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Heute ist meine Arbeit unterbrochen worden.
Clementina hat mich überfallen. Sie trat ins Zimmer, die Arme voll von Mimosen, Iris und weißen und roten Levkojen, und verteilte ihre hübsche Last im ganzen Raum. Dann erhob sie ein großes Geschrei, weil ich nicht im Freien, im Sonnenschein zu Mittag essen wollte – der Tisch wird eben jetzt doch draußen gedeckt –, und ihr Scheusal von einem unruhigen kleinen Schoßhund jagte meine graue Katze auf die japanische Mispel hinauf. Wir schreiben den fünfzehnten Januar, und Clementina erklärt, der provenzalische Frühling habe begonnen. Das ist aber kein Grund dafür, daß sie sich als Primavera gebärdet und in meinem Arbeitszimmer Blumen über Blumen anhäuft.
»Es nützt nichts«, sagte sie. »Ich kann dich heute nicht allein lassen.« Und sie ist dageblieben, hat mir die Haare zerzaust und meine Gemütsruhe gestört.
Sie ergriff einige Seiten des Manuskriptes. »Oh! Marx!« rief sie mit einem Ausdruck des Abscheus. »Kapitalismus! Revolution!« Sie legte die Blätter hin. »Ich dachte, du schreibst deine Memoiren. Ich dachte, ich werde etwas über dich zu lesen bekommen. Ich dachte, das Buch soll von dir handeln!«
»Dieses Buch«, erwiderte ich, »ist nichts für dich.«
»Du hast mir einmal davon erzählt.«
»In einem schwachen Augenblick. Es ist schwer, nicht doch hin und wieder mit einer Frau zu sprechen, die einen so mit Beschlag belegt, wie du mich. Doch was ich sagte, stimmte nicht ganz.«
»Das merke ich. Wenn du über › Ismen‹ schreibst, tut es mir kein bißchen leid, dich gestört zu haben. Ich dachte, es sei etwas über dich selbst und darüber, wie sich die Welt in dir spiegelt. Ich dachte, ich würde eine Idee davon bekommen, wie du als junger Mann warst.«
»Ich muß eben einen Abschnitt beenden. Die Tür ist gerade hinter dir.«
»Ich gehe nicht. Ich denke nicht daran. Es ist Frühling. Und außerdem ist es fast Essenszeit.«
»Du gehst.«
Ich weiß nicht, warum ich mich so leicht mit Clementina zanke und balge. Heute mag der Frühling daran schuldig gewesen sein. Nun hat sie jedenfalls eine bessere Vorstellung davon, wie ich als junger Mann war. Sie ist schließlich besänftigt, unterworfen und einigermaßen zerzaust aus dem Zimmer hinausgedrängt worden, und ich kehre zu meiner Schreiberei zurück und sammle die Gedanken, die sie mir mit ihrem übermütigen Einbruch verscheucht hat.
Es stimmt, daß ich die letzten drei oder vier Abschnitte hauptsächlich Marx und dem Sozialismus gewidmet habe, doch bedeutet das im Grunde ebenso wenig eine Abschweifung von der Schilderung meiner Welt wie die theologischen Darlegungen im ersten Buche. Warum sollte man annehmen, daß nur das Gesicht, das Benehmen und die Liebesgeschichten den Mann ausmachen? Will man einen Mann erschöpfend schildern, so muß man mit der Erschaffung der Welt, soweit sie ihn im besonderen betrifft, beginnen und mit seinen auf die Ewigkeit gerichteten Erwartungen enden. In einer umfassenden Darstellung eines Mannes kommt zu allererst: der Mann und seine Welt, dann: der Mann und die Geschichte, und dann erst: der Mann und andere Männer und das weibliche Geschlecht. Mein Bemühen, die sozialen Konflikte um mich herum vom Standpunkte des Sozialismus aus zu erfassen, war zumindest ebenso sehr ein Teil von mir wie meine armselige kurze Ehe und die armselige halbe Scheidung, von denen ich alsbald berichten werde, und wie meine späteren Erlebnisse. Es spielte in der Gestaltung meines Lebens eine ebenso große, ja eine noch größere Rolle.
