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Ich kann mir nur schwer ins Gedächtnis zurückrufen, welche Vorstellung wir uns damals vom Wesen unseres Vaters machten. Notwendigerweise beeinflußten sein Vergehen, sein Unglück, seine Karriere und seine Bestrafung von frühester Zeit an unser Weltbild. Dem Koloß von Rhodus vergleichbar, stand er am Beginn unserer Lebensbahn. In seinem Schatten segelten wir in die Welt hinaus. Er beherrschte uns, riesengroß, nebelhaft und rätselvoll.

Seit jener Szene in Brügge wußte ich, daß er auf eine ›furchtbare‹ Art gestorben war. Doch machte ich merkwürdigerweise jahrelang nicht den geringsten Versuch, herauszufinden, auf welche Weise er geendet hatte. Ich kann mir den Grund dieser Unterlassung kaum erklären. Da ich von seinem Tode erfuhr, war ich wohl zu jung, als daß ich hätte Erkundigungen einziehen können; und später war es mir bereits zur Gewohnheit geworden, nicht nach seinem Ende zu fragen. Nur durch Zufall stieß ich eines Tages in Chislehurst auf eine knappe Notiz in einem alten ›Whitaker-Almanac‹, die die Tragödie meines Vaters betraf. In jenen Tagen entging mir nicht leicht etwas Gedrucktes. Bei den Ereignissen des Jahres fiel mein Blick auf den Namen Clissold, und ich las am Anfang einer Spalte, zwischen einer Unzahl anderer Meldungen, in kleinem Druck: ›Clissold, der wegen Defraudation zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, hat mittels Zyankali Selbstmord begangen, als er das Tribunal verließ.‹

Das also war es! Dies war das große Geheimnis meiner Mutter.

Mein erster Gedanke war, Dickon alles zu erzählen, mein nächster aber, ihm meine Entdeckung zu verheimlichen. Denn entweder wußte er es schon und hatte es mir verschwiegen; oder er wußte nichts: dann hätte die knappe Feststellung in dem Almanach uns nur zu schmerzlichen und fruchtlosen Mutmaßungen über die Einzelheiten aufgestachelt. Gewiß würde eine Tatsache, wichtig genug, um zu den Ereignissen des Jahres gerechnet zu werden, in den Zeitungen jener Tage erörtert worden sein, überlegte ich. Und nach einigem Zögern fragte ich einen unserer Lehrer in Dulwich – er hieß Graham Wallas und wurde später ein berühmtes Mitglied der Fabian-Society und Professor der Nationalökonomie –, wie man es anzustellen habe, wenn man in alten Zeitungen etwas nachschlagen will. Er war einer unserer besten Lehrer und ein gütiger Mann, der lebhaften Anteil an allem nahm, was in seinen Klassen vorging; so war es ganz selbstverständlich, daß ich mich mit meiner schwierigen Frage gerade an ihn wandte. Er schien betroffen, als ich meine Bitte vorgebracht hatte, gewann aber sofort seine kluge Selbstbeherrschung wieder – ich nehme an, er wußte, wer ich wirklich war, und hatte erraten, was ich beabsichtigte –; er zögerte und überlegte stirnrunzelnd, indes seine gütigen braunen Augen durch die Brille über mich hinweg in die Weite starrten.

»Vielleicht ist das die beste Lösung«, meinte er.

Er könne mir im Augenblick nicht genau sagen, wie ich die Sache anzustellen hätte, – ich sei zu jung, um in das British Museum Einlaß zu finden – er werde sich aber erkundigen und mich wissen lassen, was ich zu tun hätte.

»Sie müssen die ›Times‹ lesen,« sagte er »dort werden Sie den vollständigen Tatbestand – ohne sensationelles Beiwerk, finden, über welche Angelegenheit auch immer Sie sich informieren wollen.«

Schließlich fand ich für sechs Pence Einlaß in einen geräumigen Saal des Büros der ›Times‹, wo eine Anzahl kümmerlich und verängstigt aussehender Leute in dicken Bänden blätterte, und konnte mir dort über das Vergehen und den Tod meines Vaters Klarheit schaffen.

