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14

Das Fieber, der Whisky und das Chinin, die in jener Nacht in Dickons Blut zusammenwirkten, schienen seinem Geiste größeren Schwung zu verleihen. Er verallgemeinerte ungehemmter als sonst. Seine Erörterungen über englische Angelegenheiten wurden zu einer Darlegung des schöpferischen Strebens in aller Welt. Er sah dieses Streben überall als einen Kampf zwischen dreierlei Elementen. Da waren erstens die ›neuen Menschen‹, wie er sie nannte, die Söhne des Lichts, noch unbestimmbar in ihrer Eigenart; an zweite Stelle setzte er die ›Habenden‹, die Grundbesitzer, die Gläubiger, die Finanzleute, diese Widersacher des Neuen, die die Söhne des Lichts zu umgarnen suchen; und als dritte Gruppe bezeichnete er die ›Habenichtse‹, die widerspenstige Arbeiterschaft, die nichts von alledem will, was die anderen erstreben, und nicht weiß, was sie selbst will, die essende und zeugende Menge in ihrer hemmenden Rückschrittlichkeit, ihrer starren Einspruchswut.

Wir beide waren in einem Zeitalter des raschen Fortschrittes aufgewachsen und hatten daher die Neigung entwickelt, fortschrittliche Wandlungen als die natürliche Weltordnung hinzunehmen. Nun aber begannen wir zu erkennen, daß der Ansturm des Fortschritts auch die Abwehr gesteigert, die Widerstände gestärkt hatte, die das Althergebrachte beschützten. Die Kräfte, die durch vier oder fünf Generationen hindurch das Dasein des Menschen umgestaltet und außerordentlich erweitert hatten, mochten sich am Ende in der Katastrophe des großen Krieges erschöpft haben. »Vielleicht ist es aus mit ihnen«, sagte Dickon. Dieser Gedanke war ihm verhaßt, aber er verfolgte ihn eine Weile tapfer. Überall ergriffen die Besitzenden wieder, was sie hatten fahren lassen, meinte er; und die Gläubiger erholten sich von ihrem ersten Schrecken und ihrer Verwirrung; kein Rest schöpferischer Kraft scheine vorhanden, um ihnen entgegenzuwirken.

Vielleicht befänden wir uns in einer Phase des Stillstandes, die schließlich in eine des Rückschrittes übergehen werde. Das sei möglich – jawohl, es sei immerhin möglich. Der Stillstand könne ebenso lange währen wie der Ansturm des Fortschrittes und vieles bereits Erreichte wieder zunichte machen. Die konservativen Kräfte wünschten zwar eigentlich nur stehen zu bleiben; rückwärts zu gehen seien sie ebensowenig gewillt wie vorwärts zu schreiten; doch Stillstand bedeute allemal Verfall und Verfall ziehe Zerrüttung nach sich. Eine Zeit lang war Dickon tief niedergeschlagen. In einem Organ, das nicht gebraucht wird, arte die Lebenskraft in Krebs aus, überlegte er. Verfall führe noch sicherer zu Konflikten als solch ein Übermaß an Kraft wie jenes, das zum großen Kriege geführt hatte. Und den Konflikten einer Verfallsperiode mangle es noch dazu an jedweder Größe. Der Gläubiger, der Besitzende, könne wohl eine schöpferische Revolution hintanhalten, werde aber dafür das Räuberwesen neu aufleben machen. »In Italien ist es schon so weit«, sagte Dickon. China und Indien hätten ›Zeitalter der Verwirrung‹ durchgemacht. Warum sollte es der westlichen Welt nicht ebenso ergehen? Woher wüßten wir schließlich, daß sich die Menschheit immer wieder erholen werde?

Dieser Gedankengang war zu bedrückend für Dickons Temperament. Ich habe meinen Bruder nie lange in einer durchaus pessimistischen Stimmung gesehen. Nach einer Pause sagte er, daß das wahre Zeitalter des Wiederaufbaues – an den er also doch glaubte – wohl noch Jahrhunderte lang auf sich warten lassen werde. Eine Welt, in der es keinen Fortschritt gibt – das waren ihm leere Worte. Wenn er solches äußerte, so bedeutete seine Rede nichts als eine höfliche Geste vor der Tollheit der Möglichkeiten. Schritt er nicht selbst vorwärts? ...

Er saß und starrte in die glühenden Kohlen.

Der Influenzabazillus machte sich wieder geltend.

»Solange es niemanden gibt, der den Leuten sagt, wie die Dinge stehen und was sie zu tun haben –« hob er an und brach ab.

