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10

Minnie starb ganz plötzlich zu Beginn des Jahres 1920. Sie starb während einer Operation, die niemand für gefährlich gehalten hatte. Sie selbst jedoch hatte, ohne mit jemandem darüber zu sprechen, ein Vorgefühl der Gefahr gehabt und etwas getan, was mir, wie nichts anderes, die wahre Beschaffenheit ihres Verhältnisses zu Dickon und der Welt, die kühle, leise Zärtlichkeit ihres Wesens offenbarte.

Sie war von Todesahnungen erfüllt. Ich glaube aber nicht, daß der Gedanke an den Tod sie quälte. Wahrscheinlich sterben Menschen, die in Zartheit leben, das Dasein nicht voll ausschöpfen, ohne große Seelenangst. Sie hatte weit mehr Sorge um Dickon als um sich selbst; sie fürchtete, daß ihr Tod ein schwerer Schlag für ihn sein werde. So schrieb sie ihm einen Brief – einen Brief, der nur im Falle ihres Todes in seine Hände gelangen sollte. Wäre sie am Leben geblieben, so würde er eben verschwunden sein, wie so vieles andere, was sie im stillen gedacht und getan haben muß. Ich las diesen Brief. Dickon hatte das Verlangen, ihn jemandem zu zeigen, und zeigte ihn mir.

Ich war nach dem Begräbnis bei ihm in Dorking. Er trat, den Brief in der Hand, zu mir in das Bücherzimmer. Man sah dem Blatte an, daß er es schon unzählige Male gelesen hatte. Er blickte mir mit kummervollen und gequälten Augen ins Gesicht.

»Billy,« sagte er, »ich möchte, daß du diesen Brief liest. Er ist von ihr. Ich bekam ihn erst, als sie schon tot war.«

Ich zauderte.

Er reichte mir den Brief. »Lies ihn«, sagte er drängend, und da er aus dem Zimmer ging, noch einmal ungeduldig: » Lies ihn

Der Brief wies feste, klare Schriftzüge auf. Er war zwar mit Bleistift, aber sichtlich ohne Hast geschrieben. In Absätzen, so daß man Minnies charakteristische kleine Überlegungspausen zu hören meinte. Er enthielt keine Ergüsse. Die Schreiberin war keiner plötzlichen Eingebung gefolgt – Minnie hatte kein Vertrauen zu plötzlichen Eingebungen. Es war ein gewandt und sorgfältig für einen bestimmten Zweck geschriebener Brief.

Mir war, als wäre Minnie wieder zum Leben erwacht. Der Brief zeigte ihr ureigenstes Wesen. Von einigen Sätzen, die mir im Gedächtnis geblieben sind, abgesehen, kann ich mich kaum an seinen Wortlaut erinnern. Ich las ihn nur ein einzigesmal. Es war eine unendlich zärtliche Liebkosung, die ihm ihre Hand, über das Grab hinausreichend, schenkte. Wie alles, was von Minnie kam, wie Minnie selbst, stand der Brief ein wenig abseits vom wirklichen, lebendigen Leben. Und deshalb war eine leise Unaufrichtigkeit in ihm. Die Unaufrichtigkeit eines Menschen, meine ich, der anscheinend nicht einmal an sein eigenes Leben und Sterben völlig glaubt. Ganz gewiß aber keinerlei egoistische Unaufrichtigkeit. Keinerlei Pose. An sich selbst schien sie überhaupt nicht gedacht zu haben. Sie schrieb kein Wort darüber, daß sie ungern vorzeitig aus dem Leben scheide. Ich glaube, soweit sie allein in Betracht kam, wäre sie fähig gewesen, mit lächelndem Munde fast, zu sagen: ›Muß ich schon gehen? Gut, ich bin bereit.‹

Doch daß Dickon in Seelennot allein zurückbleiben sollte und sie keine Möglichkeit mehr haben würde, ihn aufzurichten – ihren großen Dickon, der so heftiger Reue fähig war und so leicht ein Herzeleid unter Gewissensbissen verbarg –, das war etwas anderes. Diese Gefahr war ihr als etwas Wirkliches und Furchtbares zu Bewußtsein gekommen, und sie hatte, sie abzuwenden, getan, was sie konnte.

