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Claras lebhafte Äußerungen – ich habe ihre gehässigen Reden angeführt, um meine Skizze Minnies zu vervollständigen – trafen merkwürdigerweise zuweilen trotz ungezählter falscher Einzelheiten im ganzen das Richtige. Minnie war weder schal noch prosaisch; sie war nicht uninteressant, aber es stimmt wohl, daß sie niemals über Dickon, niemals über das Leben Macht gewann. Er hatte Macht über sie gewonnen, und das war ihr recht; sie wurde warm dabei, soweit sie überhaupt warm werden konnte; doch wenn er sich von ihr gewandt hätte, würde nichts in ihr ihn festgehalten haben. Ihr Wesen besaß, wie ich längst erkannt hatte, sehr feine und mannigfache Abtönungen und war von vielfältiger Scheu und Zurückhaltung erfüllt; und niemals habe ich in einem Menschen einen so wenig heißen Lebenswillen gekannt.
Von allem Anfang an bezweifelte ich, daß Dickon die feinen Schattierungen ihrer Wesensart zu schätzen wisse. Seiner Natur nach liebte er grelle Farbtöne, die in die Augen fallen, weit mehr. Allmählich aber erkannte ich, daß er sowohl die Zartheit wie auch die feinen Tönungen ihres Wesens einfach übersah. Er glaubte tief und unerschütterlich an ihre Rechtschaffenheit, ihre Treue und ihren gesunden Menschenverstand, und sie rechtfertigte seinen Glauben. Was immer sonst sie ihm gewesen oder nicht gewesen sein mag, sie war seine Schatzkammer sozusagen, war ihm ein Hemmschuh und ein vorsichtiger Berater. Sie verstand es niemals, geistvoll zu sprechen; wenn Dickon aber Aussprüche, die sie getan, Meinungen, die sie geäußert, anführte, kam eine kluge und von der seinen völlig verschiedene Eigenart zum Vorschein.
Eine Zeit lang hatten sie keine Kinder. Dann kamen im Verlauf von vier oder fünf Jahren zwei Söhne und eine Tochter. Die Familie bezog das geräumige und vornehme Landhaus Lambs Court und nahm als Londoner Absteigequartier eine große Wohnung in Queen Anne's Mansions. Erst nach Minnies Tod und der Verheiratung des jungen Richard verließ Dickon Queen Anne's Mansions und übersiedelte in die Junggesellenwohnung in Bordon Street, in der dieses Buch beginnt. Es gab Zeiten, zwei bis drei Jahre mitunter, da ich mich im Ausland oder in Nord- und Mittelengland befand und Dickon und Minnie sehr wenig sah; daher geht meine Erinnerung ganz unvermittelt von dem recht gewöhnlichen Heim in der Cromwell Road, das ein etwas ängstliches Bemühen um Gediegenheit verriet, zu einem sehr hübsch eingerichteten und gut gehaltenen Landhause über, in dem eine kleine, aber schön gekleidete und mütterlich aussehende Minnie waltete, ihre Dienstmädchen verständig überwachte und einen sehr ehrerbietigen Gärtner in der Pflege des wunderschönen Gartens unterwies, den sie selbst angelegt hatte. Die beiden Gestalten verschmelzen nicht so vollkommen ineinander, wie es der Fall wäre, wenn unser Verkehr keine Unterbrechungen erfahren hätte. Die unreife, zartere und scheuere Minnie der früheren Zeit wäre dann ohne Zweifel Tag um Tag und Stück für Stück aus meinem Gedächtnis geschwunden und schließlich ganz in Vergessenheit geraten.
In dieser zweiten Phase war Minnie viel zuversichtlicher und packte das Leben viel fester an als in der ersten. In ihrer Beziehung zu Dickon zeigte sich eine leise Veränderung, doch könnte ich kaum sagen, worin diese eigentlich bestand. Vielleicht hatte sie Zeiten der Furcht durchgemacht und dann ihre Ruhe wieder gefunden. Dickons Haltung gegen sie schien mir ein wenig übertriebener und gezwungener als früher; es lag mehr Gewohnheitsmäßiges darin. Sie hinwieder betrachtete ihn nicht mehr mit dem glücklichen Interesse ihrer ersten Zeit. Es war, als ob sie sich an ihn gewöhnt und etwas hinzunehmen gelernt hätte, was anfangs nicht bestanden hatte, oder sich mit dem Nichtvorhandensein von etwas abgefunden hätte, woran sie einst geglaubt.
