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Wenn ich heute auf jene Zeit zurückblicke, sie aus der Perspektive unserer jetzigen Lebensauffassung betrachte, so kann ich feststellen, daß die Enttäuschung nach der Wiederaufbauperiode und die Reaktion, die darauf folgte, für Dickon wie für mich einen Wendepunkt bedeuteten; es war, als ob wir neu geboren worden oder – vielleicht noch richtiger gesagt – endlich zu Männern herangereift wären. Es fällt mir leichter, die Veränderung Dickons zu übersehen als meine eigene. In einer Zeit, da man neue Perspektiven und eine tiefere und klarere Erkenntnis der Dinge gewinnt, verdrängt die neue Lebensanschauung die alten Auffassungen so völlig, daß man seine früheren Beschränkungen vergißt. Ich erinnere mich kaum an mein eigenes früheres Selbst, wohl aber an einen Dickon vor dem Kriege, der, mit dem heutigen verglichen, unharmonisch, dogmatisch und triebhaft war. Damals nahm er die Welt als gegeben hin; als etwas Unumstößliches, woran er nicht rütteln könne. Die Mühsale, Aufregungen und Enttäuschungen der letzten zehn Jahre haben ihm Sammlung und Richtung gegeben.
Vor dem Kriege war ich Revolutionär, ein theoretischer Revolutionär, dilettantenhaft in meinen Anschauungen; er war es nicht. Meinen Wunsch nach Veränderung, meine Behauptung, daß Veränderung notwendig sei, lehnte er in der Zeit vor dem Kriege ab; das seien Zukunftsfragen, meinte er. Er fand meine Ideen interessant, aber unausführbar; er fand sie utopisch; er lebte für die Welt, so wie sie war. Nach den Wiederaufbauversuchen aber und insbesondere nach dem Tode Minnies veränderte er sich – fast könnte man sagen, von Grund auf. Bis dahin war ihm die Welt wohl mangelhaft erschienen, aber gut genug für seinesgleichen. Im Jahre 1919 war er noch imstande, den Baronettitel anzunehmen. Heute wäre er es nicht mehr.
Der Krieg bedeutete den Anfang dieser Wiedergeburt, doch blieben – wie das bei plötzlich eintretenden Ereignissen so oft der Fall ist – seine wahre Wirkung und seine Folgen zunächst hinter der ersten heftigen Erschütterung verborgen. Sie beginnen erst heute erkennbar zu werden.
Es ist merkwürdig, wie unwichtig die Einzelheiten des Krieges jetzt erscheinen und wie ungeheuer seine Wirkungen, die wir erst zu begreifen beginnen. Ich möchte hundert Geschichten aus dem Kriege erzählen: von unseren Spezial-Produktionen, von unserer Jagd nach Rohmaterial, von sinnreich erdachten Ersatzmitteln, von unserer tragischen Explosion in Lembury, von der Verwendung weiblicher Arbeiter an Stelle männlicher, von Spionen in unseren Fabriken, solchen, die wir bloß im Verdacht hatten, und solchen, die wirklich Spionage trieben, von unserer Giftgaserzeugung und der Tatsache, daß wir nach dem Kriege hundert Tonnen dieses Drecks in die Nordsee versenkten, weil wir sonst nichts damit anzufangen wußten – ich könnte viele Geschichten erzählen, die an und für sich interessant, für meine heutige Welt aber von keinerlei tieferer Bedeutung mehr sind.
Im Winter des Jahres 1920 führten Dickon und ich ein langes Gespräch miteinander. In Wirklichkeit waren es mehrere, denn wir waren zu jener Zeit viel zusammen, aber es dient meinen Zwecken am besten, wenn ich den Inhalt unserer Auseinandersetzungen in ein Gespräch zusammenfasse. Es gab einer Anzahl von Ideen, die schon längere Zeit in mir der Lösung harrten, feste Gestalt. Jene zehn oder vierzehn Tage der Zwiegespräche bedeuten für mich den Beginn einer neuen Phase, der endgültigen Phase unserer Lebensanschauung. Wenn ich mir unsere Diskussion ins Gedächtnis zurückrufe, so finde ich darin bereits in embryonaler, aber wohl erkennbarer Form den revolutionären Plan, der das Hauptthema dieses Buches bildet und den ich darlegen werde, sobald ich unser beider Lebensgeschichte ausführlich erzählt habe.
