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Dickon zu beobachten und mit seinen Augen die Welt zu betrachten, war mitunter fast noch lehrreicher für mich, als sie auf meine eigene Art zu sehen. Er wandte sich dem Reklamewesen als einem gewinnverheißenden Betätigungsfelde zu, wie vermutlich die meisten der frühen Reklamefachmänner. Es sollte seine Methode des Geldmachens sein – auf den Gelderwerb allein kam es ihm zunächst an.
Im Laufe der Zeit aber, da seine Interessen sich ausbreiteten und er wohlhabend und einflußreich wurde, mußte er fast wider Willen die Rolle erkennen, die er und seinesgleichen bei der Umgestaltung des menschlichen Lebens spielten. Männer wie er halfen eine Synthese vollziehen, die an Stelle des zersplitterten, selbstherrlichen, vielfältigen Individualismus der frühen Zeit ein immer komplizierteres Zusammenwirken der Gesamtheit treten ließ. Er begann die Reklame immer weniger als ein Abenteuer und immer mehr als eine notwendige soziale Funktion mit besonderen Gesetzen und Regeln anzusehen.
Aus seiner Wesensart heraus hat Dickon die Lüge stets verabscheut; nicht einmal Zurückhaltung mochte er leiden, wenn sie irreführend war. Er hat sich allezeit, so sehr er nur konnte, dem Gebiete der Pillen und gesetzlich geschützten Heilmittel ferngehalten, auf welchem Lüge und Bluff eine so große Rolle spielen. Bei dem Grundsatze aber, daß eine Reklame lieber zu wenig als zu viel versprechen solle, hat er sich doch nie ganz glücklich gefühlt. Es ist wohl im wesentlichen, nicht aber bedingungslos richtig, daß Ehrlichkeit in geschäftlichen Dingen die beste Politik sei. Für einen Handelszweig im ganzen trifft es gewiß zu, nicht aber für jeden einzelnen Unternehmer, jeden zufälligen Spekulanten. Ein solcher wird sich oft genug mit schönem Gewinne davonmachen, indes sein Geschäft diskreditiert zurückbleibt.
Dickon wirkt seit dem Kriege aufs eifrigste für den Zusammenschluß der Reklamefachleute zu einer Berufsorganisation. Er hat Vorlesungen über Reklamewesen eingerichtet und Prüfungen auf diesem Gebiete ins Leben gerufen, und ich glaube, er würde die Schaffung eines besonderen akademischen Grades: ›Doktor der Reklame‹ sehr gerne sehen. Vielleicht wird es eines Tages dazu kommen. Schon vor dem Kriege beschäftigte er sich mit Plänen, die darauf abzielten, bewußte Unwahrheiten in einem Inserate wie auch im Nachrichtenteil einer Zeitung zu einem Verbrechen zu stempeln. »Wenn es ein schweres Vergehen war, daß unser Vater eine falsche Bilanz aufstellte, was doch den Leuten nur finanziellen Schaden verursachen konnte, so ist es ein weit größeres Verbrechen, irgend einer armen alten Frau zu erzählen, der Mist, den man zu verkaufen wünscht, werde ihre Rückenschmerzen heilen, und sie so um die Möglichkeit einer richtigen Behandlung ihres Nierenleidens oder Krebses zu bringen.«
»Richtige Behandlung!« rief ich. »Wodurch?«
Dickon hielt an seinem Gedankengang fest. »Es gibt Kerle, die dadurch reich werden, daß sie andere krank erhalten, – das tun sie nämlich, indem sie irrige Lehren über Krankheitssymptome und eine falsche Darstellung von der Wirkung dieses oder jenes Heilmittels verbreiten. Es ist ein Verbrechen gegen den Staat, Billy. Es füllt die Straßen mit kränklichen Leuten. Arme Mütter werden veranlaßt, ihren geliebten Kindern Dreck ohne jeden Nährwert zu geben, sodaß sie zu kümmerlichen Schwächlingen heranwachsen. So viele arme Teufel laufen in der Welt herum, weil man den Inserenten zu sagen erlaubt, ihr Dreck festige das Fleisch, fördere das Wachstum und stärke die Knochen, obwohl jede maßgebende Autorität weiß, daß dem nicht so ist. Die arme Mutter ist keine maßgebende Autorität. Wie könnte sie auch eine sein? Sie kommt zu spät auf den Schwindel. Dann nützt ihr die Einsicht nichts mehr. Und letzten Endes schadet der Unfug auch der Reklame. Ganz gewiß schadet es ihr. Die Reklameleute müssen die schwarzen Schafe unter ihnen opfern. Sie sind dazu verpflichtet. Die Reklame ist etwas viel zu Großes, als daß sie lügen dürfte. Das gesamte moderne Leben ist von ihr durchsetzt; sie ist der Ruf an die Menge. Den meisten Menschen gelten die Behauptungen eines Inserates als unbedingt zuverlässig. Und das sollten sie auch sein. Der Leser nimmt sie ganz ebenso hin wie die Nachrichten in anderen Spalten der Zeitung. Die Stimme des gedruckten Wortes ist Gottes Stimme, Billy. Für die Mehrzahl der Menschen zumindest. Und an uns ist es, darüber zu wachen, daß sie ihnen göttlich und wahrhaft erklinge.«
Ich zog die Augenbrauen hoch.
»Göttlich und wahrhaft«, wiederholte Dickon mit erhobener Stimme.
Ich erwiderte, daß man nach dem Gesetz im Falle einer Irreführung auf Schadenersatz klagen könne.
»Ach was! Wie kann ein armer Teufel eine Firma klagen, die über Unsummen verfügt? Wie sollte er das anstellen, he? Nein, die Kerle müssen auf Betreiben einer wohlorganisierten Reklame-Gesellschaft vom Staatsanwalte vor Gericht gefordert und eingesperrt werden.«
Ich war belustigt. Das Gespräch fand im Jahre 1912 oder 1913 in Dorking statt. Wir hatten Tennis gespielt und saßen auf der Terrasse oberhalb des Platzes; Dickon in einem Liegestuhl, erhitzt und voller Sommersprossen, übergesund und sehr, sehr ernst, trank einen unbekömmlichen Whisky mit Soda.
Ich brachte die alte Streitfrage seines Individualismus und meines Sozialismus vor. Was seine Rede denn bedeuten solle, forschte ich. Wo blieben seine ein Leben lang verfochtenen Grundsätze? Was er da predige, sei reiner Sozialismus. Sei nicht › caveat emptor‹ der rechte Grundsatz einer individualistischen Welt?
»Zum Teufel mit dem Individualismus!« sagte Dickon. » Caveat emptor war gut und schön bei einem Handel zwischen zwei Bauern der kleinen Welt des alten Roms. Einstmals war es ein richtiger Grundsatz, Billy, heute aber liegen die Dinge anders. Ich muß an die schwächlichen Kinder und die kranken alten Frauen denken.«