Wir zwei waren seit frühem Morgen in den Bergen herumgewandert, wir fühlten uns überaus glücklich, ein wenig müde dabei und trunken von der herrlichen Luft. Mit knapper Not erwischten wir eben noch den Mittagszug; wir hatten tüchtig laufen müssen und stiegen ein wenig täppisch, atemlos und lachend ein. Wir scherzten über meinen Mr. G. – fast habe er uns diesmal hereingelegt! Ob er wohl die Absicht habe, das zu tun, oder uns nur ein wenig necken wolle? –, stritten über die Lage eines auf der Karte vermerkten Felsens, namens Baou des Blancs, dann schwiegen wir beide und verfielen in Gedanken. Da bemerkte ich den Burschen.
Er sah Clem nicht an. Niemals noch war mir ein derartig nachdrückliches Jemanden-Nicht-Ansehen vorgekommen. Es war just das Gegenteil von Fixieren. Er bemühte sich insbesondere, ihr erhitztes Gesicht und ihren hübschen Nacken zu übersehen; sein Blick hing starr an der Landschaft, durch die wir fuhren, die Stirn war gerunzelt und die Lippen bewegten sich – sie murmelten ohne Zweifel ein für solche Gelegenheiten geeignetes reinigendes Gebet.
Es war, als erschlösse sich mir die Welt in seinem Innern. Und ich betrachtete sie wie ein Forscher etwa, der über die Höhe eines Berges hinweg an einen steilen Abhang gelangt ist und nun ein seltsam fremdartiges Land überblickt. Zum ersten Male, glaube ich, wurde mir völlig klar, welch ungeheure Kluft meine besondere Welt von jener trennt, in der der größte Teil der Menschheit heute noch lebt. Ich versuchte, mich an des Priesters Stelle zu versetzen und mir vorzustellen, was er von meinen alltäglichen Gedanken halten würde, wenn sie mit einem Male anstatt in meinem in seinem Gehirne auftauchten, wie er sich fühlen müßte, wenn er, wider seinen Willen, einen Tag lang, sagen wir, so lebte wie ich, ebenso viel Freiheit genösse und alle seine Pflichten vernachlässigte.
Ich war lange überzeugt, daß Bischöfe, Geistliche und Lehrer und alle Davidsons der Welt Zweifel hegen und schließlich allen Glauben verlieren, dies aber feige verbergen, um sich Einkommen und Stellung zu erhalten. In Wahrheit sind aber die wenigsten unter ihnen imstande, sich in eine ernstliche Kritik ihres Glaubensbekenntnisses zu vertiefen. Es ergeht ihnen wie den Passagieren auf einem Amerikadampfer, die die Lust anwandeln mag, vom Promenadendeck zweihundert und etliche Fuß hinabzuspringen, um ein Weilchen in den Fluten des Atlantischen Ozeans zu schwimmen: der Dampfer hält sie fest. Ganz ebenso werden jene Leute von ihrer Welt festgehalten; nicht der kleinste Einwand oder Widerspruch darf ihre geistigen Stützen mit Zweifeln überfluten. Sofort sind die Pumpen in Tätigkeit, emsig murmeln die Lippen Beschwörungsformeln.
Was dachte mein Priester wohl, ganz unten in den nebligen Tiefen seines Geistes?
Ich glaube kaum, daß seine Gedanken sich bestimmt ausprägten. Es zeigte sich ihm da ein Leben, anders als sein eigenes, diesem entgegengesetzt, ja geradezu widerstreitend, das trotzdem glücklich schien und kein Gefühl der Sündhaftigkeit verriet. Er mußte wohl merken, daß ich freien Herzens zu den Bergen und zur Sonne emporblickte. Und ich hatte eben spottend gescherzt – verstand er am Ende etwas Englisch und hatte unsern Scherz begriffen? Und Gott ließ das zu! Da begnügte er sich nun seit Jahren mit magerer Kost, hielt sich an strenge Ordensregeln, ging schmählich schlecht gekleidet, übte Demut und ertrug bitteren Zwang – und Gott duldete solch dreiste Freiheit? Wie, wenn Gott doch anders wäre, als man ihn gelehrt hatte? Wenn auch er, der Ärmste, ein so wunderbar lebensvolles Geschöpf wie diese schlanke Frau da sein eigen hätte nennen dürfen? Um damit zu tun, wie ihm beliebte! Hilfe! Ave Maria! Hilfe! So klar waren seine Gedanken wohl nicht, doch zog ohne Zweifel etwas dergleichen durch sein Gemüt. Und er murmelte sein altehrwürdiges lateinisches Heilmittel: ›Ave Maria, gratia plena, Dominus tecum‹ oder ein ähnliches Gebet und blickte weg, oh! blickte weg.