Die Grippe hatte uns zusammengeführt, und es ist möglich, daß das Fieber unsere Ideen beflügelte. Wir saßen eines Abends zuhause; ein Kupferkessel dampfte auf dem hellen Kohlenfeuer im Kamin. Wir tranken heißen Whisky, während Dickon mir seine Gedanken ausführlich und ehrlich darlegte.
Er sagte oder meinte zum mindesten alles, was ich ihm nun in den Mund legen werde.
Ich entsinne mich, wie er, in einen blauen Schlafrock gehüllt, vor mir in einem niedrigen Lehnstuhle saß; unter dem stark abgedämpften Licht der Lampe glich sein Kopf einer großen Orange, die buschige Augenbrauen und einen lächelnden Mund aufwies und an besonders wichtigen Stellen der Diskussion zwei klarblaue Augen aufblitzen ließ; auch weiß ich noch, daß er bei jeder Bewegung mehr als gewöhnlich stöhnte. Neben ihm hatte sein fürsorglicher Diener Deland ein niedriges Tischchen mit unseren Trinkgläsern und allerlei Eßbarem zurechtgestellt. Das Gespräch hob damit an, daß Dickon zugab, die Wiederaufbaubewegung habe mit einem Fiasko geendet; und es entwickelte sich auf folgende Weise:
»Addison« – Dr. Addison war der Gesundheitsminister jener Zeit – »wird seine halbe Million neuer Häuser nicht zustandebringen; nicht einmal sechzigtausend wird er aufbauen. Und Fisher« – der Right Honourable H. A. L. Fisher wollte der Schöpfer eines verbesserten Erziehungswesens werden – »wird die Erhöhung der Schulbesuchsaltersgrenze auf sechzehn Jahre nicht durchsetzen. Mit all dem ist's Essig, Billy. Addison wird sich vielleicht noch einige Mühe geben, aber es wird nichts nützen; und Fisher wird sich überhaupt nicht anstrengen. Und seit Ewigkeiten haben wir kein Wort mehr über den staatlich kontrollierten Milchhandel gehört, der zehntausend Kindern im Jahr das Leben retten sollte! Und deine Firma und auch andere Leute sind im Begriff, die staatlichen Fabriken, die als der Beginn eines neuen Wirtschaftssystems galten, um einen lächerlichen Preis zu übernehmen und sie auf Grundlage der reinen Profitgier zu führen. Oh, ich habe dich wohl beobachtet, Billy. Nun, vielleicht nicht der reinen Profitgier. Sagen wir auf Grundlage des Geschäftsgeistes. Ich habe dich wohl beobachtet und gesehen, wie Brampsheet seiner Nase folgt. Und was für eine Nase der hat! Übrigens ist auch wahrhaftig kein anderer da, der die staatlichen Fabriken übernehmen und führen könnte. Keiner. Bei den Bergwerken liegt die Sache anders. Was jetzt über die Bergwerke gefaselt wird, trifft nicht zu, auch hier wird nichts geschehen. Leider. Die Bergwerkbesitzer wursteln auf ihre alte Weise weiter, was immer der gesunde Menschenverstand sagen mag. Die öffentliche Gesundheit ist so, wie sie war, oder ein wenig schlechter, und kein Mensch wird etwas durchsetzen, außer die Geldbonzen. Und so leben wir, so leben wir alle Tage. Der Wiederaufbau war ein Schwindel, Lloyd George ist ein Lügner und wir sind die Dummen.«
»Männer unseres Alters«, mag ich ihm erwidert haben, »hätten nie glauben dürfen, daß etwas anderes möglich sei.«
Dickon brütete eine Weile über seinem Tablett.
»Und trotzdem ist etwas daran, an der Idee des Wiederaufbaus«, sagte er. »Ich habe diese Idee des Wiederaufbaues in mich aufgenommen, einmal und für immer. Es ist, als ob ich damit geimpft worden wäre.«
Ein Laut behutsamer Zustimmung von meiner Seite.
»Es ist eine weit größere Sache, als wir anfangs dachten«, sagte Dickon und kratzte vorsichtig die Schale einer Zitrone mit dem Rasiermesser ab, das Deland zu diesem Zwecke zurechtgelegt hatte.
