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Kurzsichtige Neuregelung der Produktion unter dem Zusammenwirken günstiger Umstände und dann blindes Erteilen und blödsinniges Aufnehmen von Krediten; gewissenloses Kinderzeugen; Flucht vor Arbeit und Verantwortlichkeit in den oberen, widerwillige Massenarbeit in den unteren Schichten; und nirgendwo ein klares Bild des Ganzen – das war der Hauptinhalt des Schauspieles, welches das neunzehnte Jahrhundert bot; und es hatte sich logischer- und notwendigerweise aus vorangegangenen Erscheinungen des sozialen Lebens ergeben. Das Wissen hatte sich um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zu solcher Höhe entwickelt, daß es für alle ausgereicht und allen ungeahnte Freiheit hätte geben können. Doch um diese Möglichkeit kümmerte sich niemand. Hingegen wandte jedermann sein Augenmerk der Tatsache zu, daß die meisten Menschen nicht genug zum Leben hatten, weil Besitz und Geldverhältnisse allzu primitiv und ungeordnet waren.
Der stärkste und bemerkenswerteste Eindruck, den ich, selbst mit Dingen des Finanzwesens beschäftigt, von Finanzleuten gewonnen habe, ist ihre Oberflächlichkeit und ihre Gleichgültigkeit. Die Menschen leben der Wissenschaft und der Kunst, betreiben Landwirtschaft, organisieren Produktionen oder gehen über die Meere dem Handel nach und entwickeln freudigen Eifer bei solcher Tätigkeit, weil sie von tiefem, anhaltendem Interesse ist. Geschäfte in der City jedoch macht keiner um ihrer selbst willen. In die City geht man, um erfolgreich wieder herauszukommen. Ein normal veranlagtes menschliches Wesen besitzt keinen Instinkt für Arithmetik, keinen natürlichen Hang, Berechnungen aufzustellen; ich bezweifle sogar, daß die abnormen Individuen, die man Rechengenies nennt, wirkliche Freude an ihrer Begabung haben, solange sie sie nicht praktisch verwerten. Die einzigen lebendigen Interessen in der City sind Erwerb und die durch Risiko und Kampf bewirkte Erregung. Monte Carlo vermag dasselbe zu bieten. Die Tätigkeit der City und ihres jüngeren und vielleicht noch tüchtigeren Sprößlings, Wall-Street genannt, – wer kann sagen, welche von beiden heute die andere führt? – berührt das innerste Leben der ganzen Menschheit. Doch ist das dem Bewußtsein der City nicht gegenwärtig. Es ist die besondere Eigenschaft des Geldes und des Kredites, die Wirklichkeit vom Geschäftsleben loszulösen und sie in weite Fernen zu rücken. Die Finanz vergißt bei ihren Transaktionen die Welt, und die Welt übersieht so viel wie möglich, daß sie von der Finanz vorwärtsgetrieben und umhergestoßen wird. Kaum einer in der City dringt auch nur einen Zoll tiefer unter die Oberfläche seiner Angelegenheiten, als unbedingt notwendig ist. Die City hat sich aus heute vergessenen Anfängen entwickelt, die Männer, die dort arbeiten, nehmen sie hin, wie sie ist, und folgen ihren Regeln und Traditionen. Sie haben ebensowenig Lust zu untersuchen, was sich hinter dem sichtbaren Getriebe verbirgt, wie etwa ein Cricketspieler die geologische Erforschung seines Spielplatzes anstrebt.
Im Verlaufe meines Lebens bin ich einigen Bankleuten begegnet, und ich glaube nicht, daß es eine seltsamere und unwahrscheinlichere Sorte von Menschen gibt. Sie nehmen das Geld als etwas Gegebenes hin, etwa so wie ein Terrier die Ratten; wenn sie es sehen, stürzen sie darauf los; aber sie sind vollkommen frei von jedweder das Geld betreffenden philosophischen Wißbegier. Männer keines anderen Berufes wenden sich so hastig der Zerstreuung durch andere Beschäftigungen zu; Bankleute sind Sammler, Naturforscher, Historiker, Kritiker; das Bankwesen ist ein vortrefflicher Nährboden für Liebhabereien aller Art. Die Bank- und Finanzwelt schöpft fürstliche Einkommen aus Unternehmungen, die sie selbst nicht klar versteht und deren Erforschung durch andere sie in instinktivem Selbstschutze, so weit sie kann, zu verhindern strebt. Es gibt keine unsinnigere Karikatur der Wirklichkeit, als die bildliche Darstellung der City und der Wall-Street und der Börsen dieses Planeten überhaupt durch eine bösartige, wachsame, vielköpfige Spinne, die der Welt systematisch das Blut aussaugt. Die Spinne saugt Blut, weil es sie darnach verlangt, die Bankiers aber tun es ohne vernünftigen Grund.