Ich hatte den Eindruck, daß dieser Mann ein recht guter Priester sei; sein Gesicht war grau und trübe, er sah unsauber und verstört aus. So verstört aber, daß man auf völligen, dauernden Zwiespalt in seinem Innern hätte schließen können, war er gewiß nicht. Es muß Priester geben, die sich viel weiter als er von der unbedingten Unterwerfung unter einen kindlichen Glauben entfernt haben; Priester, die ihre Pflichten systematisch vernachlässigen, die zur Unzeit oder übermäßig trinken und rauchen, die Unredlichkeiten begangen haben oder immerfort begehen, die Mätressen halten und Intrigen spinnen. Hier in Südfrankreich wird viel über die Haushälterinnen der Geistlichen gescherzt. Ein stämmiger Kerl im Gebirge lebt fast öffentlich mit einer Frau, die seine Mätresse war oder noch ist, zeigt sich tagaus tagein mit ihr und gilt als Vater ihres Sohnes. Das Innenleben solcher Priester reizt meine Wißbegier in stärkstem Maße.
Ich halte es für unwahrscheinlich, daß viele unter diesen sündigen Priestern Ungläubige sind. Ich stelle mir vor, daß ein seltsamer Wirrwarr in ihrem Geiste herrscht, daß da ein Dickicht von Unklarheit besteht, hinter dem sie sich nach Belieben vor Gott dem Allwissenden verbergen. Offenbar sind sie bemüht, nicht allzu gründlich an ihn zu denken. Trotzdem kann das Gefühl, daß der Spürhund des Himmels auf ihrer Fährte ist, sie nicht ganz verlassen. Wahrscheinlich finden sie Trost in einer übertriebenen Vorstellung von seiner Gnade oder in der Ausgestaltung des phantastisch-kindischen Glaubens an einen vermittelnden Heiligen, einen Heiligen, der fast so etwas wie ein Helfershelfer oder Anstifter zur Sünde ist. Der gute heilige Antonius wird die Sache schon ins reine bringen. Die heilige Jungfrau ist voll der Liebe und des Mitleids. Gott ist zwar allwissend, manches aber entgeht ihm doch.
Das menschliche Gemüt ist verwickelt und einfältig zugleich. Durch die Zugehörigkeit zu einer großen Organisation wie die katholische Kirche, die dauernd um ihren Bestand und um Vermehrung ihrer Macht kämpft, werden Parteigeist und Überheblichkeit gezüchtet. Selbst ein schwer sündiger Priester wird immer noch das Gefühl haben, daß er bei Gott und Gott bei ihm stehe. Verglichen mit einem Protestanten oder gar einem Skeptiker, wie ich einer bin, wird er sich unschwer ein Streiter Gottes dünken und infolgedessen etwas wie ein Vorrecht auf ihn zu besitzen glauben. Und selbst wenn ihm ein schlaues Versteckenspielen mit Gott dem Allwissenden längst zur Gewohnheit geworden ist und keine ehrliche Treue mehr in ihm lebt, wird er doch noch weit davon entfernt sein, Gott zu leugnen.
Ich kann mir nichts Schrecklicheres vorstellen als die Lage eines Priesters, der seinen Glauben wirklich verloren hat und diese Tatsache bekannt werden läßt. Entsetzliche Schwierigkeiten stehen ihm bevor, Maßregelungen, Verhöre, innere Kämpfe mit der noch tief in ihm wurzelnden Gewohnheit der Unterwerfung; und schließlich wird er in eine ihm fremde, weite, wilde, stürmische Welt voll der Wechselfälle und unbekannten Gefahren hinausgestoßen. Er kennt die Gepflogenheiten der Menschen nicht; sie essen anders als er, kleiden sich anders, ja, waschen sich sogar in einer ihm ungewohnten Weise. Sein einziger Besitz ist seine armselige und kaum verwertbare Bildung. Seine Familie hat er verlassen, als er Priester wurde, und nun hat er keine Freunde, keinen Kreis, dem er angehört. Für eine große Gruppe von Menschen, für die Gemeinschaft, die ihm am nächsten steht, weil er sie am besten kennt, ist er fortan ein Gezeichneter. Bei allen übrigen wird er als Querkopf gelten. Ich kenne den Marktpreis eines seiner Würde entkleideten Priesters nicht, doch wenn er nicht irgend ein besonderes Talent hat, gehört er bestimmt zu den wohlfeilsten unter allen Obdachlosen. Wer gibt ihm Arbeit?