»Wir werden nicht sobald imstande sein, den Wirrwarr auf dieser Welt auch nur ein wenig in Ordnung zu bringen«, sagte er, schnitt sich eine saftige Schnitte Zitrone ab und entfernte einen Kern daraus. »Ich überlasse es dir, Zucker daran zu tun, Billy ... Nein ... Aber es ist eine Lehre gewesen.«
Er beendete seine Pflichten als Gastgeber.
Er streckte mir das offene Rasiermesser entgegen, um meine Aufmerksamkeit zu fesseln, bis er wieder zu reden begann. Dann setzte er sich wieder zum Sprechen zurecht.
»Ich finde, Billy, daß die Welt seit drei Jahren für eine Revolution reif ist; sie verlangt nach einer Revolution, nach einer vollkommenen, gründlichen Revolution. Seit drei Jahren. Seit der Mitte des Jahres 1918. Der Markt war bereit, die Anfrage war da – aber keine Ware. Was gefehlt hat, war ein Mensch, der gewußt hätte, was gewünscht werden würde, und imstande gewesen wäre, das zu produzieren. Die Welt stand da mit offenem Mund. Furchtsam und willig stand sie da. Ach, Billy, wie sonderbar ist das alles im Grunde! Was für Hoffnungen! Und was für ein Resultat! Wie eine feierliche Gans legte Wilson in Paris sein faules Ei. Tag für Tag faulte es ein bißchen mehr. Und die Menschheit in ehrfurchtsvoller Erwartung. Vorwärts, großer Präsident! Vorwärts! Und die Bolschewiken ... Nicht einmal ein Ei ...«
Er verlor den Faden.
»... zetteln einen Tumult an«, versuchte ich ihm weiter zu helfen.
»Ja, einen Tumult, einen kleinen, schwachen Tumult, inmitten der Überreste Rußlands.«
Gegen das Feuer gewendet, schüttelte er den Kopf. »Ungeheure Pause. Die Menschheit stand in ungläubigem Staunen. ›Das ist alles, meine Herren. Nein, nichts weiter, nichts, nichts‹. Und bald darauf kam die alte Ordnung wieder; der üble, öde alte Kram, die alte Trägheit und der alte Prunk, der Schwindel und das Geprahle, die alten Interessen und die alten Rechte, die nichtssagenden Könige und die blödsinnigen Uniformen kamen wieder aus ihren Unterschlupfen und Verstecken hervorgekrochen und konnten kaum glauben, daß sie noch am Leben seien. Aber sie sind es, Billy, sie sind es!«
»Trotzdem – es gab eine große Pause«, sagte Dickon. »Es gab eine Zeit, da die Tür weit offen stand.«
Er richtete seinen Blick auf vergangene Zeiten. »Ich glaube, daß niemals viel schöpferische Phantasie bei der Leitung des Menschengeschicks im Spiele war. Ein verdammter Unsinn ist die Bewunderung der großen Männer der Vergangenheit. Mit Größe hat's noch gute Weile. Große Männer, ja – die werden für uns zurechtgestutzt und herausgeputzt. Cäsar und Marc Aurel waren auch nicht besser als Winston oder Wilson. Es war immer dasselbe, oder noch schlechter?«
Dann kehrte er zu seiner wesentlichsten Entdeckung zurück. »Diese letzten Jahre waren eine außerordentliche Zeit. Wenn nur ein klarer Plan bereit gewesen wäre und Männer da gewesen wären, ihn durchzuführen, so hätte man ihn durchführen können. Es war der kritische Augenblick für eine große Wandlung ... Ich zumindest glaubte, es werde wirklich eine große Veränderung kommen. Ein neues Zeitalter. Und nun, Billy ... Es schien uns, als sähen wir das Land der Verheißung. Wo ist es nun?«
»Aber könnte nicht jetzt noch etwas getan werden?«
»Ich weiß nicht«, sagte Dickon und fügte in einem Tone, als wöge er den Namen in der Hand, hinzu: »Wir haben immerhin Northcliffe.«
»Northcliffe«, rief ich und starrte ihn verblüfft an.
Es fiel mir ein, daß Dickon das ganze Universum durch den Nebel der Publizistik sah. Hatte er doch einmal die Tempel der Welt als Reklame unseres Herrgotts bezeichnet.