Da ich die kommunistische Idee einer Revolution verworfen und die ökonomische Auslegung der Geschichte in Frage gestellt habe, muß ich nunmehr eine mir richtiger erscheinende Version der menschlichen Entwicklungsgeschichte hiehersetzen. Ich muß darlegen, wie ich die Welt der Arbeit und des Handels auffasse, in der ich gekämpft und mich zu Freiheit und Sicherheit durchgerungen habe, und muß diese Auffassung bis zu einem gewissen Grade begründen. Jede Autobiographie muß, wenn sie nicht für einen ganz bestimmten Kreis von Lesern geschrieben ist, derart enzyklopädisch sein. Meine Augen sind astigmatisch; mein Wissen ist ohne Zweifel mangelhaft, mein Urteil unzuverlässig: umsomehr bin ich verpflichtet zu schildern, wie ich die Dinge sehe; ich darf nicht annehmen, daß ich sie auf eine absolut richtige und allgemein gültige Art sehe.
Ein Schriftsteller kann, Bescheidenheit vorschützend, umfassende Probleme abtun, indem er auf das Urteil anderer Bezug nimmt. Ist das aber wirklich Bescheidenheit? Er kann auf anerkannte Autoritäten verweisen. Er kann erklären, daß er, wo es eine anerkannte Autorität gibt, keine eigene Ansicht besitze. Er kann sagen: ›In Dingen der Religion folge ich den Lehren der heiligen katholischen Kirche‹ oder: ›In Fragen der Nationalökonomie unterwerfe ich mich der besseren Einsicht der Nationalökonomen.‹ Damit behauptet der gute Mann aber, er habe eine so vollkommene Kenntnis der Lehren seiner Kirche oder der orthodoxen Wirtschaftstheoretiker, daß er sicher sein dürfe, in allen Punkten ganz genau so zu denken wie sie. Er macht seine Kirche oder die Wissenschaft für alle seine besonderen Schlußfolgerungen verantwortlich. Zwar maßt er sich keine eigene Meinung an, sein Wissen aber hält er für außerordentlich groß.
Um sich wirklich bescheiden zu zeigen, müßte er sagen: ›Ich folge den Lehren meiner Kirche, soweit ich sie kenne und verstehe; ich bin mir meiner Beschränkungen wohl bewußt, bin sogar überzeugt, daß ich in manchem irre, aber ich tue, was ich kann.‹ Dann sollte er seine eigene mangelhafte Interpretation darlegen. ›In diesem Lichte‹, sollte er sagen, ›sehe ich die Lehre der Kirche. Das ist die bescheidene Auslegung, an welche ich mich stets gehalten habe. Ich mag mich in schwerem Irrtum befinden, aber so und nicht anders habe ich die Autorität, der ich mich unterwerfe, verstanden.‹ Nur diese seine Auslegung nämlich ist uns wichtig, nur sie erweckt unser Interesse an ihm. Welchen Sinn hätte sonst überhaupt eine Autobiographie? Daß diese oder jene Frage irgendwo eine vollkommene Lösung gefunden hat – die der Autobiograph vielleicht begreift, vielleicht aber mißversteht –, ist für sein Werk belanglos. Wir können solche Lösungen ohne seine Hilfe studieren. Wie er jedoch auf sie reagiert, das ist etwas anderes. Er hat nicht auf die vollkommene Lösung an und für sich hinzuweisen, sondern uns ihre vielleicht mangelhafte Wirkung auf seinen Geist zu zeigen.
Die nächsten zwei oder drei Abschnitte sollen die menschliche Gesellschaft als einen Arbeit-Geld-Komplex schildern, der sich aus der primitiven patriarchalischen Familie entwickelt hat. Es werden außerordentlich konzentrierte Kapitel sein müssen. Dieses Buch meines Werkes zumindest wird nicht zu leichter Lektüre für müde Leser taugen. Wenn Clementina ihre Angriffe demnächst wiederholen sollte, wird sie Erörterungen darüber finden, wie die Arbeit in die Welt kam und was das Geld für das römische Reich bedeutete. ›Wirtschaftslehre!‹ wird sie entsetzt ausrufen. Aber ohne diesen Hintergrund kann ich weder das Unglück meines Vaters, noch Dickons oder meine eigenen geschäftlichen Leistungen richtig herausarbeiten. Und was Clementina betrifft –!
Clementina hat etwas von jenen Wasserinsekten an sich, die immer an der Oberfläche bleiben. Man nennt sie Rückenschwimmer; sie schießen über das Wasser, durch die Oberflächenspannung gehalten. Clementina bewegt sich auf ähnliche Art durch die Welt. Sie behauptet, mich über alle Maßen zu lieben, und weiß nicht mehr von meinem wirklichen Ich, als der Rückenschwimmer von den Tiefen des Weihers. Und von der Welt weiß sie ebenso wenig.