Sie war eine ausgezeichnete Gärtnerin geworden, was nach einer in Bloomsbury verlebten Mädchenzeit recht viel bedeutet. Überdies begann sie für Möbel und Bilder Verständnis an den Tag zu legen. Später wurde sie eine Sammlerin von Gemälden und Radierungen. Sie ließ Künstlern, die sich nicht durchzusetzen vermochten, Hilfe angedeihen, wandte sich aber von ihnen ab, sobald sie auf jene Anmaßung stieß, zu der Unterstützte neigen. Die Kinder waren damals liebe und glückliche Geschöpfe in einer vollendeten Kinderstube, in der eine ausgezeichnete und freundliche Pflegerin ihres Amtes waltete. Doch kann ich mich nicht besinnen, Minnie jemals mit ihnen herumtollen gesehen zu haben, und ich glaube nicht, daß sie je in ihrem Leben über sie in Ärger geriet. Trotzdem liebte sie sie. Mit Blumen und Möbeln befaßte sie sich, wie mir scheint, mehr, als mit lebenden Wesen; jenen konnte sie sich widmen, ohne befürchten zu müssen, daß sie laut und heftig Forderungen an sie stellen würden. Sie kletterten nicht an ihr hoch, sie schrien nicht und faßten sie nicht an, wie es menschliche Wesen zu tun pflegen.
Nach einiger Zeit stellte ich meine Besuche in Lambs Court ein. Fast sieben Jahre lang blieb ich dem Hause fern. Während Dickons Ehe sich glücklich gestaltet hatte, endete die meine in einem bösen Wirrsal, von dem ich später erzählen will. Ich war für den Rest meines Lebens gesetzlich an Clara gebunden und konnte nicht wieder heiraten. Als ein aufs neue zum Junggesellen gewordener Bruder war ich in Lambs Court willkommen, sehr willkommen, sogar noch nachdem ich im Evans'schen Scheidungsprozesse als Mitverklagter vor Gericht gefordert worden war; doch ich fühlte eine stumme Mahnung in Dickons Verhalten zu mir und eine wortlose Kritik in Minnies diskretem Stillschweigen. Zuweilen schienen Dickons Gesten, Redepausen und Handlungen fast ebenso deutlich wie Worte zu sagen: ›Mein lieber Junge, warum befindest du dich in einer so unangenehmen Lage? Es ist so unendlich einfach. Du hast nichts weiter zu tun, als dich mit einer Minnie zu verheiraten, sie gerne zu haben, ihr treu zu bleiben, für sie einzutreten, unablässig deiner Arbeit nachzugehen – und fremde Frauen dort zu lassen, wohin sie gehören: außerhalb deines Lebenskreises. Dann wird alles in Ordnung sein.‹
Es ist sehr möglich, daß mein Verdacht ungerecht war. Jedenfalls zeigte er sich immer wieder stolz auf seine Frau und war ihr ein so guter und treuer Gatte wie die meisten der reichen und strebsamen Geschäftsleute, die in Surrey wohnten.
Dann kam mein Versuch, mit Mrs. Evans zu leben. Es war um die Wende des Jahrhunderts, und die Engländer hatten es damals durchaus noch nicht gelernt, das Zusammenleben zweier nicht verheirateter Leute, so dauerhaft es auch sein mochte, zu dulden. Solange ich ein Weltmann war, der beinahe öffentlich eine Reihe von Liebesabenteuern hatte, wurde ich in der Gesellschaft überall gut aufgenommen; der Versuch jedoch, einen ungesetzlichen Hausstand zu gründen, obgleich es eine zwar sehr übel beleumundete, aber nicht geschiedene Clara gab, das war zuviel für die Normen jener Zeit. Hätte ich mich von Clara scheiden lassen und Sirrie Evans heiraten können, dann wäre alles schön und gut gewesen. Ich wollte dieses Verdikt nicht hinnehmen. Ich kämpfte. Ich legte übergroßen Groll an den Tag. Ich wollte Minnie nicht um Hilfe bitten, ich machte keinen Versuch, sie und Sirrie zusammenzuführen, ich sagte Dickon nichts, aber der beiden Mangel an Verständnis für unsere Lage war mir sehr schmerzlich. Minnie ging über die ganze Angelegenheit stillschweigend hinweg. Sie kannte diese Mrs. Evans nicht und wollte sie offenbar auch nicht kennen lernen. Sie lud mich allein nach Lambs Court ein, und ich beantwortete ihre Einladung nicht. Ich brach jede Verbindung mit ihr ab und sah sie erst etwa ein Jahr nach Sirries Tod wieder.
Bis auf den heutigen Tag kann ich mir diesen Mangel an Initiative in ihr kaum erklären. Zur Zeit der Evans'schen Scheidung standen Minnie und ich sehr freundschaftlich zueinander. Sie kannte Sirrie nicht, sie mag nicht bereit gewesen sein, ihretwegen ernstliche Ungelegenheiten auf sich zu nehmen, aber sie hätte immerhin voraussetzen können, daß die Frau, mit der ich lebte, auch gute Eigenschaften haben dürfte, und es wäre ihr leicht möglich gewesen, Sirrie auf irgendeinem Umwege zu begegnen und sie kennen zu lernen, bevor sie sich ihretwegen bloßstellte. Sie tat aber einfach nichts. Es gab eine ganze Gruppe von Leuten, die nicht das geringste taten, um uns zu helfen. Darin lag Kälte, lag etwas Abweisendes. Oder war es Schüchternheit? Oder ein Widerwille gegen Beziehungen, die leidenschaftlicher Art sein mochten?
