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Der Leser denkt nun vielleicht, daß alle die bisherigen Abschnitte an einem einzigen Regentage am Schreibtische Dickons in seiner Wohnung in der Bordon Street geschrieben worden sind. Der Anfang meines Buches könnte zu dieser Vermutung Anlaß geben. Es wäre ein hübsches Stück Arbeit für einen Tag! In Wahrheit bin ich dort nur bis zum achten Abschnitt gekommen; dann verfiel ich, in einem Lehnstuhl am offenen Feuer sitzend, in tiefes Nachdenken – über Elektronen. Und ähnliches. Die lange schlummernde Wißbegier meiner Jünglingszeit war neu erwacht. Es kam mir ein sonderbarer Einfall, ein kleiner Kobold sozusagen, ein Paradoxon, ein Atom von Erklärung; ich schrieb schließlich einige Notizen nieder, die aber für den Leser dieses Buches von keinerlei Interesse sind. Es wird auch nichts aus ihnen werden; die Zeit glücklicher Einfälle auf diesem Gebiete ist für mich vorbei. Die übrigen Abschnitte habe ich in meinem ›bureau‹, wie Jeanne mein Arbeitszimmer zu nennen sich nicht nehmen läßt, in der Villa Jasmin geschrieben.

Ich habe das in London Geschriebene hier nochmals durchgearbeitet, und mein Interesse an dem Werke wächst von Tag zu Tag. Es bedeutet mir mehr, als ich erwartete. Eine Autobiographie zu schreiben ist, vorausgesetzt daß man sich nicht an allzu strenge Regeln hält, eine fast unerschöpfliche Beschäftigung, wie ich merke. Nichts ist völlig belanglos. Was immer einen interessiert oder einmal interessiert hat, ist von Bedeutung. Schließlich werde ich wohl auch zu autobiographischen Einzelheiten kommen.

Ich bin nun seit vierzehn Tagen wieder hier in der Provence, und alles ist ganz so wie im vorigen Jahre: derselbe sonnenhelle Friede, dieselbe zarte Schönheit und wohltuende Frische in der Luft, dieselbe schlanke, rothaarige Clem, die wunderlicherweise immer noch behauptet, daß sie mich abgöttisch liebe und keinen anderen Mann wolle als mich, und die mich, so oft sie es wagt, überfällt und dauernd bestrebt ist, zwanzigerlei eingebildete Angriffe auf meine Ruhe und Bequemlichkeit abzuwehren. Alles ist genau so; nur mein kleines Kätzchen ist eine schöne graue Katze geworden und scheint mir durchdrungen von einem übermäßig stark entwickelten Gefühl der eigenen Wichtigkeit. Sooft ich einen Bogen fertig beschrieben habe und das Blatt von der Sonne genügend erwärmt ist, setzt sie sich darauf – in kritischer Betrachtung, könnte man meinen. Bei manchen Stellen schnurrt sie, folgt aber dabei, soweit ich unterscheiden kann, keinem bestimmten Grundsatze.

Die Villa Jasmin ist ein altes provenzalisches ›Mas‹, das heißt ein kleines Bauernhaus auf einem der terrassenförmig abgestuften und mit Olivenbäumen bepflanzten Hügelabhänge in der Nähe von Grasse. Kein Automobil kann dahin gelangen, es ist überhaupt erfreulich schwer zu finden, doch führt ein mit moosbedeckten großen Steinen gepflasterter Pfad bis hinauf und ermöglicht die Einschaffung von Brennholz, Kohlen und ähnlichem schwerwiegenden Haushaltsbedarf. Der Leser gestatte mir, das Haus eingehend zu schildern. Denn mein Buch wird, wie ich hoffe, zum größten Teil hier geschrieben werden; das Häuschen bildet den Vordergrund zu allem folgenden.

