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In Brügge erfuhren Dickon und ich, daß es von nun an keinen Vater und kein Mowbray mehr für uns geben werde.
Ich bin seither nicht wieder in Brügge gewesen und weiß nicht, wie sehr sich diese kleine alte Stadt verändert haben mag. Ich sehe sie vor mir, mit Katzenköpfen gepflastert, Gras und Moos zwischen den kleinen holperigen Steinen; die Häuser aus verwitterten roten Ziegeln erbaut, die zahlreichen großen Höfe, in die man durch mächtige Torwege gelangte, mit hohen Bäumen bepflanzt. Gerne hätte ich in diesen Höfen herumgetollt. Kanäle mit stehendem, grün schimmerndem Wasser zogen sich zwischen grasbewachsenen Ufern hin; bunt bemalte und eigentümlich gebaute Barken fuhren darauf. Da war auch ein sehr unterhaltlicher Kirchenplatz mit einem hohen Glockenturm, der Tag und Nacht Weisen ertönen ließ, gleich denen einer Spieldose. Jede Viertelstunde erklang sein Glockenspiel. Das ganze Leben Brügges schien eine Gesangsübung unter Begleitung dieses unaufhörlichen Klingklangs. Den Turm konnte man besteigen, aber Mutter erlaubte es uns nicht. Jede Höhe machte sie schwindlig, deshalb waren uns Turmbesteigungen und ähnliches verboten. Es schwirrte und lärmte auf dem Platze; große zweirädrige Wagen, mit höchst interessanten Dingen beladen, ratterten über das holperige Pflaster; in Buden wurden alle möglichen Dinge verkauft; Hausierer boten ihre Waren feil. Zahllose von Hunden gezogene kleine Wagen und Karren fuhren umher; nie hatten wir etwas ähnliches gesehen. Die Hunde bellten, aber sie gingen doch niemals auf einen los, da sie an die Wagen festgebunden waren. Immer bellten sie. Wir wohnten in einem Gasthof auf dem Kirchenplatze; er führte einen alten flämischen Namen, den ich längst vergessen habe. In einem kleinen Zimmer dieses Hauses – durch das offene Fenster drang der Lärm von unten herauf, Schreien, Bellen, Glockenspiel und Wagengerassel – sagte Mutter uns, daß unser Vater tot sei.
Seit zwei Tagen hatten wir beide bemerkt, daß es immer schlechter um Mutter stand, aber kein Wort darüber war zwischen uns laut geworden. Sie hatte uns soviel wie möglich von sich ferngehalten, uns ins Freie geschickt, ja, uns sogar Geld gegeben, damit wir uns etwas kaufen könnten. Als wir wieder auf den Platz und in den Gasthof zurückkehrten, war sie fortgegangen; sie hatte allein einen längeren Spaziergang unternommen – etwas ganz Ungewöhnliches bei ihr. Vor dem Schlafengehen überschüttete sie uns mit Zärtlichkeiten, mich ganz besonders, da ich mich viel weniger dagegen sträubte als Dickon. »Mein armer, armer Liebling! Mein kleiner Billykins! Mein Billy!«
Am nächsten Tage sprach sie des öfteren zu sich selbst; das hatte sie früher nie getan. »Wie soll ich es ihnen sagen?« hörte ich sie murmeln, als wir beim Mittagbrot saßen.
Oder: »Ich kann nicht einmal Trauer tragen. Nicht einmal das kann ich.«
Nach dem Essen hieß sie uns in ihr Zimmer kommen. Wir folgten widerstrebend, denn sie sagte, sie müsse uns etwas sehr Wichtiges mitteilen. Ihr sonderbares und unerklärliches Benehmen reizte uns über alle Maßen. Wir hatten keine Ahnung von ihrer Seelennot. Arme Frau, unser Gemüt war ihr verschlossen. Sie hatte nie den Weg zu unserem Herzen zu finden oder uns Verständnis für ihre Wesensart beizubringen vermocht. Unser Innenleben konnte sie weder begreifen noch beeinflussen.