›Wenn ich aus diesem seltsamen und wunderbaren Dasein scheiden muß,‹ schrieb sie, ›möchte ich, daß du wissest, wie glücklich du mich gemacht hast.‹

Daß er ihrem Leben Sinn und Wert gegeben habe, war der Inhalt ihres Briefes. Nur darüber schrieb sie. Über nichts anderes.

Ich dachte daran, was alles zwischen den beiden gewesen sein mußte. Da ich jenen Brief las, merkte ich zum ersten Male, wie viel Verständnis sie für seine Wesensart gehabt hatte. Ich sah, wie gut sie ihn gekannt und wie sehr sie seine Neigung zu heftigen Gewissensbissen gefürchtet hatte. Sie schrieb nichts über Zwiste zwischen ihnen, nichts von Verzeihung seiner Fehltritte – um die sie ohne Zweifel gewußt hatte –, sondern sagte, wie reich und glücklich jede Stunde des Zusammenseins mit ihm für sie gewesen sei. Sie gedachte der Güte, des herzlichen Gefühls und der Freigebigkeit, die er ihr erwiesen hatte, und sprach von dem gemeinsamen Abenteuer ihres äußerlich so erfolgreichen Daseins. Sie erinnerte ihn an manche Zärtlichkeit, manche süße Vertraulichkeit zwischen ihnen, aus den frühen Jahren ihres Zusammenlebens zumeist, die sie gleich einem Schatz in ihrem Gedächtnis bewahrt hatte.

›Wie fröhlich wir doch miteinander waren, Dickon! Und unsere Jungen und Winnie! Welches Glück, so prächtige Geschöpfe in die Welt gesetzt zu haben! Und ihre Klugheit, ihren Lebensmut, die haben sie von dir, mein Liebster.‹

Alles müsse ein Ende haben, sagte sie, und wenn sie nun aus diesem seltsamen, schönen und schweren Dasein gehe, so bedauere sie von ganzem Herzen, ihn verlassen zu müssen, gedenke aber all des Guten, das ihr zuteil geworden, und sei froh darüber und ihm dankbar.

›Dickon, mein Liebster, sei traurig – ich weiß, daß du traurig sein wirst, mich zu verlieren; aber gräme dich nicht, lieber Dickon. Denke nicht zu viel an Dinge, die nie wirklich von Bedeutung waren; beschäftige dich nicht mit ihnen. Denke an das Leben, an mein gutes Leben mit dir, und nicht an den Tod. Denke an die Arbeit, die vor dir liegt, die großen Aufgaben, die deiner harren. Du fängst erst an, ich weiß, daß du noch vieles zu leisten hast. Ich wünschte, ich hätte deine Arbeit noch eine Weile verfolgen, hätte ein wenig länger an deiner Seite bleiben dürfen. Dickon, mein Liebster, ich danke dir, danke dir, danke dir ... Und nochmals, lieber Dickon, danke ich dir. Gott segne dich, und wenn es sein muß, lebe wohl.‹

Auf diese Art, mit solchen Worten schloß der Brief.

Dickon, stand wieder vor mir, und ich gab ihm das Blatt zurück.

»Du hast den Brief gelesen?«

Ich nickte.

»Gut ... Sag mir ein Wort ... War sie wirklich glücklich, Billy? Habe ich sie wirklich glücklich gemacht?«

»Gewiß, Dickon.«

»Wie konnte sie dann Zweifel hegen?«

»Zweifel? Worüber?«

»Über das, was ich empfinden würde. Hat sie nicht doch gedacht, ich könnte gemerkt haben, daß sie nicht – nicht immer ganz so froh und glücklich war, wie sie in diesem Briefe tapfer behauptet. Es gab Zeiten –«

»Du quälst dich.«

»Hat sie mir diesen Brief nicht geschrieben, um – Mir ist, als sage sie nur, um mich zu trösten, daß sie glücklich gewesen sei ... Sie konnte nicht weh tun. Konnte es nicht ertragen, daß jemand litt. Sie empfand etwas wie ein Grauen bei dem Gedanken, daß ein anderer Kummer oder Gewissensbisse haben könnte ...«

»Du weißt nicht, Billy, wie sie sich ins Mittel legte, wenn ich dann und wann ein wenig zu streng mit den Jungen war ...«