Seine hohe und kahle Vorderseite hat drei Stockwerke; die Hinterseite huschelt sich sozusagen in den Hügel hinein; sein einziger Schmuck sind eine Stuckwelle unterhalb der rotbraunen Dachziegel, scharlachrote Geranien, die bis zu halber Höhe emporwachsen, und Passionsblumen; die schmalen Fenster haben hölzerne Schließbeschläge und alte Holzläden, die ein cornischer Südwestwind im Handumdrehen aus den rostigen Angeln heben und wie dürre Blätter über den Erdboden hinstreuen würde. Vor dem Hause ist eine breite Terrasse, auf der ich das Frühstück und das Mittagmahl einnehme. Ihr Geländer ist von blaubeerigem Epheu überwachsen; in einer Ecke steht eine japanische Mispel mit kurzgeschnittenen Zweigen; das Rasenoval in der Mitte trägt eine schöne, üppig gedeihende Palme, umgeben von ehrerbietigen Rosenstöcken. Die andere Ecke überschattet ein großer Olivenbaum, dessen abgefallene schwarze Früchte jetzt weit über den Kiesboden hin verstreut liegen. Dahinter befinden sich außerhalb des Terrassengeländers etliche weitere Oliven- und einige Feigenbäume; ein breiter Kiespfad führt sehr zeremoniell zu einem großen Ölkruge, in dem eine vornehme, blütenlose Pflanze mit glänzenden Blättern wächst, und endet da würdig in einem Rondell. Auf der anderen Seite der Terrasse sieht man eine Gruppe stacheliger Agaven, bläulichgrün oder grün mit gelben Rändern, und einen großen steinernen Brunnen, in dem unsere Wäsche gewaschen wird – Jeanne läßt dort trotz Clems leidenschaftlicher Einwände immer wieder Eimer, Bürsten und Waschbretter zurück und entweiht dadurch die heitere Schönheit unseres Gartens. Weiterhin fällt der Blick auf zwei zarte graue Mimosen, einen großen alten Judasbaum, zwei anmutige Bäume, deren Namen ich nicht kenne, und die alles überragende und den Garten umschließende dichte Bambushecke.

Dauernd ist hier das Geräusch rinnenden Wassers zu hören. Ein Bächlein fließt vom Berg herunter; dicht an der Mauer speit ein steinerner Mund mit Lippen, die denen eines zornigen Affen gleichen, Wasser in den großen Waschbrunnen; unterhalb der Terrasse tröpfelt von den über und über mit Zungenfarnen und Haarmoos bedeckten Wänden einer gewölbten Nische Wasser in einen zweiten steinernen Brunnentrog. In einer Ecke des Gartens steht, von Schwertlilien umgeben, ein dritter Brunnen, ein kleines Becken aus Terrakotta, das mein Vorgänger aufstellen ließ. Es trägt eine Inschrift in griechischen Buchstaben, einen Satz, der von Heraklit stammt: ›Ðáíôá ?åé‹, alles fließt. Es gibt nichts dauernd Bestehendes.

Vor dem Hause fällt der Hügel steil ab; vom Haustor aus führen zwei Pfade rechts und links um die Terrasse herum, entschwinden dem Blick, vereinigen sich unten an dem Brunnen mit der Nische und laufen unter jetzt goldfarbigen Kastanienbäumen und grauen Oliven gerade und steil den steinigen Abhang hinab bis an zwei verfallende, aber immer noch stattliche Portalpfeiler, durch die man auf die Landstraße hinaus gelangt.