Dickon kannte Sirrie oberflächlich. Man sollte glauben, daß er die eisige Scheidewand zwischen uns mit einem Worte hätte durchbrechen können. Doch er tat es nicht; vielleicht konnte er es nicht. Die Scheidewand war möglicherweise nicht einzig und allein um Sirries willen aufgerichtet worden. Für Minnie und Dickon mag Sirrie symbolisch mancherlei bedeutet haben, was wenig mit mir zu tun hatte. In London traf ich weiterhin mit Dickon zusammen. Wir waren beide Mitglieder des ›Ermine Clubs‹ geworden und pflegten dort gemeinsam zu essen und miteinander zu plaudern, doch ohne daß wir jemals auf die vollkommene Trennung unserer Haushalte anspielten. Niemals kam es zu einer Erklärung zwischen uns. Wir gehörten der gleichen Gruppe von Tischgefährten an. Wir spotteten gegenseitig über unsere Ansichten und gingen gelegentlich miteinander in ein Theater. Von dem übrigen Teile seines Lebens während der Zeit dieser Entfremdung erfuhr ich jedoch nur, was er mir aus freien Stücken mitteilte; ich stellte darüber keine Fragen. Über Minnie erhielt ich nur Auskünfte, die sie und ihn gemeinsam betrafen.
Ohne Zweifel machte seine Beziehung zu ihr manche Wandlung durch. Mitunter war sie ihm, wenn ich mit ihm zusammenkam, so fern und doch etwas so notwendig und selbstverständlich Vorhandenes wie der Atlantische Ozean oder der Äquator. Zu anderen Zeiten wieder erwähnte er sie fortwährend und zitierte einen ihrer Aussprüche um den anderen. Gerade dann war ich – seltsam genug – nicht so sicher, daß er heiter und unbedingt in ihr ruhte. Sowohl Dickon als auch ich haben es stets vermieden, uns ungebeten einer mit des anderen seelischen Erlebnissen zu befassen; trotzdem konnte ich mich an Tagen, da seine Rede von Anspielungen auf Minnie durchsetzt war, der Empfindung nicht erwehren, daß er etwas wie einen inneren Zwang verspürte, sich an sie zu klammern; was solchen Zwang verursacht haben mag, weiß ich nicht.
Was immer es an Mängeln und Schwierigkeiten im ehelichen Leben der beiden gegeben haben mag, welche geheimen Störungen seinen Fortbestand bedrohen mochten, nichts von alledem trat je als sichtbare Verletzung der Würde Minnies zu Tage. Ich weiß zufällig, daß Dickon einige Liebesabenteuer hatte, doch blieben die Heldinnen dieser Episoden im Dunkeln; sie wurden reichlich entschädigt und schwiegen. Er war, ich wiederhole es, ein so guter und treuer Gatte wie die meisten achtbaren und wohlgestellten Männer.
An einem Frühlingstage des Jahres 1910 wurde ich bei einer Tischgesellschaft im Hause Romer neben Minnie gesetzt. Sobald ich im Salon ihrer ansichtig wurde, war ich überzeugt, daß man mir den Platz neben ihr anweisen würde. Sie hatte sich wenig verändert; sie schien mir kräftiger, selbstsicherer und besser angezogen.
Ich machte zu dieser Begegnung so gute Miene, wie ich konnte. Ich fragte nach Lambs Court und den Kindern.
»William II. ist dir sehr ähnlich«, sagte sie. »Er hat Zeichentalent. Zusammen betrachtet, erinnern die beiden Brüder an Dickon und dich – sogar in der Art, wie sie einander beschimpfen.«
Ich müsse nach Lambs Court kommen, um die Kinder zu sehen, fügte sie hinzu.
Dann erklang ihre Stimme nach einer Pause aufs neue: »Billy,« sagte sie sehr weich, »es hat mir so leid getan, von deinem Verluste zu hören.«
Ich war zu erstaunt, um irgend etwas zu erwidern.
»Ich wollte dir schreiben. Es war dumm von mir ... Ich unterlasse so oft etwas – was ich tun möchte.«
Sie suchte nach einer Entschuldigung, errötete und blickte mir ehrlich in die Augen. Es war etwas wie ein Geständnis – für sie, die nichts zu gestehen vermochte. Sie wurde mir unbegreiflicher denn je. Ich war durchaus außerstande, sie mit der alten und nunmehr verheilenden Wunde meines Herzens in irgendwelchen Zusammenhang zu bringen, und gab den Versuch auf.
»Ich möchte William II. sehr gerne wiedersehen«, sagte ich nach längerem, peinvollem Schweigen. »Ich habe mein Patenkind vernachlässigt.«
»Am nächsten Sonntag vielleicht?« fragte sie verlegen ...
Es war der vertraulichste Augenblick, den es zwischen ihr und mir gab.
Darnach wurde unsere äußerliche Beziehung – und ich kann mir keine Freundschaftsbeziehung Minnies vorstellen, die, von seltenen Augenblicken abgesehen, anders als äußerlich gewesen wäre – wieder aufgenommen.