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Gedanken sind Vatermörder. Jede Phase verschlingt und vernichtet die eben verflossene, aus der sie geboren wurde. Denken ist immer ein Prüfen und Sondern, ein Beiseiteschieben und Vergessen. Ich kann mir einzelne Aussprüche Dickons aus jenen längst vergangenen Tagen ins Gedächtnis zurückrufen, ebenso auch verschiedene meiner eigenen. Sie ragen gleich Ruinen empor und geben immerhin einigen Aufschluß über den einstigen Zustand des Bodens ringsum. In ihrer Gesamtheit aber sind die Entwicklungsstadien, die wir durchlaufen haben, verschwunden, so etwa wie man die Lage der Häuser und Grundstücke, die vor der großen Londoner Feuersbrunst die St. Pauls-Kathedrale umgaben, heute nicht mehr genau kennt.

Wir disputierten viel über Sozialismus und Individualismus, doch was ich unter jenem und Dickon unter diesem verstand, läßt sich, wie ich merke, heute kaum mehr klarlegen. Ich glaube, in mir vermengten sich Sozialismus und Leidenschaft für wissenschaftliche Arbeit miteinander; vorherrschend in dieser Mischung war mein Verständnis für die Entwicklung der Wissenschaft. Ich wüßte nicht, daß meine Ansichten sich in der Zwischenzeit wesentlich geändert hätten, aber ich bemerke, daß das, was mir damals als Sozialismus galt, heute nicht mehr so genannt werden kann. Sozialismus bedeutete für mich gewiß etwas ganz anderes als – die nicht allzu klaren – Forderungen nach einer Art von Schlaraffenland, die Mr. Ramsay MacDonald und seine Partei stellen, wenn sie nicht in Amt und Würden sind, noch weniger hatte er für mich mit den Doktrinen des Kommunismus zu tun, die ihn inzwischen überschwemmt haben. Im Grunde war mein Sozialismus kaum mehr als die Anwendung des charakteristisch wissenschaftlichen Geistes auf das menschliche Leben im allgemeinen. Ich wollte an der wunderbaren Entwicklung des Wissens teilhaben, die sauber, wohlgeordnet, kraftvoll und ohne Hast im Versuchslaboratorium vor sich geht, wollte ein würdiger Jünger der Wissenschaft sein; und von diesem Standpunkte aus war es leicht, den sozialen Kampf als etwas Unanständiges, Widersinniges und Hemmendes zu sehen und zu wünschen, die edle Offenheit und der Gemeinsinn, welche die wissenschaftliche Welt auszeichnen, würden auf alle Angelegenheiten des menschlichen Daseins ausgedehnt werden. Schon damals kam mir der soziale Kampf etwa so vor, als ob ich im Laboratorium um meine chemische Wage hätte raufen und etliche Kollegen kampfunfähig hätte machen müssen, ehe ich Gewichte und Instrumente benützen konnte. Ich fand, daß er die Aufmerksamkeit vom Wesentlichen ablenke, daß durch ihn die besten Möglichkeiten zuschanden würden. Ich überlegte nicht, wie er entstanden und ob er nicht am Ende nötig sein mochte. Nötiger vielleicht als der wissenschaftliche Prozeß. Ich klagte ihn einfach an und forderte, daß er aufhöre; privates Eigentumsrecht an Mitteln der Forschung und ökonomischen Ausbeutung schien mir ebenso unzulässig wie die Geheimmethoden der Alchimisten.

Die Möglichkeit unbehinderter Forschung, der ich das Wort sprach, war mir zuteil geworden, und zwar verdankte ich dieses Glück hauptsächlich der guten Meinung, die Boys von meinen Fähigkeiten hatte. Und eigentlich nur mit meiner Arbeit beschäftigt, verlangte ich von meinen Nebenmenschen: ›Schafft den sozialistischen Staat, den internationalen sozialistischen Staat, den sozialen Frieden und den Weltfrieden und macht der wüsten Kraftvergeudung ein Ende. Sucht nach Nahrung, nach besseren Lebensbedingungen und nach Sicherheit, wie ich auf der Suche nach Erkenntnis bin.‹ Ich dachte hauptsächlich an Schmelztiegel und Retorten, unsere Hauptwaffen gegen die dem Quarz innewohnende Eigenschaft, in kompakte, geometrische Formen überzugehen, und an das Problem, wie dieses widerspenstige Material möglichst leichtflüssig zu machen und, noch ehe es sich wieder abkühlt und erstarrt, in feine Fäden auszuziehen sei. Zu einer eingehenden Betrachtung der weit umfangreicheren und schwierigeren Aufgabe, die ich den anderen zu lösen vorschlug, nahm ich mir keine Zeit. Ich trug gelegentlich einen roten Schlips, nannte mich – innerhalb meiner vier Wände hauptsächlich – einen Sozialisten und disputierte ganze Nächte hindurch mit Dickon.

Dickons von Groll erfülltes Gemüt ließ ihn gerade die Dinge aufmerksam betrachten, die ich zu übersehen geneigt war: die Fehler, die Zufälligkeit, den Mangel an Folgerichtigkeit, die Ungerechtigkeit des Getriebes der Welt. Das Leben hatte damals weit mehr Aufreizendes für ihn, weil er mehr darin stand und in stärkerem Maße eine Kampfnatur war als ich. Bei Jünglingen bringt ein geringer Altersunterschied oft große Verschiedenheit im Temperament und Willen mit sich. Dickon war tiefer in die Dschungel eingedrungen. Überdies war er energischer und realistischer als ich, wußte mehr von den naheliegenden Dingen und kümmerte sich weniger um Entferntes.

