Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Wäre ich jemals in meiner Zuneigung zu meinem Vater schwankend geworden, Dickons kraftvoller und schlichter Glaube hätte mich gestützt. Als ich Dickon die Geschichte seines Endes erzählte, zeigte es sich, soweit ich mich heute erinnern kann, daß er sie zum größten Teil schon kannte. Vielleicht hatte er sie von Schulkollegen erfahren. Wie dem auch sei, jedenfalls stand seine Meinung sogleich fest. »Man machte ihn zum Sündenbock«, meinte er. »Man ließ ihn fallen.«
»Seinen Mitdirektoren ist nicht das geringste geschehen«, fuhr er fort. »Die waren zu mächtig und standen dem Hof nahe. Lord Duncomby war darunter. Und zwei andere. Wie hießen sie nur?«
»Aber sie haben sich die Taschen vollgestopft, solange es ging ... Solchen Leuten zu vertrauen!«
Das war auch meine Meinung. Unser Vater war nachlässig und gleichgültig gewesen und wurde erwischt. Aber er hatte nur getan, was alle anderen taten. »Mich werden sie nicht erwischen«, sagte Dickon, das reale Leben im Auge.
Keiner von uns glaubte, daß Vater wesentlich schlechter gewesen war als die Mehrzahl der Geschäftsleute. Es war eben eine Welt voll von Räubern.
In der er immerhin Dinge von bleibendem Wert geschaffen hatte. In London gab es viele Gebäude, an deren Errichtung er beteiligt gewesen war. Er hatte das Bild der großen Stadt verändert – er, der Verbrecher. Er hatte seinen Architekten in der verschwenderischesten Ausführung freie Hand gelassen, und seine Ideen für Arbeiterhäuser und andere neue Arten des Wohnbaues waren seiner Zeit weit vorausgeeilt. Gar manches, was ihm nichts eintrug, hat sich später als lohnend erwiesen, und obwohl seine Blütezeit in die schlechteste Periode englischer Architektur fällt, hat er nie etwas durchaus Abscheuliches geschaffen. Ich erinnere mich, wie Dickon mich eines Tages vor der wuchtigen, aber keineswegs reizlosen Fassade des Cornwall Court stillestehen hieß.
»Das hier ist eines der Clissoldschen Verbrechen, Billykins! Sie nannten ihn einen Schurken, er aber schenkte ihnen dies hier. Das ist nur eine von seinen Schöpfungen. Da könntest du lang warten, bis ein Stümper wie Lord Duncomby etwas so Neuartiges hervorbrächte!«
Von allem Anfang an sahen wir beide, beeinflußt durch Vaters Schicksal, die Welt als gesetzlos und abenteuerlich an. Darin waren wir frühreif. Kinder pflegen an Ordnung im Himmel und auf Erden zu glauben, und zwar ganz selbstverständlich, aus einem inneren Bedürfnis heraus; und viele Menschen halten lange Zeit oder selbst ihr ganzes Leben hindurch an der Meinung fest, daß den Gesetzen Gerechtigkeit und Wohlwollen zugrunde liege; daß Gesetze und Sitten wahrhaft weise und gut seien. Dies ist eine Illusion oder zumindest eine Übertreibung. Sie hat fraglos ihren Wert: sie dämmt jugendliches Übermaß ein. Wir aber konnten sie infolge unserer besonderen Umstände nicht hegen. Denn wenn wir der Ansicht zustimmten, daß das System, in dem wir lebten, ein gerechtes sei, was konnte dann unser Vater anderes sein als ein Schurke? War es aber ungerecht und zufällig, dann war er unter einem bösen Stern geboren.
