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Der schöpferische Sozialismus ist verkümmert, und der Kommunismus, der eine Sabotage der Zivilisation durch die Enttäuschten bedeutet, hat sich seinen Namen und sein Erbe angemaßt. Marx hat meiner Meinung nach den ersten Anstoß zur Zerstörung des Sozialismus gegeben. Doch hätte seine Lehre keine leidenschaftlichen, ja fanatischen Anhänger gefunden, wenn sie nicht zu einem tief in der menschlichen Natur wurzelnden und weit verbreiteten Gefühle spräche. Sie spricht, glaube ich, zu dem sehr begreiflichen Haß verdienstvoller, aber sozial benachteiligter Menschen gegen jene, die anscheinend vom Schicksal bevorzugt worden sind. In einer so sehr dem Zufall unterworfenen Welt, wie es die unsere ist, kann solcher Haß nichts Seltenes sein. Ein Tier, das so rasch von Einsamkeit zu einem verbitterten Herdenleben übergegangen ist wie der Mensch, muß boshaft werden. Daher vermochte der neue marxistische Sozialismus mit seinen zuversichtlichen Dogmen, seiner Endgültigkeit, seiner Härte und seiner Rachsucht eine Intensität und Energie zu entfalten, welche die umfassenderen, erst noch tastenden und wissenschaftlichen Bestrebungen des älteren, des legitimen Sozialismus lähmten und beinahe völlig zum Stillstand brachten. Der von der Idee des Klassenkampfes besessene Kommunismus fraß den Sozialismus auf, genau wie die streitende Kirche dieser Erde, der Katholizismus nämlich mit seinen billigen Tröstungen und seinen festumrissenen Glaubenssätzen, das Christentum aufgefressen hat. Vielleicht wird dem Kommunismus ein ebenso langes Leben beschieden sein wie dem Islam, der unter allen Weltanschauungen am meisten Ähnlichkeit mit ihm hat, ebenso hart ist und ebenso heftig. Möglicherweise wird er die Moskauer Kalifen weit überdauern und anderswo zum zweiten Male fanatisch gegen eine umfassende Organisation der Welt nach modernen Gesichtspunkten ankämpfen.

Die aufbauenden Ideen aber, die den älteren Sozialismus ins Leben riefen, werden nicht verschwinden, wenn auch er selbst immer mehr verblaßt. In der natürlichen Entwicklung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens tauchen sie immer wieder auf. Sie mögen ihre Phraseologie wechseln, mögen nicht mehr in den alten Ausdrücken und unter den alten Namen erscheinen, aber sie werden bestehen bleiben. Vielleicht mußte der Sozialismus auf solche Weise sterben, um wiedergeboren werden zu können, um verbessert aufs neue zu erstehen. Heute erkenne ich, daß der liberale Sozialismus meiner Studententage zahlreiche Lücken und schwere Mängel aufzuweisen hatte. Seine leitenden Gedanken, als da sind: umsichtig organisierte Befriedigung der wesentlichsten Bedürfnisse der Menschheit, systematische Verwertung der Kräfte, die vorläufig im Kampfe um das nackte Dasein vergeudet werden, vollständige Unterbindung der Spekulation, Einschränkung des Gewinns, Abschaffung jedweder unlauteren Profitmacherei – diese grundlegenden sozialistischen Ideen sind heute lebendiger denn je. Das moderne Denken ist von ihnen durchsetzt.

Unter anderen klar zutage tretenden Unzulänglichkeiten haftet dem Sozialismus des neunzehnten Jahrhunderts insbesondere ein Mangel an: er war oder stellte sich blind gegen die Tatsache, daß ein wissenschaftlich ausgebildetes Geld- und Zahlungswesen, eine klar durchdachte, vor Machenschaften aller Art gesicherte Methode, Schulden und Forderungen abzurechnen, unerläßlich ist, wenn ein gerechtes und wirksames System der Gütererzeugung aufgerichtet werden soll. Owen dachte wohl an diese grundlegende Notwendigkeit, seine kurzsichtigeren Nachfolger aber ließen die Frage fallen. Wenn zur Zeit, da ich Sozialist war, in einer Versammlung der ›Fabian-Society‹ jemand von Geld sprach, ertönte von allen Seiten der Ruf: »Oh Gott! Der reitet das Währungssteckenpferd!« Ich habe mitangesehen, wie Sidney Webb, unser Londoner Lenin, der Frage des Geldwesens hitzig und gereizt abwinkt. Voll Verachtung schiebt er dieses Problem beiseite. Laßt uns zu vernünftigen Dingen übergehen. Morris, nach seinen ›News from Nowhere‹ zu urteilen, wünschte ohne Geld auszukommen; seine Zeitgenossen scheinen für die Verwendung einer beliebigen alten Währung gewesen zu sein. Die wissenschaftliche Behandlung einer Sache erfordert aber Genauigkeit, und das Geld, das wir heute besitzen, taugt ungefähr so zum Maßstab sozialer Verpflichtungen wie ein Regenwurm zum Längenmaß.