»Und wie besorgt sie um alte Dienstboten war. Um irgend jemanden, dem es schlecht ging. Ich könnte dir viel erzählen ... Sie sah darauf, wenn eine alte Magd Brillen brauchte. Sie fühlte es, wenn die Leute überarbeitet waren oder Kummer hatten. Immer war sie für Nachsicht und Milde ...« Er starrte mich an. »Ein Mann lebt sein ganzes Leben mit einer Frau, Billy. Ißt mit ihr, schläft neben ihr. Teilt Freud und Leid mit ihr ... Und weiß doch nicht viel von ihr. Nein, am Ende weiß er doch nicht viel von ihr.«

»Sie hat dich wirklich lieb gehabt, Dickon. Mehr als du es verdientest, mein Junge. Und du hast sie glücklich gemacht. Ich habe sie beobachtet. Sie war eine glückliche Frau, stolz auf dich, stolz auf die Möglichkeiten, die du ihr schufst, stolz auf dieses Haus und das Leben darin – und zufrieden.«

»Du weißt aber, Billy, und ich weiß es – ich bin wie die meisten Männer gewesen ...«

»Sie stand hoch über derlei Dingen, Dickon,« sagte ich, »sie blieb unberührt davon.«

»Wie oft muß ich plump und roh mit ihr gewesen sein ... Ein Mann ist ein Tölpel.«

»Sie hat es nicht so empfunden.«

»Ach!« sagte er, und dann sah ich meinen Bruder zum ersten Male im Leben weinen.

Niemals, weder in der Kindheit, noch in der Knabenzeit habe ich Tränen bei ihm gesehen, nicht einmal, als unser Vater starb. Jetzt aber verbarg er seinen Kummer nicht. »Tränen können sie nicht wieder lebendig machen«, sagte er. »Weder meine Tränen können das, noch mein Wunsch, noch meine Reue ... Nichts ... Kein einziges Wort kann mehr zu ihr dringen, keinen Augenblick mehr kann sie mir Gehör schenken ... Was könnte ich ihr aber auch sagen?«

Er ging ans Fenster und blieb dort, mir abgewandt, stehen, um sein Gesicht zu verbergen.

»Wenn ich sicher sein könnte«, sagte er. »Wenn ich es glauben könnte, daß ich sie glücklich gemacht habe!«

Es wurde ganz still, sein breiter Rücken hob sich gegen den Garten und den Himmel ab.

»Güte«, flüsterte er zum stummen Firmament empor. »Güte, Zärtlichkeit durch all die Jahre, vom Anfang bis zum Ende ... Diese stille Güte.«

Er kehrte sich um und sprach zu mir, als ob – wie soll ich es schildern? – als ob ich nicht da wäre.

»Niemand außer mir kannte sie. Niemand außer mir wußte wirklich etwas von ihr. Niemand hielt genug von ihr. Niemand hatte eine Ahnung von ihrem wahren Wesen. Ich bin durch einunddreißig Jahre ihr Mann gewesen, Billy – und habe es nicht erlebt, daß sie mich oder sich belogen hätte. Und tapfer war sie – nie habe ich sie vor etwas zurückschrecken gesehen. Ein zartes, kleines Geschöpf war sie und konnte dem Kummer ins Gesicht blicken. Konnte ihn hinnehmen, wie etwas, das man eben hinzunehmen hat. Als Dick vermißt wurde – damals im April! Drei Wochen wußten wir nichts von ihm, und kein einzigesmal gab sie sich ihrem Schmerze hin, denn sie mußte mich aufrecht halten. Eines Tages sah ich, wie bleich sie war, sonst hätte ich glauben können, sie fühlte nichts ...«

»Was für Zeiten waren das! ... Treu war sie und stark. Und ich ließ sie im Hintergrund stehen. Ließ die Welt glauben, es sei so viel nicht an ihr ...«

»Billy, es war albern von mir, daß ich den Titel annahm. Aber verstehst du nicht, wie heftig ein Mann wünschen kann, daß seine Frau geehrt werde? Auf irgend eine Art? Wenn sie jede Ehrung zurückweist! So daß er sie, halb verzweifelt, mit Flitterkram behängt. Sie ließ mich gewähren. Sie begriff ... My Lady! Eine Prinzessin war sie! Eine Prinzessin, süß und kühl wie das silberne Mondlicht ... Alle meine Tage hätte ich von Dankbarkeit erfüllt sein müssen ...«

»Ach, was nützt alles Reden?«

Er sah wieder aus dem Fenster, und mir war, als ob er aus der Dämmerung eine Antwort erwartete.

»Schweigen«, sagte er endlich.


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