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Der Naturforscher Philip Henry Gosse verstand es, seinen Glauben und seine wissenschaftlichen Erkenntnisse höchst sinnreich und ganz reizend miteinander zu vereinen. Vor zehn oder zwölf Jahren las ich das kleine Meisterwerk seines Sohnes, des verehrungswürdigen Kritikers und Dichters, das den Titel ›Father and Son‹ trägt; dabei kam mir ein mit fein kolorierten Tafeln geschmücktes Buch über Pflanzen und Tiere der Küste in den Sinn, das ich dereinst in der Bibliothek von Mowbray aufgestöbert hatte. Als Sir Edmund Gosse, der Sohn, ein kleiner Junge war, pflegte er, wie er uns in dem oben genannten kleinen Buche erzählt, auf einem hohen Stuhle sitzend, Zeichnungen von See-Anemonen, Seeraupen, Nacktkiemern und so weiter für die Werke des Vaters zu kolorieren. Ich bin kein Sammler, doch war ich eine Zeit lang in meiner unsystematischen Art auf der Suche nach den Büchern von P. H. Gosse, sie sind heute selten und teuer, und ich las alles von ihm, was ich auftreiben konnte. So lernte ich die vollkommenste Verteidigung einer wörtlichen Auslegung des ersten Kapitels der Genesis kennen, die je geschrieben worden ist.
Gosse, der Vater, führte ein einfaches, strenges und religiös erhobenes Leben und war dabei – auf seine Weise – glücklich. Er gehörte der Gemeinde der Plymouth Brethren an, deren Lehre sich auf die Bibel stützt, das heißt auf den restlosen Glauben an eine buchstäbliche Auslegung der englischen Bibel. Wenn seine Lebensweise nicht von Grund aus erschüttert werden sollte, so mußte er beruhigt und unbedingt an der Überzeugung festhalten dürfen, daß die Welt im Jahre 4004 vor Christo erschaffen worden sei und das erste Menschenpaar in dem in Mesopotamien gelegenen Garten Eden gelebt habe, wo es in kürzester Frist in Ungehorsam und Sünde verfiel. Gosse war aber Naturforscher und als solcher wußte er um Fossilien und geologische Schichtung; er konnte sein Ohr der zeitgenössischen Kontroverse über Evolution nicht verschließen, er mußte erkennen, daß ein riesenhaftes Beweismaterial für eine ungeheuer lange Vergangenheit der Welt und des Lebens zeugte. Ein oberflächlicher Geist hätte sich in einem hoffnungslosen Dilemma befunden; ein Katholik hätte die Naturwissenschaft als eine Erfindung des Teufels geflohen und bei der Autorität der Kirche Schutz gesucht; Gosse aber verzweifelte weder, noch gab er den Kampf auf. Eine Zeit lang mag er gebetet und mit der schwierigen Frage gerungen haben; schließlich aber löste er sie, klaren Geistes, einfach und völlig – auf echt protestantische Art.
Man bedenke, argumentierte er, unter welchen Bedingungen ein Universum wie das unsere erschaffen werden kann. Es muß allsogleich in seinem ganzen Umfange dastehen, in vollem Betrieb sozusagen; anders ist es undenkbar. Im Augenblicke der Schöpfung muß Honig für den Schmetterling da sein und Gras für das Rotwild. Für den Specht muß der Baum samt Blättern, Früchten, Rinde und Insektenlarven bereitstehen. Nun stelle man sich diesen Baum einmal vor: er muß einen Stamm von der gleichen Beschaffenheit haben wie fortan alle Bäume. Der Schöpfer kann nicht zu wohlfeilen Notbehelfen gegriffen haben; denn was er erschafft, ist vollkommen. Also kann der erste Baumstamm weder flach wie die Bäume einer Theaterkulisse gewesen sein, noch aus breiigem Gips oder aus Marzipan bestanden haben; er muß vielmehr die normale Struktur eines Baumes gehabt haben, was bedeutet, daß er auch Jahresringe aufwies. Was sollten die dem Specht nötigen Insektenlarven in einem Baume aus Gips anfangen? Doch jeder Jahresring deutet naturgemäß auf ein Jahr des Wachstums, des Bestehens hin. Ein zweifelsüchtiger Narr mag daher im Augenblick seiner eigenen wie des Baumes Erschaffung erklären, der Baum sei so viele Jahre alt, wie er Jahresringe hat. Er irrt.