Während ich las, tauchten längst vergessene Erinnerungen in mir auf, Erinnerungen an einen großen, gütigen Mann, der so oft ganz unvermittelt mit einem kräftigen ›Halloh, ihr Jungen‹ in meine kleine Welt getreten war und jede trübe Stimmung verscheucht hatte. Er verscheuchte die Langweile; das war seine hervorstechendste Eigenschaft. Für mich wird er immer ein Riese mit verschwommenen Gesichtszügen bleiben; meine Erinnerung an sein Antlitz ist undeutlich. Hauptsächlich entsinne ich mich seines roten Backenbarts. Meine Mutter hat alle Photographien, die es von ihm gab, vernichtet, und da zu jener Zeit die Bilder hervorragender Leute in den Zeitungen grobe Holzschnitte waren – photographische Reproduktionen für Zeitschriften existierten noch nicht –, gewann ich aus den wenigen, die ich aufstöbern konnte, nur eine jämmerlich verzerrte Vorstellung von ihm.

So bleibt er für mich eine nebelhafte Gestalt, mit rotem Backenbart, gerötetem Gesicht, einem fröhlichen Lächeln und raschen Bewegungen. Daß er ein guter Cricketspieler war, weiß ich noch genau. Und lebhaft ist mir in Erinnerung, wie er sich einmal als Weihnachtsmann verkleidete. Mitunter sang er uns Gassenhauer vor, bis meine Mutter ihn anflehte, uns nicht zu verderben. Stets dachte er auf Reisen an uns, selbst an Orten, wo ein Vater seine kleinen Jungen vergessen könnte. Er brachte uns aus Paris reizende Zinnsoldaten in ovalen Holzschachteln mit und aus Italien köstliche kleine Neger- und Indianer-Figürchen. Auch sandte er uns aus allen Teilen Europas kolorierte Ansichtskarten, auf denen Trachten, Tiere, Eisenbahnen oder Schiffe zu sehen waren. Er sorgte dafür, daß wir eine aufziehbare Eisenbahn auf Schienen aus irgend einem ihm bekannten Spezialgeschäft in Holborn unser eigen nannten. Das alles sprach beredt für ihn. Ich konnte ihn nicht für einen Bösewicht halten.

Mit geröteten Wangen und brennenden Augen saß ich im Nachschlagezimmer der ›Times‹ und las von wachsendem Verdacht, von Anzeigen, von der Insolvenz, der Verfolgung und dem Verhör, und zweifelte keinen Augenblick daran, daß er nur ein übel beratener Mensch gewesen war.

Fast wäre er entkommen. Tagelang wurde er vermißt. Er war nach Paris geflohen, hatte eine Fahrkarte nach Genf gelöst und war in Culoz verschwunden. Neun Tage später fand und verhaftete man ihn in einem kleinen, abseits gelegenen Gasthof in Biskaya. Als der Detektiv ihm zu verstehen gab, daß er erkannt und verhaftet sei, bemerkte er in munterem Ton: »Die gute alte Polizei! Möchten Sie nicht mit uns zu Mittag essen? Allerdings bekommt man nur greuliches Zeug.«

Mit uns! Er hatte die Reise in Begleitung einer Stenotypistin gemacht, die er für seine Tochter ausgab. Er hielt das, wie er sagte, für eine nettere Maskierung, als einen falschen Bart. Beim Verhör sprach die Leichtfertigkeit, mit der er diese heikle Angelegenheit behandelte, gegen ihn.