Mein Schreibzimmer ist im obersten Stockwerk gelegen, so weit als möglich von der Küche entfernt, denn provenzalische Dienstboten führen am liebsten dann Gespräche, wenn sie sich in einiger Entfernung voneinander befinden, auch klappern sie gerne mit Tellern und klopfen stets eine Weile auf Töpfe und Pfannen, bevor sie sie benützen. Es ist ein ruhiger und ernster Raum; die Wände sind grau gemalt, sechs Holzschnitte, vier von Mantegna, zwei von Dürer, bilden ihren einzigen Schmuck; die Einrichtung besteht aus einem schönen hohen Schreibpult, einem großen Schrank, in dem Bücher eingeschlossen sind – denn die Rücken moderner Bücher sagen, zur Schau gestellt, allzu viel –, einem mit Papieren bedeckten Tisch, einem zweiten, an dem ich schreibe, und einigen Binsenstühlen. Der Fußboden ist mit Ziegeln belegt – alle Zimmer des Hauses haben vom Alter geschwärzte Ziegelfliesen aufzuweisen; der Teppich ist von diskreter Buntheit, und in ein paar schöngeformte alte Töpfe aus zart verfärbtem und von feinen Sprüngen durchzogenem weißen Ton ordnet Clem täglich frische Blumen ein. Auch ein Ofen ist da, ein braver, gieriger, kleiner Wärmespender, in dem Holz und Tannenzapfen brennen. Das Fenster schaut fast genau südwärts über die Palme, die japanische Mispel und die Olivenbäume hinweg und bietet mir einen weiten und abwechslungsreichen Ausblick auf Hügel, Gipfel und fernere Bergeshöhen und noch weiter auf eine Hügelkette des Estérel-Gebirges und einen scharf in das Land eindringenden Streifen Wassers, der einer Schwertklinge gleicht. Und hinter dem letzten, fern verschwimmenden Landstrich zeigt sich in ernster Bläue das Meer, so daß der Horizont von einem Bande aus blauer Seide begrenzt erscheint.

Die Hügel sind alle terrassenförmig abgestuft und bepflanzt; Oliven herrschen vor, doch sieht man auch allerlei andere Bäume, hie und da Weingärten – rostfarben oder gelb – sowie andere Kulturen. Die Häuser stehen vereinzelt und sind schlicht, weiß, rosa oder blaßgelb getüncht, mit kleinen senkrechten Fenstern wie die Häuschen, mit denen ich als Kind spielte. Viele Zypressen, schwarzen Kerzen gleich oder warnend erhobenen Fingern, wachsen im Umkreis einzeln und in Gruppen; ich glaube, das Landschaftsbild wäre ohne die besondere Note, die es durch die Zypressen gewinnt, nicht halb so schön; und wenn der Himmel hell, aber leicht bewölkt ist, heben sich die Bäume auf den Hügelkämmen wie die Kante einer feinen dunklen Spitze gegen die sanften grau-blauen Fernen ab. Ganz nahe, zur äußersten Rechten, sehe ich eine einzelne Zypresse; sie steht gegen die Rückseite eines ärmlichen, hohen, grauen Hauses, ragt selber hoch empor und gleicht einer Feder; aus irgend einem Grunde gefällt sie mir besonders. Eine steil emporsteigende Reihe jäh zu Abgründen abstürzender Mauern, glatte weiße Fabriksgebäude, auf einem Hügelabhang zusammengedrängt und zum Teil in Nebeldunst gehüllt: das ist Grasse; ich erblicke es hinter den Olivenhügeln im Vordergrund meiner Rundsicht. Da und dort ragt ein schlanker Schornstein wie ein Minaret empor; die vertikalen weißen Linien wirken wie Stützen; der Rauch, der ihnen zuweilen – selten nur – entquillt, riecht wie Weihrauch. Die Kirche hat einen einzigen, hohen, viereckigen Turm, der alles überragt. Gerade in der Mitte meiner Rundsicht hinter einem Bergrücken und etwa zehn Meilen weit entfernt ist Cannes mehr zu fühlen als wirklich zu sehen.