Zweifellos verwickelt die City den ganzen Erdball in ihre Tätigkeit, aber sie verfolgt dabei kein bestimmtes Ziel. Die Männer, die in ihren engen Gassen umherrennen, wissen nicht, was sie eigentlich tun. Sie wären sehr böse, wenn man ihnen das sagte, aber es ist so. Sie gelten – sich selbst wie auch anderen, ihren Angestellten und dem Publikum, das in angstvoller Gewinnsucht seine Ersparnisse bei ihnen anlegt, – als starke, kühne und entschlossene Männer; manche unter ihnen verfügen über riesenhafte Summen; trotzdem sind die Gehirne in ihren Köpfen – es ist beleidigend, aber es muß gesagt werden – mangelhaft ausgebildet. Sie sind altgewordene Kinder, die nicht die Zeit gefunden haben, sich zu entwickeln. Sie haben den Zustand völliger Reife niemals erreicht. Sie kennen die Grundlagen des Daseins nicht, sie sehen sich selbst nicht klar, sie sind individualistisch in ihren Bestrebungen, und das Gefühl, daß sie ein Teil einer umfassenden sozialen Organisation sein könnten, ist ihnen fremd. Alle diese Merkmale sind charakteristische Zeichen der Unreife. Ihre großen Unternehmungen, ihre Schulden, ihre Darlehen, ihre Kunstgriffe und Methoden sind im Grunde ungeheure Kindereien und werden nicht weniger kindisch dadurch, daß die ganze Menschheit unter ihnen leidet.
Die überfüllte City ist immer noch der Haupt-Hexenkessel für Kredite im Wirrsal der Welt. Dorthin strömt das Geld und von dort muß es wieder geholt werden. Durch die Straßen der City schritt einst mein Vater, im kleidsamen schwarzen Zylinder und eleganten Gehrock nach der Mode der Zeit, hübsch anzusehen mit seinem roten Backenbart und gewinnend in seinen Umgangsformen. Er war kühn und unternehmend – zu seinem Verderben. Und später kamen auch Dickon und ich dorthin, um nach Kredit und Geld zu fahnden, die die Schlüssel zu persönlicher Freiheit sind, ohne die es weder Nahrung noch Unabhängigkeit noch Macht auf der Welt gibt.
Ich will meines Vaters Geschichte nicht in allen Einzelheiten erzählen. Ich könnte es gar nicht, selbst wenn ich es wollte, denn viele ihrer wesentlichen Phasen sind heute verwischt, verblaßt und nicht mehr klar festzustellen. Er hat, wie es scheint, eine Zeit lang in der Firma seines Vaters gearbeitet und war anfangs ein ganz unternehmender, aber doch recht vorsichtiger Spekulant. Viele Leute in der City, die ihn gerne hatten, glaubten noch während des wilden Vorspiels zu seinem schließlichen Zusammenbruche an seine Begabung und seine Fähigkeit, sich immer wieder aufzurichten. Mit Eisenbahn-Unternehmungen beschäftigte er sich kaum. Vor seiner Zeit schon waren Eisenbahnen gebaut und überkapitalisiert worden, hatten sich nicht rentiert und mußten durch Vergnügungszüge ertragsfähig gemacht werden. Nach einer tollen Jugendzeit kamen sie in geordnete Verhältnisse. Doch die neuen Möglichkeiten großzügigen Detailverkaufes, die die Eisenbahnen geschaffen hatten, wurden eben erst aufgegriffen. Es war damals eine offene Frage, ob die erhöhte Leichtigkeit des Verkehrs die Verbraucher nach den Handelszentren locken werde oder ob es vorteilhafter sei, auf eine, ebenfalls durch die Eisenbahnen möglich gewordene, gesteigerte Warenversendung abzuzielen. Kluge und energische Männer hielten in der einen wie in der anderen Richtung nach annehmbaren Projekten Ausschau, durch die um die City, und im Zusammenwirken mit ihr um Geldgeber im allgemeinen geworben werden konnte. Mein Vater war schon früh auf diesem Gebiete tätig und, wie es scheint, in beiden Richtungen erfolgreich.
Er fahndete nach leicht transportablen Waren und stieß zufällig auf Tee; er führte einige Teegroßisten, einen Teeverpacker und einen bescheidenen Kleinhändler in Clapham zusammen – der letztere hieß Partington, und sein Geschäft konnte Anspruch auf die Bezeichnung ›Gegründet 1810‹ erheben – und schuf die Marken: ›Partington's Pure Packet Teas‹ und ›Partington's Own Delicious Blend‹. Es sollte ein Versandgeschäft sein, doch erwiesen sich die Packungen als in den Laden kleiner Detailverkäufer außerordentlich gangbar. Kanditengeschäfte, Konditoreien und dergleichen Läden mehr, die niemals Tee ausgewogen hatten, verkauften ihn in Packungen sehr gut. Gleichzeitig brachte er eine Tuchmacherfirma in Camden Town auf den Gedanken, daß sie unter dem Namen ›North London Central Bazaar‹ das Einkaufszentrum der Londoner Nordbezirke werden könne, und versetzte sie in einen Zustand fieberhafter Geschäftserweiterungen. Er arbeitete in jenen ersten Jahren mit unermüdlicher Tatkraft und größtem Eifer; die beiden geschilderten Unternehmungen hatten Sinn und Zweck, und es war mehr unter dem Druck der gegebenen wirtschaftlichen Entwicklung als aus irgend welchen ruchlosen Absichten, daß er sie nach und nach um annähernd das Zehnfache ihres tatsächlichen Wertes verkaufte. Das Vertrauen des geldanlegenden Publikums und insbesondere des kleinen Sparers zu vergesellschafteten Verkaufsnetzen steigerte sich in jenen Jahren andauernd, und mein Vater nahm seinen Vorteil wahr, wo er ihn fand.