»Du versuchst, in Utopien zu leben«, pflegte er zu sagen. »Du lebst in einem Traum und wirst mit einem harten Ruck erwachen.«

Unsere Verschiedenheit reizte ihn; er empfand die Kritik seiner Wesensart, die darin lag. Ganz unerwartet machte er mir mitunter Vorhaltungen. Den Wortlaut seiner Reden weiß ich heute nicht mehr genau, doch will ich ungefähr wiedergeben, was er zu sagen pflegte. Er saß zum Beispiel halb entkleidet auf dem Bette und versuchte seinen Sätzen größeren Nachdruck zu verleihen, indem er Kragen und Krawatte, die er in der Hand hielt drohend schwenkte.

»Du kannst nicht in einer Welt leben, die nicht existiert, Billykins; das ist's, was du nicht erfaßt. Da steckt dein Fehler. Das Dasein ist eine Keilerei und wird noch Jahrhunderte lang eine bleiben. Jeder muß selbst für sein Fortkommen sorgen, muß sich selbst um das kümmern, was ihm am Herzen liegt. Du magst noch so uneigennützige Dinge vollbringen wollen – du mußt sie allein vollbringen. Aus Liebhaberei. Doch arme Leute dürfen keine Liebhabereien haben. Ich wäre genau wie du Sozialist, wenn es einen Sozialismus gäbe. Aber man beginnt ja eben erst, sich in Gedanken damit zu beschäftigen; wirklich angehoben hat er durchaus noch nicht. Gas- und Wasserwerke sind in städtische Verwaltung übergegangen, und schon spricht man von der kommenden Flut des Sozialismus. Die kommende Flut des Sozialismus! Ein paar Fabier spielen hinter verschlossenen Türen damit. Der Privatunternehmer wird die Welt noch beherrschen, wenn wir beide längst nicht mehr leben, Billykins. Greif zu, oder du wirst leer ausgehen. Und da ich die Absicht habe, in dieser Welt zu leben und nicht in einer, die nicht existiert, bin ich Individualist. Nicht zufällig, wie du zu glauben scheinst. Sondern weil es notwendig ist. Ich bin Individualist und halte mich an das Privatunternehmen. Was auf gut deutsch heißt, daß ich den Leuten mit irgend einem hübschen Lockmittel das Geld aus der Tasche ziehen oder irgend einem anderen Abenteurer seine Beute abjagen werde. Dann bin ich unabhängig – und kann uneigennützige Arbeit leisten, wenn du willst, mich der Wissenschaft widmen oder sonst etwas tun – je nach Laune.«

Nein, all das ist zu klar, ist nur die Quintessenz seiner Reden; ist zu hart, zu bestimmt und auch zu sehr der heutigen Zeit angepaßt. Immerhin gibt es ein Bild von Dickons Wesen und kommt unseren damaligen Diskussionen ziemlich nahe. In Wirklichkeit waren jene Gespräche viel unzusammenhängender. Wir betrachteten die Dinge und suchten uns tastend einen Weg. Wir gebrauchten Schlagworte, weil uns nichts Besseres zu Gebote stand, wir machten bemerkenswerte Entdeckungen, die alsbald zu nichts zerrannen, wir verwickelten uns in Widersprüche und wurden ärgerlich. Was ich niedergeschrieben habe, ist das Wesentliche aus den Gedankengängen Dickons in geklärter Form.

Und hier fällt mir etwas auf. Bevor ich begann, mir schriftlich über die Ideen meiner Studentenzeit Rechenschaft zu geben, hatte ich geglaubt, daß ich immer noch Sozialist und Dickon Individualist sei. Nun aber, da ich diese Frage überdenke, muß ich erkennen, daß mein Sozialismus heute kaum mehr ist als eine alte Aufschrift auf einem Koffer. Sie erinnert wohl an eine wichtige Reise, hat aber für die Gegenwart keine Bedeutung mehr. Was ich hier zu schildern versuche, ist nicht mehr Sozialismus.

Wo ist heute der liberale Sozialismus der Achtziger- und Neunzigerjahre? Jener umfassende Plan, die Expansionskräfte der modernen Welt für Organisation und Aufbau zu verwerten? Er ist zu einem Schlagwort geworden, hat sich dem Denken der Zeit einverleibt und hat aufgehört, eine Bewegung und ein Kult zu sein. Nicht bloß in meinem Leben ist der Sozialismus heute nur mehr eine Erinnerung, eine gebrauchte Etikette; er ist für die ganze Welt nichts weiter mehr als eine Erinnerung. Diese Reise ist vorbei. Er ist entschwunden wie der Chartismus, der Puritanismus, der Naturalismus Rousseaus oder die Bürgertugend Robespierres. Und indem ich diese Betrachtungen anstelle, erkenne ich zum ersten Male das Wesen des Sozialismus, der übrig geblieben ist. Die Bewegung hat nicht zu einer allgemeinen Anerkennung ihrer großen Ideen geführt. Sie artete in Sektiererei aus, wich ungeduldiger Leidenschaft, gebar ein engherziges, mißgestaltetes und bösartiges Kind, den Kommunismus, und dieses Kind hat ihr den Garaus gemacht.

Ich bin ebenso wenig Kommunist, wie ich Katholik oder Konservativer bin. Nicht ich habe den Sozialismus aufgegeben, sondern der Sozialismus ist aus meiner Welt verschwunden.

Sozialist, Individualist: es wäre Zeit, daß wir diese alten Etiketten von unserem geistigen Gepäck entfernten. Sie nützen uns heute nichts mehr und können leicht unsere Absichten irreleiten.


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