Und sein Vergehen? Das war für einen fünfzehnjährigen Burschen eine verwickelte Sache. Ich möchte die komplizierte Geschichte hier nicht erzählen. Die neuntägige Jagd, die seiner Verhaftung vorausging, verstand ich besser zu würdigen. Selbst in der so vornehmen ›Times‹ der Victorianischen Zeit – einer ›Times‹ ohne Kopfaufschriften – konnte ich den sportlichen Anstrich erkennen, den sein Verschwinden der Affäre gab, und als ich später den Fall in anderen zeitgenössischen Zeitungen verfolgte, vermochte ich mir nur zu gut vorzustellen, was für eine Zubuße an Unterhaltung diese Jagd nach meinem Vater für englische Frühstückstische gewesen sein muß. Hochgewachsene Engländer von leichten Sitten wurden in Marienbad und Stockholm verhaftet, in ganz Europa vermeinten reisende Landsleute ihn zu sehen, mitunter mehrmals an einem Tage.

Ich sah die Jagd vom Standpunkt des gejagten Wildes an. Wahrscheinlich wußte er von allem Anfang an, wie hoffnungslos seine Flucht war. Aber er hatte immer lieber einen gewagten Versuch unternommen, als sich ergeben. Da drückte er sich also in kleinen Eisenbahnstationen herum, meldete sich in Hotels unter falschem Namen, überlegte, was zum Teufel er wohl tun werde, sobald ihm das Geld ausging, und ließ wahrscheinlich seine Pseudo-Tochter bis zuletzt in dem Glauben, daß er auf einer romantischen Flucht mit ihr begriffen sei. Anscheinend verhielt er sich ihr gegenüber durchaus wie zu einer Tochter. Er wollte ihr nicht mehr schaden, als unumgänglich nötig war. Und all die Zeit muß ihn die traurige Reihe unbesonnener Fälschungen und Kniffe beschäftigt haben, die zu seinem Zusammenbruch geführt hatten. Kaum ein Jahr vorher hatte ihn nichts Schlimmeres bedroht als ein allerdings riesenhafter Bankerott. Den hätte er über sich ergehen lassen und trotzdem ein angesehener Mann in der City bleiben können. Doch er war nicht imstande, diese Niederlage, der durchaus noch nichts Unehrenhaftes angehaftet hätte, hinzunehmen; er griff zu einer kleinen Verdrehung des Tatbestandes, einem weiteren Risiko, einem Betruge, den er zu vertuschen hoffte. Bald wollte er nicht mehr bloß dem Bankerott entgehen; seine Hoffnungen wuchsen angesichts der Gefahr; und selbst als das Spiel bereits völlig verloren war, versuchte er immer noch zu siegen. Er war in seinen Manipulationen sorglos gewesen, hatte die Wachsamkeit seiner Gesellschafter unterschätzt und, wie ich glaube, zu sehr auf ihren Mut gerechnet und ihre Bereitschaft, in jedweder Lage zu ihm zu stehen.

Gegen das Ende versagte er jämmerlich. Seine letzten Machenschaften waren kaum planvoller und intelligenter als die Zuckungen eines harpunierten Walfisches. Immer tiefer glitt er von leichten Vergehungen zu schweren Verbrechen herab. Seine letzten Fälschungen waren kindisch, und bei diesen wurde er überführt.

Er machte einen vergeblichen Versuch, seine Auslieferung zu verhindern, und wurde nach England zurückgebracht. Ich stelle mir vor, daß er seinen Kummer, soweit er nur konnte, hinter einer etwas krampfhaften Munterkeit verbarg. So kam er, der eine so glänzende und meteorgleiche Erscheinung der Londoner City gewesen, dorthin zurück, stand in dem schlecht erleuchteten, dumpfen Gerichtssaal und wurde verhört und wieder verhört, zu Tode ermüdet und bloßgestellt, wurde schimpflich zerfetzt und zerrissen.

Heute ist mir klar, daß er seine Geschäfte niemals völlig ernst genommen hat. Aus einigen seiner Aussprüche während der Voruntersuchung läßt sich ersehen, wie erstaunt er war, daß ein bißchen mehr oder weniger Schlauheit in der Anwendung der üblichen Geschäftskniffe so viel bedeuten, daß er ob so geringfügiger Unterschiede als Verbrecher behandelt werden solle.