Warum ist ein Geschöpf von so lebhaftem Verstande und so klugen Instinkten so oberflächlich? Warum schiebt sie gewohnheitsmäßig drei Viertel der Probleme des Daseins als uninteressant beiseite? Ist es eine Art geistiger Ökonomie? Handelt es sich um Klatsch, einen Ausflug, häusliche Angelegenheiten oder Dinge der Liebe, so legt Clementina eine rasche und durchdringende Auffassungsgabe und eine reiche und unermüdliche Intelligenz an den Tag. Sie ist scharfsinnig, ist erfinderisch. Die Gedichte, die sie schreibt, zeigen Sinn für die Dichtkunst im allgemeinen und ein lebhaftes Verständnis für einen gewissen Reiz der Dinge, das nicht erst durch andere Dichtungen erweckt worden ist. Das Rahmenwerk aber, das die Dinge umgibt und oft von größter Bedeutung ist, wird Clementina niemals beachten!
Es kommt mir eine Geschichte in den Sinn, die mir ein Bekannter vor kurzem erzählte. Er ist ein recht bedeutender Geschichtsschreiber. Eines Tages sprach einer der großen amerikanischen Filmerzeuger bei ihm vor. Das Publikum, erklärte der Besucher entschuldigend, lege in jüngster Zeit ein gewisses Interesse für Weltgeschichte an den Tag. Es sei das eine seltsame und zweifellos nur vorübergehende Geschmacksrichtung, die aber nicht übersehen werden dürfe. Ob es meinem Freunde möglich wäre, das Szenarium für eine Reihe von Filmen zu entwerfen, die in fortlaufender Folge die Geschichte der Menschheit darzustellen hätten? Die Möglichkeit eines Dollarregens wurde flüchtig, aber verlockend angedeutet.
Mein Freund erwog verschiedene Schwierigkeiten, fand aber schließlich, daß etwas der Art zu machen wäre. »Ich glaube auch, daß das Publikum sich bilden möchte«, meinte er. Der Filmmann äußerte sich sehr optimistisch über den Plan, trotzdem klang etwas wie Zweifel aus seiner Stimme. Sein Verstand lag in Konflikt mit seinen Instinkten; diese waren geübter und gewannen die Oberhand. Es entstand eine Pause im Gespräch. Offenbar gab es noch irgend eine Schwierigkeit.
»Könnte nicht irgend ein kleines Drama nebenher laufen?« meinte der Filmmann schließlich. »Die Geschichte eines Burschen und eines Mädels, irgend ein Liebeskonflikt oder eine Rachetat oder etwas dergleichen. Damit doch menschliches Interesse in das Ganze komme.«
Menschliches Interesse – in die Geschichte der Menschheit! Das Gespräch endete mit einem Mißklang.
Für Clementina gibt es offenbar kein menschliches Interesse in ökonomischen Fragen – das heißt in Fragen der Arbeit, Entlohnung, Versklavung oder Befreiung Tausender und Abertausender von Menschen. Über Geschichte hat sie ungefähr dieselbe Meinung wie der Filmmann. Geologie bedeutet ihr nichts weiter als ›alte Felsen‹, Paläontologie nichts als ›alte Knochen‹. Es ist ihr unbegreiflich, wie jemand sich für Theologie interessieren kann. Soziologie macht sie ungeduldig und bei Politik wird sie grob. Doch obwohl sie aller Eitelkeit der Welt entsagt hat, um mit mir in einem entlegenen Teile der Provence zu leben, kann sie auf unseren seltenen Ausflügen nach Cannes oder Nizza in lächelndes Nachdenken versunken vor dem Schaufenster einer Modistin stehen. Das ist ›Leben‹ für sie, Biologie jedoch nicht. In ihrer flüchtigen Betrachtungsart ist sie ein Musterbeispiel für den Durchschnittsleser allerorts, für die Menschen, die nicht danach fragen, woher sie kamen, noch wohin sie gehen, noch welchen Sinn das Leben hat. Unbekümmert gleiten sie über die Oberfläche hin und werden Rückenschwimmer bleiben, bis der Teich vertrocknet ...
Doch da fällt mir ein, daß ich Clementina unbillig lange auf das Mittagessen warten lasse. Wieviel Geduld sie zeigt! Sie sitzt unmittelbar unter meinem Fenster und hat kein einzigesmal heraufgerufen. Wahrscheinlich hat sie, erfüllt von jener nachdenklichen Ruhe, die sie zuweilen überkommt, wenn sie sich schlecht benommen hat, die roten Rüben und Oliven aufgegessen.