So kann ich es nur zu gut verstehen, wenn mancher arme Teufel, der, Auflehnung im Herzen, der Kirche entrinnen möchte, die große Welt, in der wir heute leben, angstvoll betrachtet, die Schönheit ihrer Weite und ihrer Freiheit empfindet, den lockenden Ruf ihres reicheren Lebens vernimmt und dennoch schaudernd und eilends in die bedrückend enge, aber weniger gefahrvolle Festung des Glaubens zurückflieht und dabei, nicht ganz ehrlich vielleicht, doch aus leidenschaftlich bewegtem Herzen ein Stoßgebet murmelt: ›Ich glaube an Dich, o Herr. Hilf mir in meinem Unglauben!‹
Die innere Geschichte zahlreicher Nicht-Katholiken muß – bei etwas weniger lebhaften Kontrasten und einem geringeren Ausmaß von Tragik – der zweifelnder Priester recht ähnlich sein; ich meine anglikanische und andere protestantische Geistliche, Lehrer, Lehrerinnen und dergleichen Personen mehr, denen durch ihren Beruf eine dauernde aktive Ausübung der Religion auferlegt ist. Außerhalb der sehr strengen und inquisitorischen Zucht der wachsamen Mutter Kirche jedoch gibt es viel mehr Ausgleichsmöglichkeiten und die Tragödie des Abfalls vom Glauben wird durch die Komödie der Ausflüchte gemildert.
Ich kann in diesen Dingen leicht unbarmherzig sein. Und bin es wohl. Ich bin niemals in die Versuchung gekommen, meine Ansichten über Religion und über Philosophie anderen oder mir selbst zu verbergen; daher ist mir innere Unredlichkeit in religiösen Dingen schwer begreiflich. Was ich glaubte und öffentlich bekannte, berührte die materielle Seite meines Alltagslebens nicht im geringsten. Ich hatte nicht einmal einen Freund, den meine Anschauungen hätten betrüben können. Das Schicksal wollte es so. Als mein Vater durch Selbstmord endete, fielen Dickon und ich aus einem zerstörten Nest, und wenn wir völlig unbeschützt dastanden, so war uns dafür auch keinerlei Zwang auferlegt. Auch der Durchschnittslaie wird in seinem freien Denken durch ein Wirrsal von Beziehungen behindert: er fürchtet, Menschen, die er liebt, zu verletzen oder andere, mit denen er sich gut zu stellen wünscht, vor den Kopf zu stoßen; er ist nicht geneigt, mit alten Gewohnheiten zu brechen und eine neue Lebensweise anzufangen; hauptsächlich aber wird ihn die Tatsache hemmen, daß, wer immer sich von alten bestehenden Glaubensgemeinden lossagt, aus einem in sich abgeschlossenen System von Institutionen in die Wildnis, ins Leere hinaustritt. Die Verneinung hat keine Schulen, keine Bräuche. Für Ehe, Geburt, Tod und Erziehung der Kinder werden in großem Ausmaße immer noch ursprünglich religiöse Richtlinien bestehen bleiben. Während der letzten hundert Jahre hat sich keine Revolution der religiösen Ansichten vollzogen, kein neues System hat das alte verdrängt, nur ein schleichender Wandel findet statt, ein Abbröckeln, eine allmähliche Befreiung. Die Menschen tauschen einer um den anderen den starken, vollkommenen Glauben gegen einen schwächlichen, unvollkommenen und verfallen schließlich in forschende Zweifel, aber es kommt kein Tag, an dem sie allesamt riefen: ›Ein neues Zeitalter hat angehoben.‹
Es hat kein neues Zeitalter angehoben.
Doch während die katholische Kirche, die so kunstvoll organisiert und so erstaunlich systematisch aufgebaut ist, im großen ganzen immer noch fest an ihrem alten Platze steht, hat der Protestantismus eine Phase der unzulänglichen Anpassung um die andere durchlaufen und wankt heute mehr als je.