Ganz ebenso unbestimmt, ausweichend und zwecklos war die politische Haltung des alten Sozialismus. Die Mittel der Produktion und der Güterverteilung müßten ›verstaatlicht‹ werden, sagten die Sozialisten; fragte man sie aber, welche Art von Staat diese Aufgabe durchzuführen imstande sei, so blieben sie die Antwort schuldig. Auch dieses Problem wurde mit ärgerlicher Ungeduld beiseite geschoben. Der Sozialismus sei eine wirtschaftliche und keine politische Reform, so lautete ihr Sprüchlein. Es klingt unglaublich, aber sie scheinen tatsächlich gedacht zu haben, daß sich wirtschaftliche Gerechtigkeit und eine wirksame Verwaltung sehr wohl mit politischer Verderbtheit oder mit zwiespältigen und sinnlosen politischen Institutionen vereinigen ließen. Es sei nicht so schlimm, meinten sie; und die weisen Subalternbeamten würden vieles durchführen helfen. Man sieht: während der marxistische Sozialismus von mißzufriedenen Professoren erfunden worden ist, war der der ›Fabian Society‹ zum großen Teil das Erzeugnis hoffnungsfroher Zivilbeamter. Unterzieht man den Fabianismus einer psychoanalytischen Betrachtung, so erkennt man, daß er ebenso wenig wissenschaftlich war wie der Marxismus. Der wesentlichste Unterschied liegt darin, daß hinter dem Fabianismus ein froherer Typus Mensch steht.

Die Sozialisten meiner Studententage hatten keinerlei bestimmte Ansicht über internationale Beziehungen. Es war unbequem für die kleinen Beamten, die die Denkarbeit jenes Sozialismus zu leisten hatten, sich die Welt unter einer völlig neuartigen Zivilverwaltung vorzustellen. Also sahen sie von dieser Vorstellung lieber ab. Obzwar sie die Enteignung der meisten Leute ins Auge zu fassen pflegten, empfanden sie eine in der Gewohnheit wurzelnde Furcht, bei regierenden Personen, Politikern und der herrschenden Klasse im allgemeinen Unwillen zu erregen. Keiner der Sozialisten des neunzehnten Jahrhunderts, soweit ich sie reden gehört oder gelesen habe, war sich darüber klar, ob er national, imperialistisch, international oder sonstwie gesinnt sei. Es schauderte sie alle bei dem Worte ›Kosmopolit‹, und der Ausdruck ›Weltstaat‹ erfüllte sie mit Hohn. Sie wußten nicht einmal, ob sie Schutzzöllner oder Freihändler seien; und sie wissen es bis zum heutigen Tage nicht. Eine Arbeiterzeitung wie der ›Daily Herald‹ verurteilt in einer Spalte die Tatsache, daß Grund und Boden oder Bergwerke in privatem Besitze stehen, und verteidigt in der nächsten das ›Recht‹ irgend einer barbarischen kleinen Nation auf ihr Land und dessen Bodenschätze, so reich diese sein und so sehr die Menschheit ihrer bedürfen möge. Dem Duke of Northumberland sollen seine Kohlenbergwerke entrissen werden, Abd el Krim aber darf die Erze des Rifs behalten.

Im kleinen war die Forschungsarbeit der ›Fabian Society‹ angeblich wunderbar, handelte es sich aber um Untersuchungen umfassender Art, so legten sie eine erstaunliche Trägheit an den Tag. Sie waren alle für Verstaatlichung der Privatbetriebe, doch dachten sie nicht daran, Verfassung, Wahlmethoden und Verwaltungsbereich der Gemeinde- und Landesbezirke, denen sie den Grund und Boden, die natürlichen Hilfsquellen und den öffentlichen Dienst anvertrauen wollten, zu studieren und zu überprüfen. Wenn da nur eine erwählte Körperschaft und nicht mehr eine Gruppe von Privatpersonen regierte, waren sie vollkommen beruhigt. Die Gemeinde würde schon auf irgend eine Art und Weise irgend welche Leute wählen und diesen würden dann die braven kleinen Beamten sagen, was zu tun sei. Tatkräftige Männer sollten offenbar geduldig planen, Mittel aufwenden und sich zur Macht durchkämpfen, um diese alsdann freundlich und vertrauensvoll an die klugen und braven ›Experten‹ abzugeben, die still in den Gemeindeämtern saßen.