Er begann im Tone liebevollen Staunens von dem großen Zeitungsmanne zu reden. Auf irgend eine mir nicht ganz verständliche Weise hatte Northcliffe Dickons Phantasie gefangen genommen. Er war in Dickons Augen über sich selbst hinausgewachsen; er war zu einem Symbol von Kräften geworden, deren Vorhandensein auf unserer Welt Dickon teils erkannte, teils nur erhoffte. Dickon sprach von den ›neuen Menschen‹, und wenn er seine Sätze erläuterte, kam er immer wieder auf Northcliffe zurück. Northcliffe war damals immer noch der Herr der ›Times‹ und einer Gruppe anderer mächtiger Zeitungen, aber seit etwa einem Jahre, seit er sich in einen erbitterten persönlichen Kampf mit Lloyd George eingelassen hatte, spielte er in den Augen der Welt eine einigermaßen klägliche Rolle. Er hatte sich nach anfänglicher Unbeliebtheit durchgesetzt und zu großem Einfluß auf die Angelegenheiten der Nation emporgeschwungen. Im Kriege hatte er Außerordentliches geleistet, und im großen und ganzen waren seine Dienste auch wirklich nützlich gewesen. Man erzählte sich nun, daß Lloyd George ihn in der Hoffnung gehalten habe, er werde zur Konferenz von Versailles eingeladen werden. Er wurde nicht eingeladen und benahm sich, als ob fürchterlicher Verrat an ihm verübt worden wäre. Eine Zeit lang raubte ihm sein offenkundiger, gehässiger Zorn ein gut Teil seines Ansehens. Viele seiner Anhänger, die gleich Dickon Großes von ihm erwartet hatten, waren enttäuscht und befremdet. Aber Dickon hielt weiter zu ihm. »Er ist ein tüchtiger Kerl,« sagte er mit Überzeugung, »ein tüchtiger Kerl.«
Northcliffe habe nicht gewußt, was in ihm stecke, fuhr Dickon fort. Erst als er groß und mächtig geworden sei, habe er es gewußt. Die Gelegenheit habe ihn überrascht, wie das heutzutage bei den meisten Erfolgen der Fall sei. Er sei zu Macht gelangt, ehe er Zeit gehabt habe, sich zu überlegen, was er eigentlich wolle.
»Mehr oder weniger geht es uns allen so«, sagte Dickon. »Unter dem Aufgebote unserer ganzen Kraft gehen wir ans Werk und kämpfen, um Freiheit zu erlangen und aus dem ärgsten Gedränge herauszukommen, aber siehe da, was wir für Mauern aus Stein und Eisen gehalten hatten, erweist sich als Pappe, und – pffft – geht's in die Luft, wir können hindurch und wir haben die Macht in Händen und nichts auf der Welt steht zwischen uns und den ironisch blickenden Augen Gottes.«
»Mr. G's«, sagte ich.
»Ich meine in diesem Falle Gott«, erwiderte er.
Dickon war während seiner Propagandatätigkeit mit Northcliffe in Verbindung getreten. Sie schätzten einander. »Er hat Phantasie, wirkliche Phantasie, die Eigenschaft, die den großen Mann macht, Billy; er ist der einzige in unserer Öffentlichkeit, der einen Zug von Größe besitzt. Wirklich der einzige.«
»Meinst du nicht, daß ein Typus wie Arthur Balfour auch etwas Großes an sich hat?« fragte ich.
»Diese verflixte weiße Lilie!« erwiderte Dickon. »Sie säen nicht und ernten nicht.« Und er wendete sich, ohne nähere Ausführung seines Gedankens, wieder Northcliffe zu.