In den Tagen, da wir Chislehurst verlassen und uns in Brompton selbständig gemacht hatten, war etwas ausgesprochen Raubtierhaftes in uns. Wir hatten eine recht schäbige möblierte Wohnung; das Schlafzimmer wies zwei schmale Betten auf, einen abgenützten Teppich, einen kleinen Schrank, einen eisernen Waschtisch; das Wohnzimmer besaß eine einzige Gaslampe in der Mitte; seine Bequemlichkeit wurde durch das stumme Vorhandensein eines schwarzen Klaviers beeinträchtigt, das zu entfernen unsere Wirtin sich weigerte. Weder die Tische noch die Bücherregale in dem Raume genügten unseren Bedürfnissen. Infolgedessen behinderten wir einander andauernd. Mit keinem Worte ließen wir laut werden, wie elend wir uns manchmal fühlten, wie sehr uns nach der Weite, der Freiheit und dem Selbstvertrauen der Tage von Mowbray verlangte; doch wußte jeder von uns, was in dem anderen vorging, und wenn wir über die Vergangenheit schwiegen, so sprachen wir um so mehr von unseren Zukunftsplänen. Zuweilen führten wir lange vertrauliche Gespräche miteinander, oft bis tief in die Nacht hinein, wenn der Lärm auf der Straße draußen uns nicht schlafen ließ, oder auf dem Wege ins College oder Sonntags während unserer Spaziergänge in Kensington Gardens oder auf unseren Wanderungen quer durch das riesige London. Dann redeten wir wieder tage- oder gar wochenlang überhaupt nichts Vernünftiges miteinander. Einer hielt sich den anderen mit läppischen Spitznamen und scherzhaften, albernen Schimpfworten vom Leibe, um seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Immer wieder heckten wir irgend einen phantasievollen Spaß aus – unser Lieblingsthema bildete Mr. G. – oder erfanden Geschichten über irgend eine seltsame, imaginäre Person und spannen sie endlos weiter.
Wir hatten eine geheime Welt, die wir ›Boops‹ nannten, und die zehnmal närrischer war als die wirkliche. Boops nahm an den Tagesereignissen wie auch an der Mode der Zeit auf seine Art teil. Boops feierte ein königliches Jubiläum, eröffnete eine Ausstellung, hielt Musterung über Armee und Flotte und betete zu einem Gott, der Mr. B. hieß. Nach Boops trugen wir oft und oft unseren ratlosen Verdruß über das Dasein und kamen alsbald lachend über ihn hinweg. Denn wir hatten beide ein Gefühl, als ob das Leben uns betrogen, als ob es nicht gehalten hätte, was es uns versprach.
Zu Zeiten ging uns das Zusammensein in einem allzu beengten Raume auf die Nerven. Geheime Kräfte tobten in uns und ließen den Wunsch, allein zu sein, in uns erwachen; Einsamkeit wurde zu einem dringlichen Bedürfnis, Dickon pflegte mich dann vor der Lust zu Gewalttätigkeit, die sich in ihm regte, zu warnen. »Billykins,« sagte er, »dein kleines Gesicht ist mir unerträglich. Bring es weg, bevor dir Bücher an den Kopf fliegen. Versetz' es für ein paar Tage, damit ihm nichts passiert. Verstanden?«
»Warum zum Teufel gehst du nicht selber fort«, pflegte ich wutentbrannt zu erwidern, traf aber alsbald Anstalten, mich zu entfernen. »Sieh nur, wie's draußen gießt!«
»Du bist nicht aus Zucker. Dort ist die Tür, mein Sohn.«
Da er zu jener Zeit um etwa fünfundzwanzig Pfund mehr wog als ich, konnte ich ihm nicht Gleiches mit Gleichem vergelten, wenn mich eine ähnliche Stimmung befiel. Ich ging mit meiner Arbeit in die ›Education-Library‹ des South-Kensington-Museums und blieb dort bis Torschluß um zehn Uhr, um beim Schein großer, zischender, violett glühender Bogenlampen, wie es sie nun längst nicht mehr gibt, zu lesen und zu schreiben. Dann kehrte ich nach Hause zurück, und wir legten uns feindselig schweigend zu Bett. Mitunter hatten sich die Wolken inzwischen verzogen, wir versöhnten uns wortlos und schwatzten dann bis in den grauenden Morgen hinein.
Daß Dickon immer noch nicht recht wußte, welchen Beruf er ergreifen würde, steigerte die ihm angeborene Ruhelosigkeit. Vorläufig studierte er – aber weder so angestrengt, noch mit so gutem Erfolg wie ich – und zwar Mineralogie und Bergbau. »Beim Bergbau ist immer was los«, meinte er, schien aber durchaus nicht überzeugt, daß die Arbeit auf diesem Gebiete ihm wirklich tauge. Mitunter befiel ihn wilde Auflehnung gegen die herrschende soziale Ordnung, die so lax schien, die jedoch anzugreifen so schwer und gefährlich war. Ich erinnere mich, wie er einmal im Holland Park plötzlich ausrief: »Wie, zum Teufel, sollen wir an sie herankommen? Wie, zum Teufel?«
»An wen?« fragte ich.