»Setzt euch«, sagte sie. »Nein, bitte, seht nicht zum Fenster hinaus, bitte nicht. Setzt euch.« Sie ließ Dickon auf dem einzigen Stuhl Platz nehmen, ich wurde aufs Bett gesetzt. Ich kann mich noch erinnern, wie unordentlich das Zimmer aussah. Die arme Frau stand mit gefalteten Händen und schaute ihre beiden, so schwer zu behandelnden Sprößlinge an.
»Ihr armen, geliebten Kinder! Oh! Furchtbare Dinge sind geschehen. Furchtbare Dinge. Wie soll ich es euch sagen?«
»Hast du schlechte Nachrichten bekommen, Mutter?« wagte Dickon zu fragen.
»Ach Gott«, seufzte Mutter tief bewegt.
»Meine lieben Söhne!« begann sie wieder – nie zuvor hatte sie uns so genannt. »Ihr dürft nie mehr von euerem Vater sprechen. Nie. Ihr dürft nie mehr an eueren Vater denken. Ihr werdet ihn nie wieder sehen – niemals.«
Ich erinnere mich, daß keiner von uns beiden ein Wort sprach. Ich blickte in Erwartung eines Winks auf Dickon. Er aber saß stockstill, ohne Mutter anzusehen, immer noch feindselig, und verarbeitete in sich, was sie gesagt hatte.
Ihre Lippen waren fest aufeinandergepreßt, sie zerknüllte ihr Taschentuch und drückte es an die Wange, dann setzte sie sich plötzlich auf ihren Reisekoffer. »Nie mehr ihn wiedersehen«, sagte sie. »Nie mehr nach Mowbray zurückkehren. Jahrelang nicht nach England zurückkehren. In der Fremde umherziehen. Ihr dürft nicht mehr den Namen Clissold führen. Niemand von uns darf mehr Clissold heißen. Von nun an heißt ihr Walters – Willy Walters, Dickon Walters, Mrs. Walters.«
Sie hielt inne. Dann schärfte sie uns ein: »Was immer man euch fragt, ihr habt nicht zu antworten. Weder zu antworten, noch zuzuhören. Was immer ihr gefragt werdet und was immer man euch sagt.«
Dickon wollte sprechen. Sie starrte ihn mit dunklen, furchtsamen, tränenfeuchten Augen an. So stark schon war er seinem Vater nachgeraten, daß sie Angst vor ihm hatte.
»Was ist denn mit Vater geschehen?« fragte er. »Warum sollen wir Walters heißen? Ich halte das für einen blödsinnigen Namen.«
»Es ist – ist mein Mädchenname«, seufzte Mutter.
»Einerlei«, sagte Dickon. »Und übrigens – wo ist er denn hin? Ich werde nicht klug daraus.«
Ich war jünger und weniger scheu. Ein Gedanke durchzuckte mich, und ich mußte ihn vorbringen, noch ehe Dickon daraufkam. »Ist er tot, Mutti?«
Dickon blickte mich an, als ob er mich prügeln wollte. Mutter sagte lange nichts. Ihre Stirne war gerunzelt und ihr Gesicht gerötet. Im Zimmer herrschte tiefes Schweigen, draußen erscholl der Lärm raufender Hunde und schreiender Menschen und das Geklirr von umgeworfenen Kannen auf dem Pflaster.