»Wo sind die neuen Menschen, auf die wir warten? Wo werden wir die neuen Kräfte finden? Vielleicht ist dieses Land hier ein allzu konservatives, ein Land der Gläubiger. Aber – zum Beispiel – Amerika?«

Er kam auf seine stärkste Hoffnung zurück. »Northcliffe spricht von einer Reise um die Welt«, sagte er. »Ich bin neugierig, ob er sie unternehmen wird. Er scheint wie wir zu fühlen, daß eine große Wiederaufbaubewegung kommen muß. Vielleicht wird sie nicht von London und England ausgehen. Er will in anderen Ländern Umschau halten. Er spricht von einem größeren Britannien, von dem Imperium. Vielleicht hat er Recht. Wer weiß, was er finden wird, wenn er die Reise um die Welt macht. Wer weiß, was er zu finden hofft. Überall werden ihm zu Ehren Bankette gegeben werden. Man wird ihn mit Schmeicheleien überhäufen. Er wird gefeiert werden. Und wird nicht zur Besinnung kommen. Aber er hat den richtigen Instinkt. Dieser Mann, Billy, ist wie eine große einsame Wespe auf der Schaufensterscheibe eines Krämers. Sie weiß, daß es dahinter etwas gibt, aber sie vermag nicht hindurchzukommen. Er versucht einen Weg zu finden. Vielleicht wird es ihm nie gelingen.«

Es ist ihm nicht gelungen. Zwei Jahre später unternahm der arme Riese auf tönernen Füßen, dieser große, von Tatkraft erfüllte, aber doch aus Gemeinem gemachte Mann, den Dickons idealisierende Bewunderung zu einem Genie erhoben hatte, die geplante Reise um die Welt. Sie wurde in den Spalten seiner ›Times‹ mit ermüdender Breite beschrieben. Indes er von Ort zu Ort wanderte, geriet sein außerordentlicher Verstand immer stärker in Feuer und verwirrte sich mehr und mehr. Das Problem war zu groß für ihn. Er war allzu ungebildet. Er schwankte infolge einer tief in seinem Wesen begründeten Haltlosigkeit. Sein Wunsch, Großes zu vollbringen, wich bald kindischer Prahlsucht, bald irrsinnigem Argwohn. Die kleinen Leute um ihn herum flüsterten aufgeregt, suchten ihn zu besänftigen und bemühten sich, die verfahrene Angelegenheit vor den Augen der Welt so weit als möglich zu retten. Schließlich verfiel Northcliffe auf deutschem Boden, nahe der Heimat also, in hoffnungslosen Wahnsinn. Er mußte interniert werden und schied aus der Gemeinschaft der Menschen.

Ich bezweifle, daß seine Phantasie so umfassend und machtvoll gewesen ist, wie Dickon meinte. Aber ich gebe zu, daß Größe in ihm steckte, daß seine Geschichte tragisch war und sein geistiger Zusammenbruch einen Verlust für die Welt bedeutete. Auch der Meinung, daß er Kräfte verkörperte, die immer noch in starkem Maße wirksam sind, pflichte ich bei.

Von Northcliffe abschweifend, begann Dickon in fieberhafter Erregung den ganzen Erdkreis nach ›Männern von weitreichender Schöpferkraft‹, wie er sie nannte, abzusuchen. Die Welt bedürfe ihrer; die Welt sei reif für sie; die ›neuen Menschen‹ von heute seien nur die Vorläufer derer, die da kommen sollen. Diese würden, das schien ihm wesentlich, sich an eine große Hörerschaft wenden, ihre Stimme über die ganze Erde hin ertönen lassen. Solange eine Sache nicht in die breiten Massen gedrungen ist und deren Einbildungskraft fesselt, kann sie Dickons Meinung nach nicht durchgesetzt werden.

Er faßte die Möglichkeit ins Auge, daß Amerika die Führung der Menschheit ergreifen werde. Entwickelten die Amerikaner einen spezifisch amerikanischen Geist, der die ganze Welt zu umfassen imstande sein werde? In gewisser Hinsicht dächten sie großzügiger als die Europäer. In Bezug auf China und Ostasien zum Beispiel hätten die Vereinigten Staaten stets mehr Wißbegier und größeres Verständnis an den Tag gelegt, und in ihren imperialistischen Tendenzen seien sie maßvoller. Die Bedeutung eines wohlgeordneten Währungs- und Kreditsystems für das Wirtschaftsleben hätten sie längst erfaßt; darin seien sie Europa weit voraus. Lange bevor Europa auch nur ahnte, daß es so etwas wie ein Währungsproblem gäbe, hätten sie das Geldwesen zu einem Teil ihrer Politik gemacht. Trotzdem seien die Amerikaner – seicht. All ihre Tatkraft – und diese sei wahrlich groß – habe etwas Oberflächliches. Woodrow Wilson sei typisch für die uns unbegreifliche Wesensart Amerikas. Der Gedanke einer einheitlichen Regierung alles Weltgeschehens und eines allgemeinen Weltfriedens sei großartig und gehe weit über den europäischen Gesichtskreis oder das Vorstellungsvermögen europäischer Staatskunst hinaus. Man habe die Vereinigten Staaten die Welt einem neuen Zeitalter entgegenführen gesehen. Und was sei dann in Wirklichkeit gekommen? Die Vierzehn Punkte, platt und oberflächlich wie ein Zeitungsartikel.

Und kurze Zeit später sei Amerika als Gläubiger aufgetreten.

