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An die Kinderzeit zurückdenken heißt, ein großes, lange vernachlässigtes Buch aufs Geratewohl öffnen und da und dort darin lesen. Viele tausend Seiten sind mir noch lebendig und frisch im Gedächtnis. Die ältesten Bilder sind am fragmentarischesten. Ein sehr früher Augenblick der Selbstentdeckung kommt mir in den Sinn: ich lag nackt auf dem Rücken und betrachtete mein Bäuchlein und meine Knie in einer Art ungläubiger Verwunderung. Es muß noch in Bexhill gewesen sein, obgleich ich den Hintergrund des Bildes vergessen habe, und ich war bestimmt nicht älter als drei Jahre.

›Bin das ich?‹ fragte ich mich.

Gebrauch und Gewohnheit haben die erste Verwunderung beim bewußten Anblick meines Körpers abgeschwächt, doch ist etwas von der ursprünglichen Ungläubigkeit immer noch in mir lebendig. Irgendwie besitze ich jenen kindlichen Körper noch heute, obgleich meine Enkel mir nicht glauben würden, wenn ich ihnen das sagte; er hat sich verändert, aber nicht so sehr, daß ich ihn nicht mehr erkennen könnte; er ist jünger als mein Gesicht; trotzdem werde ich ihn in kurzer Frist zum letzten Male sehen und ihn dann nicht mehr wahrnehmen oder empfinden können; er wird nichts mehr bedeuten, wird nichts mehr weiter sein als Material für den Leichenbestatter und das Krematorium. Und das wird wohl das Ende aller Bilder bedeuten, nichts wird dem Buche mehr hinzugefügt, nie wieder wird es geöffnet werden. Ich weiß von keiner Bodenkammer, keinem Speicher, wo der umfangreiche Band verwahrt werden würde – sei es auch nur, um zu vermodern. Er wird allem Anscheine nach verschwinden.

Diese Aussicht erfüllt mich mit ziemlich derselben Verwunderung, wie seinerzeit, vor fünfzig und etlichen Jahren, der Anblick meines kindlichen Körpers. Die kommende Auflösung ist mir sogar noch erstaunlicher als die damalige Wahrnehmung meiner Körperlichkeit.

Ich glaube, jene Entdeckung meines Körpers ist eines der frühesten Bilder in meinem Buche. Doch sind derartige Kindheitserinnerungen nicht fest und klar umrissen. Wahrscheinlich lag ich sehr häufig nackend und in Selbstbetrachtung verloren in meinem Bettchen. Ich erinnere mich, wie ich das rosige Bäuchlein und die gepolsterten Knie und Zehen als mir gehörig erkannte, und ich weiß auch, daß ich damals oder später – das kann ich nicht genau sagen – in der Mitte meines Bäuchleins einen höchst merkwürdigen und unerklärlichen Knopf entdeckte. An dieser Stelle war ich, was ich damals nicht wußte, vom Baume des Lebens losgetrennt und so zu einem selbständigen Individuum gemacht worden.

Mit der Entdeckung meines Nabels vermengt sich das Bild des Gitters meiner Bettstelle und die Erinnerung daran, wie meine Mutter einmal, am Fußende des Bettes stehend, bitterlich weinte, was mein kindliches Gemüt mit Staunen und Schrecken erfüllte. Ich glaube nicht, daß ich etwas sagte oder eine Frage stellte, und meine Mutter dachte wahrscheinlich, ich hätte ihre Tränen gar nicht bemerkt, doch sind sie mir deutlich im Gedächtnis.

Alle diese Eindrücke hat mein Geist als helle und riesenhaft große Erinnerungsbilder bewahrt. Die späteren Ereignisse meines Lebens sind, selbst bei gleicher Lebhaftigkeit, doch nicht von so überragender Größe. Dies ist, wenn ich nicht irre, eine ganz allgemeine Erscheinung; fast alle Autobiographen zeigen die Neigung, die Erfahrungen der Kindheit und Jugend ganz unverhältnismäßig breiter zu schildern als die Haupttatsachen des Lebens. Ich aber will das nicht tun; mir liegen die reiferen Beziehungen des Lebens am Herzen ...

Für eine Weile muß ich nun meine Aufzeichnungen unterbrechen. Der alte Sir Rupert York hat mich eben telephonisch angerufen. Er hat herausbekommen, daß ich in London bin, und der trostlose Regen hat ihn so traurig gemacht, daß er nicht allein bleiben mag. Er darf bei nassem Wetter nicht ausgehen, also werde ich von meinem Entschluß, mich heute nicht aus diesem Zimmer zu rühren, lassen und ihn aufsuchen, um mit ihm zu Mittag zu essen. Ich muß mich bei Madame Deland entschuldigen.


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