»Er weiß, daß wir eine neue Art von Männern sind und daß dieses Zeitalter ein neues ist. Er weiß, daß die Möglichkeit eines großen Wiederaufbaues in der Luft liegt. Es ist ihm nicht ganz klar, aber er fühlt es. Er hat Witterung dafür. Er fürchtet sich nicht davor, die Welt zu verändern. Das ist es, was ihm Bedeutung gibt, Billy.«
Dickon schilderte mir, wie er eines Tages mit Northcliffe in einem Zimmer des ›Crewe House‹ gesessen hatte, eines schönen, alten Stadthauses aus dem achtzehnten Jahrhundert im Westen Londons, das zum Hauptquartiere der Propagandatätigkeit gegen die Österreicher und Deutschen gemacht worden war. »Man redet von kommenden Revolutionen«, habe Northcliffe mit seiner sanften Flüsterstimme gesagt. »Daß wir hier sind, ist schon Revolution.«
»Das«, sagte Dickon, »ist Northcliffes bezeichnende Note. Etwas überspannt, aber das macht nichts. Er sieht die Dinge. Er sieht die Veränderungen. Er sieht die Kräfte.«
Er beugte sich vor, um das Feuer zu schüren, und dehnte seinen mächtigen Körper vor der neu angefachten Glut. »In einer Beziehung«, sagte Dickon, »hat er Recht gehabt. In anderer war es reiner Unsinn.«
»Die Möglichkeit einer Revolution war gegeben«, fuhr er fort. »So weit stimme ich ihm zu.«
Er runzelte die Stirn; der Finger des älteren Bruders erhob sich bedeutungsvoll. »Irgend etwas stimmt nicht mit Northcliffe, Billy. Es ist da irgend etwas Groteskes und Tragisches zugleich. Als ob er mit einer Schnur irgendwo festgebunden wäre und immer wieder zurückgerissen würde.«
Er erzählte mir, daß der Mann Launen unterworfen sei, die über die Grenzen des Vernünftigen hinausgingen. Dann fliehe er zu seiner reizenden alten Mutter nach Totteridge. Seine Brüder, seine Sekretäre nähmen ihm die Arbeit ab. (Dickon wußte also von dunklen Zwischenfällen drei Jahre, ehe Northcliffe irrsinnig starb.) Das ganze Leben Northcliffes sei eine Aufeinanderfolge wechselnder Stimmungen, sich stark voneinander unterscheidender Phasen. Er sei eine unausgeglichene Natur. Kühnheit und prophetischer Geist tauchten zeitweilig in ihm auf, um wieder zu verschwinden. Manchmal sei er seiner ungeheuren Macht sicher – »und er hat sie, er könnte von ihr Gebrauch machen, wenn er wollte« –, manchmal wieder sei er eitel und hohl, geistesabwesend, prahlerisch und feige und zu nichts zu gebrauchen.
Dickon zuckte die Achseln. »Und dabei hat er die Publizistik in Händen, die immer noch die oberste Macht im modernen Leben ist, und keiner ist da, der ihn kontrollieren könnte. Ja Billy, es gibt jetzt keine andere Macht auf der ganzen Welt als die, deutlich und ununterbrochen zur Menge zu sprechen. Mein Gott, wenn ich bedenke, welche Macht er und die anderen großen Zeitungsleute ausüben könnten, heute noch ausüben könnten, wenn sie nur wollten! Heute noch – ja, auch heute noch – ist das Britische Reich und die ganze Welt vollkommen in den Händen der großen Zeitungsbesitzer und der neuen Männer, mit denen sie zusammen arbeiten sollten. Jetzt ist die Zeit ihrer großen Möglichkeiten. Sie schwindet von Tag zu Tag, aber noch ist sie da, noch könnte sie genützt werden.«
Ein klagender Ton schlich sich in seine Stimme. »Keine zwanzig Leute«, sagte er. »Und neun Zehntel der britischen Zeitungen in ihren Händen. Und alle in London konzentriert, nicht wie in Amerika auf eine Unzahl von Städten verteilt. Die Kerle könnten das Land führen, wohin es ihnen beliebte, und die übrige Welt würde ihnen folgen. Wenn sie nur der Macht, die ihnen gegeben ist, würdig wären. Wer könnte sie aufhalten? Auf welche Weise könnte man sie aufhalten?«
Aber sie führen im alten Fahrwasser weiter. Sie vollbrächten nichts, außer riesenhafte Vermögen zusammenzuscharren. Die Gelegenheit gliche einem überempfindlichen Besucher, man müßte sie sofort willkommen heißen. Northcliffe fühle das, seine Genossen jedoch nicht. Darin unterscheide er sich von anderen.