Zweimal mußte ihn der Richter, ein Mitglied seines Clubs, ein erfolgreicher, noch ziemlich junger Mann, der einst bewundernd zu ihm aufgeblickt hatte, wegen der Ungezwungenheit seines Benehmens tadeln.

Schließlich mußte er erkennen, daß er wirklich in der Falle war, daß sich die Schlinge um seinen Hals zusammenzog. Es gab eine Grenze zwischen erlaubter und unerlaubter Pfiffigkeit, eine erbärmliche Grenze; und niemand wollte verstehen, wie leicht, ja wie erfrischend und spaßhaft es gewesen war, sie zu überschreiten. Die trostlos lustige Eisenbahnfahrt mit den Detektiven, die Haft, der schmutzige Gerichtssaal, die Menschenmenge, die ihn anstarrte – das alles sollte nur das Vorspiel zu langen, trüben, öde ereignislosen Jahren im Kerker, zu einem Lebendig-Begrabensein bilden. Das stand ihm bevor. Man hatte ihn gefaßt, und das stand ihm bevor. Nun – einen rettenden Augenblick der Voraussicht hatte ihm das Schicksal immerhin geschenkt. Da war das Gift da in seiner Tasche. Er konnte es greifen. Gut!

So hielt er den Kopf hoch und antwortete bis zuletzt mit fester Stimme. Scherzte sogar ein- oder zweimal. Man lachte im Saal.

Das Nachschlagezimmer der ›Times‹ schien mir zusammenzuschrumpfen, bis es zum Warteraum eines Gerichtsgebäudes wurde; der dienstbeflissene Diener darin deuchte mich ein Gefängnisaufseher. Mir war, als stünde ich an Vaters Stelle. Und ich konnte seine Tat verstehen.

Einem jugendlichen Gemüt ist der Tod etwas Furchtbares und Schreckenerregendes, ich aber begriff. Ich sah meinen Vater vor mir, wie er sich erhob, um das Urteil zu hören, und nun dastand, ohne einen Freund, der sich zu ihm bekannt hätte, allein inmitten von Feinden und erbarmungslosen Zuschauern, und ich wünschte, er hätte damals wissen können, daß sein Sohn ihm eines Tages im Geiste und mit ganzem Fühlen dort zur Seite stehen würde – nicht als ein Verzeihender, nein, als ein Verstehender. Verzeihung für sein Vergehen wollte er gewiß nicht. Ich bin überzeugt, daß kein sinnloses Verlangen solcher Art in ihm war. Nach dem qualvoll langen Prozeß müssen Wahrspruch der Geschworenen und Urteil fast eine Erlösung gewesen sein. Der ehemalige Klubgenosse, dieser erfolgreiche Windbeutel in der altertümlichen Perücke und dem scharlachroten Talar, dünkte sich ohne Zweifel sehr erhaben, als er, an die Berichterstatter hauptsächlich gewendet, in sorgfältig vorbereiteter Rede tadelte und verdammte und schließlich ein Urteil von exemplarischer Strenge aussprach. Einige unter uns müssen ja wohl im Schlamme wühlen und das Spiel verlieren. Warum zu der Niederlage noch den Schimpf hinzufügen? Sieben Jahre Zuchthaus! Und was war danach zu erwarten? Ein mit Schande bedeckter, kümmerlicher Lebensabend. Dafür danke ich, Mylord.

Und dann?

Tat das Gift weh? Schien die Wirkung so schnell, wie wir annehmen, oder war es, als ob die Zeit stillstünde? Vergingen Augenblicke oder Minuten, bis die Kapsel sich löste, Minuten voll der Angst, ob die Wirkung überhaupt kommen werde? Und dann ein grauenhafter Schmerz, ein entsetzliches Erstarren oder ein fürchterlicher Todeskampf, aus dem noch keiner wiedergekehrt ist, um ihn zu schildern?

Dann ein dumpfer Stoß gegen eine Wand, als er zusammenstürzte, – fühlte er ihn? Und tiefes Dunkel.


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