Es ist ein heiterer, ein glücklicher Landstrich, das Leben wird dem Menschen hier leicht. Der Ackerbau hat wie die Landschaft selbst etwas Zartes, Wählerisches sozusagen. Man sieht hier weder Schweine noch Rinder; es gibt vereinzelte Schafe, die geradezu vornehm aussehen, wohlerzogene graue Gänse und fleckenlos weiße Hühner. Zuweilen bin ich auf freieren felsigen Plätzen zwischen den Hügeln kleinen, von einem Hirten begleiteten Ziegenherden begegnet. Sie paßten so wunderbar in die Gegend, daß man bei ihrem Anblick nicht an Landwirtschaft, sondern weit eher an ein schönes Zitat aus Theokrit dachte. Der Bauer, der unterhalb meines Hauses wohnt, züchtet Jasmin und Veilchen, und etwas weiter die Straße hinab liegen Felder sorgfältig gepflegter Rosenstöcke.

Am frühen Morgen ruhen scharf abgegrenzte Streifen weißen Nebels über den Flußläufen und in den Tälern zwischen den Hügelkämmen, und dann wird ein fünf oder sechs Meilen von hier entfernter kegelförmiger Gipfel zu einer zauberhaften Insel. Die Umrisse des Landschaftsbildes sind den ganzen Tag leisen, sanften Schwankungen unterworfen; Hügelabhänge werden eine Weile von der Sonne beschienen und verschwinden dann, Felsvorsprünge und Gipfel, die kaum zu sehen waren, treten allmählich hervor, indem sie die Sonne auf ihrem täglichen Laufe erreicht. Gegen Sonnenuntergang erstrahlt das auf einem sechs Meilen entfernten Bergrücken gelegene Örtchen Mougins zuweilen in solchem Glanze, daß mir Bunyans himmlische Stadt in den Sinn kommt. In der jetzigen Jahreszeit werden allenthalben dürre Blätter und andere Abfälle verbrannt, unablässig steigt der helle, an Flaumfedern gemahnende weiße Rauch der Feuer empor, breitet sich aus, verzieht sich, und neuer folgt ihm. Von Zeit zu Zeit macht sich ein lächerliches einspuriges Eisenbähnchen durch eine lange Schlange weißen Dampfes bemerkbar, die sich eilfertig im bläulichen Grün und Grau bettet, eine Weile verharrt und dann gleich einer flüchtigen Erinnerung verblaßt.

Fast immer wölbte sich ein klarer tiefblauer oder von leichten Wolken zart gestreifter Himmel über diesem Lande, und der Sonnenschein ist ein Segen. Die Glut der Abendröte erquickt das Herz. Bald darauf sind die nahe gelegenen Häuser nicht mehr scharf zu sehen, sie verschwimmen immer mehr und werden schließlich zu weißen Schattenbildern der Dämmerung. Inmitten der zunehmenden Dunkelheit tauchen vereinzelte Lichter auf.

Ich kenne keinen Himmel, der den Menschen bei Tag wie bei Nacht freundlicher anheimelte als der der Provence. Sogar der Regen, der so selten ist, hat etwas Vertrauenerweckendes, und sein Geflüster klingt entschuldigend und tröstlich. In der verflossenen Nacht sah ich den Morgenstern und den abnehmenden Mond dicht beieinander über dem Kamm des Hügels von Peyloubet. Mein Schlafzimmerfenster, das nach Osten schaut, glich einem leuchtenden Bilde an der Wand des Zimmers: von seinem Rahmen umschlossen, zeigte sich mir, in der tiefen Bläue des Morgens auf den Rücken gebettet, der abnehmende Mond und in seinen Armen, blaß, aber deutlich erkennbar, der neue. Meine Augen sind, glaube ich, ein wenig astigmatisch, denn ich sah die Venus nicht als kleine Scheibe, sondern als einen weißen Schimmer lachenden Lichtes, und mir war, als ob sie belustigt auf jene Gruppe deutete. Mit einem Male verstand ich, warum nur Tschechen, Dänen, Polen, Schweden, Engländer und andere Völker des nordischen und baltischen Gebietes sich über die ungeheuren Entfernungen zwischen den Planeten klar werden konnten. Den Bewohnern der Mittelmeerländer scheinen die Gestirne nicht fern; in der Provence steigt Diana immer noch auf die Hügel herab, und trotz aller modernen Wissenschaft schweben hier die Himmelskörper wie in längst vergangener heidnischer Zeit harmonisch durch kristallene Sphären.