Ich warf ein, daß Dickon die Macht der Zeitungsbesitzer wahrscheinlich überschätze. Sie würden der Verbreitung ihrer Blätter schaden, wenn sie versuchten, große Dinge einzuleiten. Dickon war überzeugt, daß das nicht geschehen würde. »Das Publikum liebt Initiative«, behauptete er. »Wünscht sie. Und überdies beherrschen sie ja die gesamte Presse. Es gibt heute noch niemand, der den Mut und die Entschlossenheit hätte, sich gegen sie zu erheben, wenn sie sich endlich einmal zu etwas aufrafften!«
Und selbst wenn das Publikum nicht ihrer Meinung wäre, was würde es schon tun können? Sie würden ihren Leserkreis nicht verlieren. Irgend eine Zeitung müsse das Publikum haben. Macht hätten diese Pressebarone also genug. Aber sie hätten keine gemeinsame Idee. Sie hätten keinen Begriff von ihrer Macht, keinen Glauben an sich. Und die Macht entschlüpfte ihnen.
»Diese Männer«, fuhr er fort, »kamen dadurch in die Höhe, daß sie neu waren. Wenn sie aufhören, neu zu sein, werden sie Rang und Bedeutung wieder verlieren. Sie erkennen ihre Möglichkeiten nicht. Sie fürchten sich vor ihren Möglichkeiten. Die Gelegenheit ist zu groß für sie ... Northcliffe vielleicht ausgenommen. Bei Northcliffe bin ich dessen nicht so unbedingt sicher.«
Dickon machte mit seinem glücklicherweise schon fast leeren Glase eine verzweifelte Bewegung des Beiseiteschiebens.
»Sie könnten sagen, was ihnen beliebt, selbst heute noch. Die ganze Welt hofft immer noch auf eine große Idee.«
Dann gab er – erregt und durch die Influenza irritiert – eine Übersicht der Leute, die er als die neuen Kräfte Englands bezeichnete. »Männer wie wir.« Die neuen Menschen seien sich über ihre wahre Wesensart und deren Tragweite nicht im klaren. Da stecke der Kern des Übels. Es gebe keine geistige Synthese, keine tiefere Einsicht.
Ich gebe Dickons Ansichten so gut wie möglich wieder. Ich stimme ihnen nicht völlig bei, aber sie sind sozusagen die Brüder meiner Ansichten. Er sah die Dinge vom Standpunkt des Reklamemannes an, er überschätzte das Auffallende, und manche der ›neuen Männer‹, die er als bedeutend hinstellte, galten mir wenig oder nichts. Ich entsinne mich nicht, an jenem Abend mit ihm gestritten zu haben. Ich ließ ihn bloß seine Ansichten vortragen.
Lloyd George, behauptete er, sei eine jener neuen Kräfte. Im Jahre 1920 war er tatsächlich noch eine hervorragende Gestalt. »In der Politik ist er das, was ich im Reklamewesen, Northcliffe im Journalismus und du in der Metallurgie bist – eine neue Art Mann, mit neuen Methoden am Werke.« Aber auch Lloyd George werde sich nicht dauernd durchsetzen können. »Er ist nichts weiter als ein prächtiges Unkraut. Ein üppig wucherndes Unkraut. Doch wir brauchten einen mächtigen Baum. Er lebt von der Hand in den Mund. Er ist schlauer als sechs Füchse. Und dabei vernünftig – geradezu aufreizend vernünftig. Was mangelt ihm eigentlich? Er ist gerade das Gegenteil von Northcliffe. Ein ungeheuer kühles, klares Gehirn, aber es scheint nicht auf dem richtigen Platz zu sitzen. Oder nicht richtig aufgewickelt zu sein oder irgend etwas. Keine Größe der Vision. Keine Wärme der Phantasie. Darin ist ihm Northcliffe überlegen. Und Lloyd George kann nicht warten. Nur Leute mit weitem Zukunftsblick können warten. Sein Temperament gestattet ihm nicht zu warten. Und er hat sich mit Northcliffe überworfen. Er hätte Northcliffe einen Sitz in der Regierung geben und ihn nach Paris schicken sollen. Es hätte den Lauf der Geschichte ändern können, wenn Northcliffe nach Paris gegangen wäre.«
»Für Lloyd George war das Schaugepränge in Paris eine zu große Versuchung, ganz ebenso wie für Wilson auch.«
»Und da sitzen wir nun«, sagte Dickon.
Er ließ die großen britischen Zeitungsmänner Revue passieren und lehnte sie alle ab. Zu wenig Phantasie. Sie könnten so viel, wenn sie wollten. Aber sie wollten nicht. Wenngleich auch hier voll Zweifel, hielt er an seinem Helden Northcliffe fest, eine Treue, die binnen kurzem durch einen jämmerlichen Tod erschüttert werden sollte.