In jenen Tagen galt mein Vater nach den besten Normen der City als ein makelloser Mann. Er bedachte sorgfältig, was er tat. Später scheinen allzu große Erfolge verderblich auf ihn eingewirkt zu haben. Der ihm angeborene Glaube an seinen guten Instinkt und sein Glück steigerte sich; er wurde gierig und hastig, betätigte sich auf Gebieten, die er niemals sorgfältig studiert hatte, sprang mit seinen Gesellschaftern um, wie es ihm beliebte, und log, wo er früher nur aufgeschnitten hatte. Er befaßte sich mit dem Ausbau von Badeorten an der Küste, mit großen Wohnbauplänen und besonders mit der Errichtung riesenhafter Komplexe von Arbeiterhäusern, ferner mit der Anlage von Gasanstalten – speziell in südeuropäischen Ländern – und im Anschluß daran mit der Gewinnung von Braunkohle. Ich kenne kaum die Namen, viel weniger die zeitliche Folge der verschiedenen Firmen, die er schuf, oder die Zusammenhänge zwischen ihnen. Ich weiß nur, daß das kühn emporgetürmte Gebäude in der Firma ›London and Imperial Enterprises› gipfelte und sodann zusammenkrachte. Doch aus meiner eigenen Wesensart heraus begreife ich meinen Vater gut genug, um zu wissen, daß die eigentliche Ursache seines Unglücks Langweile war, die furchtbare Langweile des Lebens in der City, die Eintönigkeit von Unternehmungen, die sich immer weiter von der lebendigen Wirklichkeit entfernten, die Ödigkeit der Kalkulationen in engen Büroräumen, der ewigen Spiegelfechterei, der irreführenden Berichte in Sitzungssälen, die abgeschmackte Mühe, sich stets vor Augen zu halten, was Einlage- und Scheckbücher scheinbar und was sie wirklich bedeuteten, stets zu bedenken, was Herr X wußte und Herr Y nicht wußte. Solches Zeug im Hirne muß wie Spreu im Munde sein. Die City ist eine Falle für den Menschen; sie verheißt ein reicheres Leben und vernichtet unbarmherzig alle Lebenskraft. Es geht einem mit ihr wie dem Affen mit der Flasche voll Nüssen: er kann wohl mit der Hand hinein, kann die Hand vollnehmen, aber sie wieder herausziehen, das ist eine andere Sache. Und solange er die Hand nicht wieder herausgebracht hat, bleiben die Nüsse unaufgeknackt.
Mein Vater muß gefühlt haben, daß unter der Scheinblüte des Erfolges sein Leben ungenützt verstrich. Nur allzu klar erkenne ich sein ergrimmtes Bemühen, dem sinnlosen Possenspiel schmutziger und zweifelhafter Geschäfte irgendein greifbares Glück abzugewinnen, Glanz, Stellung oder Macht, ehe Alter und Tod ihn überraschten. Unsere Übersiedlung nach Mowbray war das erste frühe Symptom seines ungeduldigen Verlangens nach äußerem Prunke. Später, gegen das Ende zu, gab er sich tollen Vergnügungen hin; ich habe von glänzenden und kostspieligen Frauen gehört, die ihm das Leben zu genießen halfen; er soll lustige Tage in einer Mietsvilla in Monte Carlo verbracht haben – einige wenige Ansichtspostkarten ausgenommen, kamen von dort keinerlei Nachrichten nach Mowbray; und schließlich hatte er, so heißt es, ein Abenteuer mit einer heute vergessenen Schauspielerin, Lillie Morton, die im vertrauten Umgange mehr Reiz besessen haben mag als auf der Bühne. Um Vaters willen hoffe ich, daß dem so war. Noch ehe er mein heutiges Alter erreicht hatte, war das fieberhafte Spiel zu Ende.
So ging er hin. Und gleich ihm gehen ungezählte mutige und unternehmende junge Burschen durch die City – die Tragik ihres Loses mag weniger auffällig sein, doch altern sie gleich ihm, ohne jemals fertige Menschen zu werden. Sie sind ein flüchtiger Wirbel auf den tiefen Fluten eines Wandels, den sie nicht begreifen.