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Ich bin gestern neunundfünfzig Jahre alt geworden. In einem Jahr werde ich sechzig sein – und mich den siebenzig nähern, wie die Leute dann zu meinem Mißvergnügen sagen werden. Ich wurde im November des Jahres 1865 geboren, und nun haben wir November 1924. Die mittlere Lebensdauer in England beträgt einundfünfzigeinhalb Jahre, also bin ich bereits achteinhalb Jahre über das Durchschnittslos hinaus. Der Prozentsatz der Leute, die über sechzig alt werden, ist siebenundvierzig. Über siebenzig beträgt er dreißig. Nur einer von fünftausend lebt über hundert Jahre, und zwei Drittel dieser kleinen Schar von Hundertjährigen sind Frauen. Nach der Tabelle im ›Almanac‹ habe ich noch vierzehn Jahre und vier Monate zu leben. Diese Tabelle ist kein mathematisches Meisterwerk, kommt aber wohl der Wahrheit nahe genug, um meinem Zwecke dienen zu können.

Wenn ich diese Zahlen betrachte, kann ich mich der Tatsache nicht verschließen, daß der größte Teil meiner Jahre verstrichen ist. Bisher habe ich nur sehr wenige körperliche Anzeichen der Ebbe meines Lebens verspürt. Ich fühle nicht, daß ich anfange, alt zu werden. Vielleicht werde ich schneller müde als mit dreißig Jahren, und im Tennis bin ich nicht mehr so tüchtig und behend wie früher, meine Arterien aber, so sagen die Ärzte, sind noch jung. Wenn ich im Kursbuch nachschlagen will, muß ich mir eine Brille aufsetzen, und ein kaltes Bad macht mir kein Vergnügen mehr. Gewöhnlichen Druck jedoch kann ich bei gutem Tageslicht immer noch mit freiem Auge lesen, und wenn ich's mir recht überlege, ist mir in kaltem Wasser seit jeher der Atem ausgegangen. Ich glaube, ich habe an Leistungsfähigkeit nicht so viel verloren, als an Einsicht gewonnen. Und im allgemeinen fühle ich mich im ungeschmälerten Besitze meiner Kräfte. Die Daten und Zahlen aber lassen sich nicht wegleugnen. Sie zeigen ganz deutlich, daß ich höchstens noch zwei Jahrzehnte vor mir habe; wenn die um sind, werde ich bestenfalls ein blasser, ziemlich verschrumpelter und auf fremde Hilfe angewiesener alter Mann sein – ›wunderbar, wie frisch er noch ist‹, werden die Leute sagen. Ich weiß das, weil ich selbst es jetzt von Sir Rupert York und dem alten Hayes sage. Der größeren Wahrscheinlichkeit nach aber wird dann nichts mehr von mir übrig sein als ein Häuflein Asche und ein verblassendes Andenken.

Möglicherweise werden mir die Affendrüsen, von denen jetzt so viel die Rede ist, rechtzeitig zu Hilfe kommen; ich habe aber kein Zutrauen zu diesen Verjüngungsversuchen. Und ich wünsche mir keine Verlängerung meines Lebens, die vielleicht nichts weiter wäre als ein unerfreuliches Experiment. Wahrscheinlich werde ich noch einige Zeit ohne Hilfsmittel bei Kräften bleiben, wenn mich nicht irgend eine ernste Krankheit befällt. Nach einer solchen ist man ›alt‹, habe ich beobachtet, wenn man überhaupt davon genest.

Ich klage nicht über das Altwerden. Ich denke auch nicht dauernd daran. Doch der alljährlich wiederkehrende Geburtstag ist eine Mahnung. Und heuer hatte irgend ein Journalist mein Geburtsdatum in Erfahrung gebracht, sich aber beim Ausrechnen meines Alters geirrt, und der ›Evening Standard‹ bedachte mich mit Glückwünschen zur Vollendung meines sechzigsten Lebensjahres. Ich erschrak und stellte sofort am Rande des Zeitungsblattes die Addition nochmals auf. Einen Augenblick lang hatte ich ein Gefühl gehabt, als wäre mir aus einer ohnehin nicht sehr gefüllten Brieftasche eine Banknote abhanden gekommen.

Er hatte sich geirrt.

Heute aber hat mich eine Stimmung des Rückblickens erfaßt. Ich muß auf dem Wege nach dem geliebten Lande des Sonnenscheines, nach der Provence, einige Tage in London verweilen und bin ganz allein. Draußen herrscht nicht so sehr Tag als vielmehr ein von trübem Licht erfüllter Zeitraum, ein verworrenes, feuchtes und schmutziges Stück vierter Dimension zwischen zwei Nächten. Es regnet, bald in feinem Rieseln, bald in heftigen Güssen; dazwischen Nebelfallen ohne Unterlaß. Die Läden sind erleuchtet, auch aus den Fenstern scheinen Lichter, von oben her fällt ein mißfarbener grauer Schimmer herunter, den man wohl als Tageslicht gelten lassen muß. Nasse Omnibusse, nasse Taxis und Privatwagen fahren schwerfällig und spritzend vorüber, auch einige widerwillige Fußgänger unter nassen Regenschirmen sind zu sehen. Alles schimmert fettig im Regen, wie der schuppige Rücken eines Tümmlers. Welch ein Klima! Und von dieser unerträglichen Stadt wird behauptet, sie sei die gesündeste der Welt. Dem Himmel sei Dank! Ich verlasse sie morgen.

Ich wage mich heute nicht aus dem Zimmer. Jedenfalls werde ich mein Mittagessen zu Hause einnehmen. Ich bin in der vortrefflichen Wohnung meines Bruders abgestiegen, in der ein französisches Ehepaar die Wirtschaft führt und englische Behaglichkeit mit französischer Kochkunst verbindet. Kein Wunder, daß der alte Dickon an Wohlbeleibtheit zunimmt. Jetzt ist er in Brüssel und wird dort wahrscheinlich, ohne es zu merken, noch dicker. Er möchte nicht gern dicker werden. Er speist dort mit den Mitgliedern einer merkwürdigen kleinen Gesellschaft, deren Zweck die Finanzierung wissenschaftlicher Unternehmungen ist. Er ist einer der Gründer dieser Gesellschaft. Mehr weiß ich nicht über seine Geschäfte in Brüssel. Dann reist er nach Deutschland weiter, wo er ebenfalls finanzielle Pläne verfolgt. Er entwickelt eine wunderbare Tatkraft und Emsigkeit in Sachen, die er einmal aufgegriffen hat – dabei ist er fast drei Jahre älter als ich. Seine Unternehmungen sind sehr einträglich. Kein Wunder, daß er hier einen behaglichen Ruhesitz nötig hat. Nach seiner Wohnung könnte man schließen, daß er ein sehr seßhafter Mensch sei. In mir zumindest erwecken diese gemütlichen Räume Lust zur Seßhaftigkeit. Aber selbst seine Seßhaftigkeit hat etwas Zielbewußtes und Kräftiges. Dieses Zimmer vor allem und sein Schreibtisch und der Sessel davor verlocken einen, nicht auszugehen. Ganz besonders heute.

Vor mir liegen gute, große Bogen Papiers und Schreibfedern. Alles lädt zum Schreiben ein. Das Licht der Lampe ist vortrefflich abgedämpft. Warum also sollte ich nicht schreiben und den ungeheuerlichen Schnupfen, den tintigen Katarrh eines Klimas vergessen, der gegen die Fensterscheiben spuckt?


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