Der Glaube an die Notwendigkeit erwählter Körperschaften war ein Zug der Zeit. Der Sozialismus übernahm diesen Glauben – hätten seine Anhänger die Dinge besser zu Ende gedacht, so wäre das kaum geschehen. Im neunzehnten Jahrhundert nach Christi glaubte man, daß eine Wahl, irgend eine Wahl, so verkehrt sie auch durchgeführt werden mochte, unerläßlich sei, damit ein Gemeinwesen verwaltet werden könne; genau so galt im neunzehnten Jahrhundert vor Christi ein Blutopfer zur Zeit der Aussaat für unerläßlich. Es war der Aberglaube der Zeit. Heute beginnt er zu verblassen. Sobald sich das schöpferische Denken der Menschheit wieder zu bestimmten Vorschlägen durchringt, wird sich meiner Ansicht nach niemand mehr einbilden, die neuen Ideen könnten nur mit Hilfe oder unter Zustimmung gewählter Körperschaften verwirklicht werden. Die Majorität wird ausgespielt haben. Die neue Epoche der Zivilisation wird das Werk einer intelligenten Minderheit sein; sie wird sich ohne die Unterstützung der Menge, möglicherweise sogar wider deren Willen durchsetzen.

Ich bin heute mehr denn je Revolutionär. Meine revolutionäre Gesinnung steigert sich mit jedem Jahr. Ehe der gegenwärtige verworrene und sehr unsichere Gang der Welt in eine kraftvolle, umfassende, glückbringende und fortschrittliche Organisation verwandelt werden kann, müssen, so meine ich, viele gewohnheitsmäßige Widerstände besiegt und viele gesetzliche Institutionen, die sich einer wissenschaftlich aufgebauten Welt-Zivilisation nicht anzupassen vermögen, aus dem Wege geräumt werden. Die gesetzliche Geltung hemmender, wohlverschanzter alter Rechte wird abgeändert oder aufgehoben werden müssen, und das wahrscheinlich auf eine durchaus ungesetzliche Art. Niemals noch hat ein Rechtssystem von selbst, freiwillig sozusagen, einem anderen Platz gemacht. Grundlegende Veränderungen der politischen und sozialen Methoden müssen von jenen, die den Willen zu einer besseren Ordnung in sich fühlen, wenn nötig gewaltsam durchgesetzt werden. Es gibt keinen anderen Ausweg. Vielleicht wird Gewalttat vermieden werden können, doch wird überlegene Kraft am Werke sein müssen. Wenn das nicht Revolution ist, dann weiß ich nicht, was Revolution ist.

Ich glaube, der Mensch, der Kollektivmensch, wird schließlich die souveräne Unabhängigkeit irgend eines Teiles der Welt unterdrücken müssen. Er kann nicht sehr weit über den gegenwärtigen Stand der Zivilisation hinausgelangen, ehe er nicht eine allgemein gültige Währung eingeführt, die Produktion der Hauptkonsumartikel einer weltumfassenden Kontrolle unterstellt und den Weltfrieden gesichert hat – das heißt soviel wie, ehe er nicht den Weltstaat geschaffen hat. Wo es sich um Land, Bodenschätze und um die materielle Organisation der Erde handelt, muß ihm das Eigentumsrecht als eine Einrichtung von sekundärer und provisorischer Bedeutung gelten. Mit noch so viel Spitzfindigkeit lassen sich Enteignung, gegen die Einspruch erhoben wird, und Neuaufteilung von Besitz und Herrschaft nicht als gesetzliche Handlungen hinstellen. Ein Entwicklungsprozeß, der nicht Tod und Geburt in sich schließt, alten Dingen ein Ende bereitet, um mit neuen zu beginnen, wird niemals die neue Weltordnung durchsetzen, die latent heute schon in der Wissenschaft und in klar erkennbaren menschlichen Möglichkeiten lebt.