»Ja!« bestätigte Mutter endlich und nickte mit dem Kopf; die Lippen fest aufeinanderpressend, unterdrückte sie ein Schluchzen, dann stieß sie mit scharfer Stimme hervor: »Er ist tot.«
Und nun verzog sich ihr Gesicht wie das eines Kindes, das seinen Kummer nicht mehr zu beherrschen vermag. Sie flüchtete sich vor allen weiteren Fragen, vor jeder weiteren Aufklärung in einen bestürzenden Weinkrampf. Nie noch hatte ich jemanden so heftig weinen gesehen. Ich war verblüfft, entsetzt und beschämt. Es schien mir, als ob der Lärm der Straße verstummt wäre, vor Staunen über diesen Schmerzensausbruch. »Was soll ich tun?« schluchzte sie. »Was kann ich tun?«
»Verlaßt mich jetzt«, sagte sie endlich. »Geht. Ach, mir bricht das Herz.«
Wie lebendig stehen diese Augenblicke vor meiner Seele! Noch heute sehe ich meine Mutter vor mir, wie sie das Gesicht in ihren schmalen, roten Händen verbirgt, sehe ihr dummes, kleines Taschentuch, so von Tränen getränkt, daß man es hätte auswinden können. Solcher kleiner Einzelheiten entsinne ich mich deutlich, doch was ich fühlte, ist meinem Gedächtnis völlig entschwunden. Ich glaube, daß ich überhaupt nichts fühlte. Tat sie mir leid? Tat es mir um Vater leid? Tat ich mir selber leid? Ich weiß es nicht mehr. Ich war starr vor Staunen über den Anblick eines Menschen, der unter einem Kummer zusammenbricht. Niemals noch hatte ich solches gesehen. Und nun geschah es meiner Mutter!
Ich erinnere mich nicht der kleinsten Regung in mir, sie zu trösten oder ihren Schmerz zu lindern.
Sehr lebendig ist mir im Gedächtnis, daß ich mit Dickon an jenem Nachmittag einen Kanal entlang ging; wie wir aus Mutters Zimmer dorthin gelangt waren, weiß ich nicht mehr. Ich sehe Dickon totenblaß, mit leerem Gesichtsausdruck in die Luft starren, die Augen glänzend von unvergossenen Tränen, und mich neben ihm, wie ich darauf wartete, daß er endlich den Mund öffnen werde.
Schließlich sprach er, und ungeheure Bitterkeit lag in seiner Stimme.
»Als ob niemandem zum Heulen wäre außer ihr«, sagte er grimmig. »Es ist unser Vater.«
Ich nickte und schwieg ehrerbietig, wie es sich für einen jüngeren Bruder ziemt.
Endlich, nach einer langen Pause, hob er wieder an:
»Und was für einen Sinn soll es haben, wenn wir uns nicht mehr Clissold nennen? Alle Welt weiß, daß wir Clissold heißen. Alle Welt.«
Auch das verlangte keine Äußerung meinerseits. Er fuhr sich leicht über die Augen.
Dann dachte er wieder laut: »Warum gehen wir nicht zu seinem Begräbnis? Es ist unser gutes Recht, zu seinem Begräbnis zu gehen. Ich bin sein Erbe. Ich stehe ihm am nächsten. Es ist meine Pflicht, dabei zu sein. Wir beide sollten dabei sein.«
Auch darauf konnte ich nichts erwidern. Wir gingen stumm nebeneinander, stumm einander tröstend. Wir empfanden hundert Dinge, die wir nicht aussprechen konnten. Wir beide fühlten ganz genau, daß alles, was man uns erzählt hatte, nichts als eine Andeutung unaussprechlicher Dinge war. Die ganze Welt war finster geworden; dunkle Abgründe gähnten unter dem kleinen belgischen Pflaster. Die unklaren Überlegungen, die wir äußerten, die Fragen, die wir einander stellten, waren hilflos, wie ein leiser Klagelaut in der Unendlichkeit der Nacht. Und wir wußten: soweit Mutter in Betracht kam, würden wir niemals Klarheit über Vaters Verschwinden und seinen Tod, noch über den rätselhaften Zusammenbruch unserer Welt gewinnen. Ein Unglücksfall, irgend etwas Furchtbares? Etwas, was unseren wundervollen, meteorgleichen Vater vernichtet hatte. Das Herz tat uns weh. Seine Stimme, Dinge, die er gesprochen und getan, kamen uns wieder ins Gedächtnis. Er war von uns gegangen, für immer von uns gegangen.
Gegen unsere arme, schwache Mutter blieben wir hart. Es schien uns fast, als ob sie uns den Vater genommen hätte – ihn und Mowbray und alles, was uns teuer war.