Im Laufe der letzten zwei Menschenalter haben zahlreiche protestantische Lehrer wenn auch nicht gerade alten Wein in neue Schläuche gefüllt, so doch versucht, ein wenig von dem alten Wein auszugießen und so viel neuen hinzuzufüllen, als ihrer Meinung nach die Schläuche zu fassen vermochten. Die Schläuche – das waren die Pfarrhäuser, die Schulen, die Colleges; waren die Gepflogenheiten und Assoziationen; waren die altvertrauten und liebgewordenen Glaubenssätze und -artikel; die Schläuche sind alles Mögliche, sind das Um und Auf des täglichen Lebens. Ich habe es mitangesehen, wie der Protestantismus, in unverändertem oder ein wenig zurechtgestutztem Gewande, immer noch die alten Hymnen singend und in denselben Kirchenbänken sitzend, sich von der Hölle lossagte, über Natur und Bedeutung der Sünde bald dieser, bald jener Meinung war und die absonderlichsten geistigen Kunststückchen mit der heiligen Dreifaltigkeit vollführte, sie sozusagen zum Scheine verschluckte oder auf andere Weise verschwinden ließ, sie dann mit einem Male wieder ans Tageslicht brachte, indem er sie sich aus dem Kopfe oder dem Ellbogen zog, sie weithin ausbreitete, um sie gleich darauf zu einer kleinwinzigen Pille zusammenzudrehen. Nichts könnte klarer dartun, wie die Theorien und Deutungen des Lebens in Wahrheit von dem Alltagsgeschehen abhängen. Es gibt in der ganzen Enzyklopädie der christlichen Ketzereien keine einzige, die im Laufe meines Lebens nicht den Vorzug genossen hätte, von einer protestantischen Kanzel herab verübt zu werden. Die Kanzeln krachten, aber sie stürzten nicht ein. Und die auf ihnen standen, behielten ihren Platz.
Der Protestantismus war ursprünglich ein Versuch der Erneuerung und ergeht sich in immer neuen Versuchen. In jungen Jahren quälte ich mich mit Matthew Arnolds modernisiertem Sankt Paulus ab; heute macht es mir Spaß zu sehen, wie die ängstlich nach Freisinn strebende Geistlichkeit bemüht ist, in Shaws ›Blanco Posnet‹ oder ›Saint Joan‹ eine Bestätigung ihrer vorsichtigen Mißdeutung der ganz klar gefaßten alten Glaubenssätze zu finden, oder wie sie gar eine unsicher tastende Hand nach den Machenschaften der Gesundbeter oder den Spukgeschichten Conan Doyles hinüberstreckt. Ein weitherziger protestantischer Geistlicher ist der beste Widerpart bei einem nachdenklichen Nachtgespräch. Alle Dinge auf Erden und im Himmel erscheinen gleichmäßig glaubhaft und fast jedes wird zum Symbol eines anderen. In solcher Atmosphäre der Wohlgesittetheit entdecken wir, trotz der Uneinigkeit, die anfänglich herrschte, daß wir letzten Endes alle dasselbe meinen. Was dieses ›Selbe‹ ist, wird nicht definiert. Wir lassen es bei dem Satze bewenden und gehen zu Bett. Mir ist Dean Inge sehr sympathisch. Er ist ein moderner Theologe, er ist durchaus ehrlich, aber er geht Schwierigkeiten aus dem Wege, wo er nur kann. Seine Äußerungen über die unbefleckte Empfängnis sind kunstvoll dunkel gehalten, doch spricht er voll mutiger Offenheit über die Geburtenkontrolle. Seine Vorlesungen über Plotinus verraten in jedem Satz, daß er den leichten Mosel des Neu-Platonismus dem gefühlsbeschwerten Portwein des katholischen Mystizismus vorzieht. Wenn man ihn und mich einem ungeheuerlichen Geistes-Chemiker auslieferte, der uns zu Pulver zerriebe und bis ins letzte Milligramm unserer Wesensart analysierte, so würde meiner Meinung nach der eine wie der andere Bericht mit der Bemerkung enden: ›Glaube an einen lebendigen, persönlichen Gott – leichte Spuren?‹ Ich traf ihn vor einiger Zeit bei einem Diner und fand ihn ganz so, wie ich ihn mir vorgestellt hatte – eine Verkörperung des liberalen Anglikanertums, hager, aufrecht und – ein wenig farblos.
Ich weiß nicht, wie der Protestantismus enden wird. Enden aber muß er meiner Meinung nach. Ich glaube, er wird schließlich zu unumwundener Offenheit gelangen. Und wenn er erst dahin gelangt, dann wird er aufhören, eine Form des Christentums zu sein. Von der orthodoxen Kirche ist heute schon nicht viel mehr übrig als ein Vorwand für Parteigängertum auf dem Balkan. Damit mag der Völkerbund eines Tages aufräumen, und dann wird die wohlgeschulte und – verschanzte römisch-katholische Kirche das einzige Christentum auf Erden sein. An sie heranzukommen, ist viel schwerer, sie ist eine Welt für sich und sie bewahrt Millionen von Menschen davor, auch nur die leiseste Ahnung von unserem modernen Weltbild zu bekommen.