Doch wenn ich an Revolution denke, habe ich etwas ganz anderes im Sinne als den Revolutionär, der seit den Tagen der Gewalttätigkeit in Paris vor hundertdreißig und etlichen Jahren die Einbildungskraft der Menschheit beherrscht. Auch mit dem Typus des Revolutionärs, den kommunistische Plakate uns zeigen, dem Proletarier, der einem Menschenaffen gleicht und mit zerrauftem Haar, halbnackt und in heroischer Haltung improvisierte Waffen schwingend, hinter einer Barrikade aus Balken, Pflastersteinen, umgestürzten Karren, Töpfen, Pfannen und Gittern steht, weiß ich nichts anzufangen. Mir schwebt etwas durchaus anderes vor. Die wahre Revolution, die der Menschheit bevorsteht, wird von einer kleinen Minderheit intelligenter Männer und Frauen gemacht werden. Eine Elite ernster und wohlunterrichteter Geister wird heranreifen. Ehe diese Auslese sich nicht ihrer selbst bewußt wird und zur Tat schreitet, wird der Fortschritt etwas Zufälliges und Schwankendes bleiben. Die große Menge wird keinen Teil haben an dem kommenden Umsturz. Ich glaube an eine aristokratische und nicht an eine demokratische Revolution.

Nur als säubernde oder befruchtende Fluten lasse ich demokratische Revolutionen gelten. Die Menge kann wohl, wenn sie entsprechend aufgewiegelt ist, das Bestehende umstoßen, doch etwas Neues schaffen kann sie nicht.

Ich verstehe die Bestürzung, die jeden ungeduldigen Weltverbesserer befällt, wenn er unter den erfolgreichen Leuten heutzutage nach schöpferischen Kräften sucht. Die meisten von ihnen sind durch einen der Mängel, wenn nicht geradezu durch eine böse Ungerechtigkeit des verworrenen Wirtschaftslebens wohlhabend geworden und sind sich dessen unklar bewußt; sie wünschen keine Untersuchung des vielfältigen Wirrsals, das ihnen die Vorteile ihres Besitzes gebracht hat; als Klasse sind sie bereit, das schwankende Kunterbunt, das sie das ›herrschende System‹ nennen, kräftig zu verteidigen. Aber es gibt Ausnahmen inmitten des Konservatismus der Wohlhabenden. Viele dieser Ausnahmen sind selbst wißbegierig oder haben mindestens Interesse an der Forschertätigkeit anderer und wenden ihre Mittel der Wissenschaft zu; viele werden, gleich mir, von den armseligen Vergnügungen, dem schalen Prunk und allen Annehmlichkeiten, die die Wohlhabenheit erkaufen kann, maßlos angeödet; und in vielen ist ein wahrhaft uneigennütziger schöpferischer Trieb lebendig. Von der Vermehrung dieser Ausnahmetypen und der Zunahme abenteuerfrohen Forschungsgeistes innerhalb der Klasse der Wohlhabenden erhoffe ich eine Beschleunigung des sozialen und wirtschaftlichen Fortschrittes, die schließlich zu einer neuen und schöneren Weltordnung führen wird. Wenn die Idee des Klassenkampfes stichhält, wenn freiere Individuen notwendigerweise weniger sozial gestimmt sind als enttäuschte und gehemmte, dann hat die Menschheit nichts zu hoffen.

Zweifellos leidet die Allgemeinheit heute noch schwer unter einer Schar lästiger Gläubiger, gierig schmarotzender Spekulanten und unproduktiver Individuen im allgemeinen, doch hat das soziale Leben, seit es anhob, solch eine Last selbstsüchtigen und hemmenden Reichtums gehabt. Ich glaube nicht, daß die Last heute verhältnismäßig größer ist als vor zweihundert Jahren. Ich glaube vielmehr, daß sie sich verringert hat. Auch sind die Reichen heute weniger stolz und zuversichtlich. Man lese einen beliebigen Roman aus dem achtzehnten Jahrhundert und man wird merken, daß die soziale Haltung der Reichen besser geworden ist. Es hat keinen Sinn, sich zornerfüllt an Elendsquartiere, Werkstätten, Bergwerke, Güterbahnhöfe, Docks, Zwischendecke und Gefängnisse oder Institutionen zur Reorganisation der Gesellschaft zu wenden, bloß weil schöpferische Ideen, die kaum ein Jahrhundert alt sind, bei den vom Schicksal begünstigten Klassen vorläufig noch keinen oder nur sehr geringen Anklang finden.