Dementsprechend muß jede immergrüne Pflanze im Garten Eden, als der Tau des ersten Sabbatmorgens auf sie herabfiel, Narben von Blättern aufgewiesen haben, die niemals geknospt haben. An der Wurzel jedes Sommergewächses muß die absterbende Hülse eines Samens gehangen haben, der niemals gesät worden war. Und Adam selbst muß im Augenblick der Schöpfung entweder ein unvollkommener Mensch gewesen sein – was aller Religion widerspräche – oder einen Nabel am Bauche gehabt haben, durch den er niemals mit einer Mutter verbunden war, weil er ja keine hatte. Da ferner die Tiere sogleich nach ihrer Erschaffung lebendig, modifizierbar und reproduktiv waren, wurde im selben Augenblicke die Idee ihrer Zeugung und Abstammung unvermeidlich; ihre logisch notwendigen Vorfahren wurden sozusagen über die ganze vorstellbare Vergangenheit hin projiziert. Und aus demselben Grunde wie der erste Baum Jahresringe, mußten die Felsen Fossilien aufzuweisen haben. Die Neanderthal-Knochen und die Cro-Magnon-Schädel sind daher ebenso wenig ein Beweis dafür, daß Adam Ahnen besessen hat, wie er seinen Nabel einer Mutter verdankt.
So muß es mit dem ganzen Weltall gewesen sein. Kalkstein-Berge erhoben sich, gebildet aus den Knochenüberresten von Tieren, die niemals gelebt hatten. Planeten und Sterne wirbelten aus dem Nichts hervor in Bahnen hinein, denen sie, aus Nebeln entstanden und in kosmische Nacht vergehend, schon Ewigkeiten lang hätten folgen können – wenn es so hätte sein sollen. Adam schlug die Augen auf und erblickte die Sterne, alle, in ihrer Ordnung, obgleich das Licht vieler unter ihnen Jahre braucht, um bis zur Erde zu dringen. Gott, der die Sterne erschuf, konnte auch den Lichtstrahl erschaffen. Wie hätte die Schöpfung anders vor sich gehen können? Die Hinweise auf eine riesenhafte Vergangenheit in der materiellen Welt widerlegen also die gleichzeitige Erschaffung alles Bestehenden zu einem bestimmten Zeitpunkte ebensowenig, wie der Eindruck, den wir durch zwei in einem Zimmer einander gegenüber aufgestellte Spiegel gewinnen, beweist, daß das Zimmer eine endlose Galerie ist.
Das ist logisch einwandfrei. Man könnte sogar noch einen Schritt weitergehen. Was immer ich an Beweisen für das Gegenteil vorbringen kann, ich mag im Augenblick, da ich dies schreibe, erschaffen worden sein, erschaffen mit der Trugvorstellung einer Erinnerung an Vergangenes in meinem Hirn. Oder der Leser mag, eben als er diesen Satz las, ins Dasein getreten sein.
Durch dieses meiner Meinung nach vollkommene Argument schaffte sich Philip Gosse alle lästigen Folgerungen aus dem Darwinismus vom Halse; er konnte unbehelligt an die Erschaffung der Welt und des Menschen, wie die Bibel sie schildert, glauben und an den Lehren der Plymouth Brethren festhalten, konnte sich in neue Gewissenszweifel stürzen, so oft es ihn danach gelüstete, und immer wieder im Gebete mit Gott dem Herrn ringen, und konnte trotz der gewichtigen Bürde seiner frommen Überzeugung ein ehrlicher Naturforscher bleiben und unverhohlen, ohne vor sich oder anderen Ausflüchte zu gebrauchen, am Felsgestade Fossilien und Polypen sammeln.
Er muß, so stelle ich mir vor, jenen wunderbaren Ausweg aus seinen Schwierigkeiten entdeckt haben, indes er nach der Art der Mönche vom Berge Athos in tiefes Sinnen verloren war. Offenbar brachte ihn Adams Nabel und nicht die Jahresringe der Bäume auf den rettenden Gedanken, und so nannte er sein Buch ›Omphalos‹, das heißt Nabel, und weise Leute suchen noch heutigen Tages nach den restlichen Exemplaren des Werkes, lesen sie und wissen sie zu würdigen.
Nun war aber Philip Gosse ein Mann von außerordentlicher geistiger Kraft; nur wenige Theologen können sich solcher Schärfe des Denkens und solcher Stärke im Glauben rühmen. Im naturhistorischen Museum zu London kann man Überreste aus der Höhle von Cro-Magnon, den Piltdowner Schädel und dergleichen mehr zur Schau gestellt finden, doch sind das, wie Sir Rupert mir sagte, nur sehr sorgfältig und geschickt ausgeführte Kopien. Die Originale werden wohl verschlossen im Kellergeschosse aufbewahrt, wo sie nicht nur vor Feuer und Blitz, sondern auch vor einer weit ernsteren Gefahr gesichert sind – vor der Zerstörungswut weniger intelligenter Parteigänger des Schöpfers nämlich, die ihre bedrohte Seelenruhe verteidigen wollen.