»An diese Häuser zum Beispiel! Schau sie dir an. Jedes kostet Tausende im Jahre. Und mir fällt kein Mittel ein, wie ich die Kerle, die da wohnen, ein wenig schröpfen könnte. Idiot und Narr, der ich bin! – ungeeignet, mich durchzusetzen. Sie stehen wie blöde, fette Schafe innerhalb eines Drahtzaunes, und ich bin ein entarteter Wolf. Schau einmal dort hinüber – diese Aufmachung! Ein Kinderwagen, zwei Kinderfrauen und ein Neufundländer. Eine teure Porzellanpuppe und ein Ball. Eine feine Wolldecke. Und all das für einen einzigen Balg! ... Du häßlicher, kleiner Wurm! Woher nimmt's dein Vater? Woher denn?«
Ich war entsetzt. Es steckte damals nicht der zehnte Teil der Geldgier in mir, die Dickon erfüllte. Ich brauchte damals kein Geld. Ein ernstliches Verlangen danach wurde erst nach meiner Verheiratung in mir lebendig. Ich war im Bann der reinen Wissenschaft, ich tauchte völlig in ihr unter, und während Dickons Arbeit fast oberflächlich war, studierte ich mit Einsetzung meiner ganzen Kraft. Ich arbeitete im ›Physical Research Laboratory‹ unter C. V. Boys, damals ein ganz junger, flachshaariger und rotbackiger Mann, manuell besonders geschickt, feinfühlig und äußerst anregend durch seine Begabung und sein rasches Auffassungsvermögen. Wieviele glänzende und bewunderungswürdige Intelligenzen haben für die Erforschung der Wissenschaft gelebt und werden noch dafür leben! Boys war zu jener Zeit der schlechteste Vortragende, den ich je gehört habe. Gelangweilt, mörderisch gelangweilt, angewidert bei dem Gedanken, eine Stunde sprechen zu müssen. Im Versuchslaboratorium aber hatte er geniale Eingebungen, er sprühte Funken, die zündeten. Man hatte mich aus der gewöhnlichen Klasse herausgenommen und mir eine Spezialarbeit unter ihm über Mineralfäden und im besonderen über Quarzfäden zugewiesen. Ich kann nicht nachdrücklich genug hervorheben, wieviel ich ihm verdanke. Er entwickelte und förderte meine angeborene Begeisterung für physikalische Forschung. Ich begann von Vorträgen zu träumen, die ich in der ›Physical Society‹ halten würde, von philosophischen Abhandlungen, von weiteren Forschungen, die unter die Oberfläche der Materie dringen sollten. Und meine Vorliebe für derartige Arbeiten verstärkten meine Abneigung gegen das Geldmachen.
Und wozu brauchte ich schließlich Geld? Ein Laboratorium stand mir zur Verfügung, ich hatte eine Wohnung und einige Pfund für die Sommerferien. Was hätte ich mir sonst noch wünschen können? Nichts – zumindest nichts, wonach ich bewußt und eingestandenermaßen verlangt hätte.
Ich versuchte Dickon meinen Standpunkt klarzumachen.
»Du träumst, Billy,« sagte Dickon, »du weißt nicht, was dir bevorsteht. Du glaubst, daß du dein Leben der Wissenschaft widmen wirst. Man wird dich das nicht tun lassen. Für den Augenblick hast du deinen stillen Winkel im College – aber niemand hat Verlangen nach Forschung, nach reiner Forschung, und daher zahlt auch niemand etwas dafür. Versuch's nur eine Weile, wenn du Lust hast. Bis du eines Tages Geld brauchen wirst, oder man dich aus dem College herauswirft, weil man deinen Platz für einen andern braucht. Das Leben ist eine große Keilerei, und du wirst mitraufen müssen. So wie du im Grunde doch geartet bist. Verlaß dich darauf.«