Es ist wahr, die meisten Menschen führen heute ein unsicheres, angsterfülltes, beschränktes, mühseliges, verkümmertes, unfruchtbares und im allgemeinen unglückliches Leben; und da kann nur durch wirtschaftliche Ordnung Abhilfe geschaffen werden. Doch aus der Tatsache, daß Scharen schwer arbeitender und bedürftiger Menschen elend dahinleben, folgt durchaus nicht, daß sie die schwierigen Neuerungen durchzuführen vermögen, durch die allein die Menschheit frei und glücklich werden kann. Es folgt daraus nicht einmal, daß sie ihre und der Menschheit wahre Befreier zu erkennen vermögen. Sie neigen mit allem Recht zu Mißzufriedenheit, und viele unter ihnen, die lebhaften Geistes sind, werden von der Idee eines Klassenkampfes angezogen, doch bezweifle ich, daß sie diesen Klassenkampf anders denn als einen Racheakt auffassen. Nicht eine bessere Ordnung fordern sie, sondern – man denke an den Haß der Kommunisten gegen die Kleinbürger – boshafte Repressalien an der ein wenig glücklicheren Klasse, die in unmittelbarer und daher aufreizender Berührung mit ihnen steht. Das Schrecklichste an ihrer Lage ist, daß sie nicht imstande sind, sich eine bessere Ordnung vorzustellen. Sie wollen keine Veränderung; sie wollen nur eine Umkehrung des Standes der Dinge. Sie sind in einer rohen und häßlichen Lebensform aufgewachsen; sobald ihnen die Widerwärtigkeit ihres Daseins zum Bewußtsein kommt, wird das Verlangen in ihnen rege, alle Welt in die gleiche Lage zu versetzen. ›Nun sollt ihr einmal sehen, wie das tut!‹ Das wünschen sie weit mehr als eine neue Lebensform. Sie wissen instinktiv, daß eine neue Lebensform in unangenehmem Widerspruch zu tief in ihnen wurzelnden Gewohnheiten stünde.

Man mag solche Rachelust begreiflich finden, sie aber zu fördern, ist man nicht berufen. Das Gefühl, um alle Güter des Lebens betrogen worden zu sein, mag in einem hoffnungslosen Menschen so stark sein, daß Sabotage ihm Freude bereitet – ich aber habe andere Neigungen. Drei Menschenalter hindurch hat der Sozialismus unter dem Banne der marxistischen Lehre die Täuschung gehegt, daß in den Massen eine riesenhafte Fülle schöpferischer Kraft aufgespeichert liege. In der Masse als solcher liegt nichts außer einer unzuverlässigen Explosivkraft.

Die größere Revolution muß ein wohlüberlegter und kein krampfhafter Vorgang sein. Sie hat gegen die Selbstsucht und die Torheit, gegen das ererbte instinktiv Tierhafte im Menschen zu kämpfen, und zwar bei dem von Mißtrauen und Zorn erfüllten Mob sowohl als auch bei den furchtsamen, charakterlosen und gewalttätigen oberen Klassen. Sie wird unter den Gebildeten und Begabten weit mehr Anhänger finden als unter der Menge. Ebenso wie die riesenhafte Arbeit des wissenschaftlichen Fortschrittes von nur einigen tausend wenig volkstümlichen Individuen aus dem Mittelstande und der Klasse unabhängiger Menschen geleistet wird, mag die Aufgabe, die grausame und verderbliche Dschungel des menschlichen Zusammenlebens zu ordnen und zu säubern, noch etliche Generationen hindurch in den Händen einiger weniger beharrlich klardenkender Männer und Frauen verbleiben. Sie müssen hart arbeiten und geduldig sein; es bleibt ihnen nichts anderes zu tun übrig; sie dürfen weder in einer verfrühten Organisation noch in einer die Aufgabe vereinfachenden Propaganda Befriedigung suchen. Erfahrene Männer und Frauen werden es sein, die das menschliche Zusammenleben kennengelernt haben, indem sie sich darin betätigten; sie werden auf Formeln gefaßt sein, die sich nicht vereinfachen lassen, und auf unabänderlich vielfältige Probleme. Schließlich werden diese Menschen die Kraft und die Einsicht erwerben, die für eine systematische Umgestaltung der Welt erforderlich sind, und dann werden sie zur Tat schreiten. Ihre Überzeugung wird in die breiten Massen dringen. Sie werden die allgemein gültigen Begriffe vom wirtschaftlich-politischen und sozialen Leben neu formen.

Diese Revolution wird weit größere und angestrengtere Leistungen erfordern als die Errichtung von Straßenbarrikaden und den Kampf mit Maschinengewehren. Eine andere Strategie wird ihr eigen sein als die desorganisierende Tätigkeit politischer Parteien und feinere Methoden als Sabotage, die in Kellern ersonnen ward, oder Irreleitung berechtigter Unzufriedenheit. Ich sehe nicht ein, warum enttäuschte Theoretiker und unmanierliche junge Burschen sich für alle Zeit das alleinige Recht auf den vortrefflichen Namen Revolutionär anmaßen, noch warum ruhelose Ladenschwengel und moralisch minderwertige Brandstifter sich einbilden sollten, die einzige Hoffnung der Menschheit zu sein.


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