»Indes wir hier sitzen und fragen: ›Vermögen die Amerikaner Weltgeist zu entwickeln und die Führung der Welt auf sich zu nehmen?‹ – mag ein Brüderpaar, wie wir es sind, Billy, in Indianapolis oder in Chicago ausrufen: ›Warum legen die Europäer nicht eine Spur von Weltgeist an den Tag?!‹ Ich glaube, die Ideen, die uns im Kopfe spuken, gären überall in der Welt. So originell sind wir nicht, daß wir völlig abseits vom großen Haufen stünden. Was uns dahin geführt hat, wo wir heute halten, wird auch andere dahinführen. Und vor allem Amerikaner ...«

»Doch wir wissen noch nichts von ihnen. Sie öffnen den Mund nicht ...«

»Die neue Welt, die da werden will, Billy, gleicht einer großen Libelle, welche ruckweise, Stück um Stück ihre Larvenhülle abschüttelt. Sie macht einen Ruck und dann ruht sie wieder. Eben jetzt ist sie still, zittert vielleicht ein wenig, gibt aber keinen Laut von sich. Doch sie ist fast schon fertig, fast schon draußen.«

»Und bald wird sie die Flügel ausbreiten und emporschwirren«, sagte ich.

»Und dann werden wir endlich etwas von ihr erfahren.«

Er sah mich mit forschender Miene an. Ich erwiderte seinen Blick und lachte. »Du möchtest gern sicher sein.«

»Hinter dem, was deine Freunde, die Kommunisten, als ökonomische Deutung der Weltgeschichte bezeichnen, steckt allerlei«, fuhr Dickon fort. »Wenn materielle Bedürfnisse politische und soziale Formen schaffen, dann werden Großhandel und internationales Finanzwesen alsbald eine eigene Seele entwickeln, sich ihrer selbst bewußt werden und sich der Welt kundtun. Gleiche Erfahrungen müssen gleiche Ideen erzeugen. Es gibt zweifellos nicht nur in Amerika, sondern auch in Deutschland und Frankreich Menschen, die gleich uns überzeugt sind, daß ein neues Weltsystem geschaffen werden kann – geschaffen werden muß, aber gewiß nicht von selber zustande kommen wird.«

Er überlegte. »China? Japan? Indien? Sie können nicht allesamt in planlose Träumerei versunken sein. Hier sprechen zwei oder drei, dort schreibt einer. Ihre Ansichten stimmen vielleicht überein. Sicher stimmen sie überein. An jedem Tage bringt irgendeiner die neuen Ideen ein klein wenig vorwärts, klärt sie, rundet sie ab, macht sie reifer und schließlich ausführbar. Das ist der wahre Wiederaufbau. Die große Menge aber kann die neuen Ideen noch nicht vernehmen, sie dringen noch nicht bis zu ihr, sie werden noch vom Althergebrachten erstickt. Dann sagt einer das rechte Wort, eine ernstliche Anstrengung setzt ein, die Geburtswehen beginnen –«

Er hielt inne, ein wenig verwirrt über seine machtvoll anschwellende Metapher. Es ist seine Art, zu kühnen Bildern anzusetzen und dann nicht weiter zu finden.

»Dann ist die Zeit für die Geburtshelfer gekommen,« fuhr ich fort, »für die Männer der Propaganda und der Reklame. Die müssen sich dann ans Werk machen und die neue Ordnung zur Welt bringen.«

Wir füllten unsere Gläser aufs neue – in vernünftiger Mäßigkeit zu einer Hälfte aus der Karaffe, zur anderen aus dem Kessel auf dem Kamin – und sprachen immer noch weiter. Die Influenza machte unseren Körper träge, unseren Geist jedoch hell. Wir fanden kein Ende, weil wir die kleine Anstrengung scheuten, deren es bedurfte, um uns vom Feuer weg zu den heißen Wärmflaschen zu begeben, die im Bett unser harrten. Überdies war es mir höchst interessant, meinen Bruder nach vielen Jahren endlich wieder einmal seine wesentlichsten Ideen darlegen zu hören. Es war mir eine Freude festzustellen, daß er in vielem meinen eigenen Ansichten nahe gekommen war.

Die kleine Uhr auf dem Kaminsims schlug ein Uhr morgens, und Deland – wir hatten gedacht, er schlafe längst – hustete ziemlich auffallend im Korridor. Er wollte nicht zu Bett gehen, ehe er seine teuren Pfleglinge nicht in friedlichem Schlummer wußte.

Dickon erhob sich, stand in mächtiger Breite da und reckte seine sommersprossigen Fäuste.

»Dieser Whisky und unser Gespräch haben mir gut getan, Billy. Ja – der Wiederaufbau der Welt wird eine lange, schwere Arbeit sein – aber sie wird getan werden. Wenn wir dann auch längst nicht mehr leben. Die jetzige Verwirrung wird nicht ewig dauern ... Die Welt neu aufbauen – es ist eine schöne Aufgabe. Und übrigens, mein Gott! Was sollte man sonst mit dem Leben anfangen

Er ließ den Kopf hängen, und die Hände in den Taschen, stand er und starrte in das Feuer.

»Minnie. Und die Kinder verheiratet und in alle Welt zerstreut. Es ging vorbei wie ein Traum.«


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