Wahrscheinlich schlummerte ich ein Weilchen, denn als ich wieder hinsah, waren Mond und Morgenstern verschwunden, und der Himmel glühte in Erwartung des nahenden Sonnenaufganges. Einige Zeit lag ich nun wach, dann stand ich auf und ging ans Fenster, um zu sehen, ob mein kleiner Hügel bei Cannes schon seine Nebelschleier um sich gesammelt habe und geneigt sei, den Gipfel darüber emporhebend, mir eine Zauberinsel vorzutäuschen.

Dies ist augenblicklich der Vordergrund meiner Welt. Seit vielen Jahrtausenden wohnen Menschen in diesen Tälern; und wenn irgendwo auf der Welt, so herrschen hier Friede und dauernde Anpassung, sollte man meinen. Eine kurze Autofahrt in östlicher Richtung ermöglicht den Besuch der Grimaldi-Höhlen, in denen einige der frühesten Menschenschädel gefunden wurden, und im Westen ist Moustiers mit seinen noch älteren Spuren menschlichen Lebens ebenso rasch zu erreichen. In fünf bis sechs Stunden weiterer Fahrt gelangt man nach Cro-Magnon in der Dordogne. Der Boden ist allenthalben reich an Überresten aus vergangener Zeit, von behauenen Feuersteinen angefangen bis zu phönizischen Glasperlen, römischem Ziegelwerk und irdenen Gefäßen aus dem Mittelalter. In Grasse stehen die neuesten Villen auf alten Grundmauern. Fast möchte man dieses Land die ewige Heimstätte des Menschen nennen. Der Boden ist ergiebig, die Witterung günstig, unter den Tieren, die hier leben, hat der Mensch keinen unversöhnlichen Feind, und es gibt nur wenige Krankheiten. In diesem Erdstrich wird der Mensch, so sollte man meinen, geboren, um nach uralter Gepflogenheit zu leben, er kann, dem Brauche seiner Ahnen folgend, glauben und Gott dienen und stirbt am Ende, von den Segenssprüchen seiner Kirche getröstet, so friedlich, wie ein Kind in den Armen seiner Wärterin einschläft.

In Wahrheit aber ist dieses liebliche und umfassende Schauspiel nur eine Maske ruhiger Schönheit vor dem Antlitz der Veränderung. Indes ich hier sitze und schreibe, höre ich die Schläge einer Axt und das Knarren einer Säge, von Zeit zu Zeit ertönen Rufe, und es folgt ein dumpfer Krach. Unter alten verhutzelten Bäumen knistert ein helles Feuer. Ein Bauer jenseits meiner Zypressenfelder ist emsig daran, seinen Olivengarten zu zerstören; denn er will auf seinem Grundstück Jasmin pflanzen. All die zähen, knorrigen Wurzeln auszuroden, wird ihn nicht wenig Mühe kosten. Die meisten Bauern der Gegend verwandeln ihre Olivengärten in Jasminpflanzungen; sie arbeiten für die Parfümfabriken in Grasse, die der sehr vergänglichen und schwankenden Welt des Luxus in Paris, London und New York dienen. Ein Umschwung in der Parfümmode oder irgend eine chemische Erfindung können die Blumenzucht allen Profits berauben, und dann werden Not und Sorge die Hügel hier heimsuchen; denn die Olivenzucht wieder aufzugreifen, wird unmöglich sein. Es dauert lange, bis neu gepflanzte Olivenbäume Früchte tragen, zu lange, als daß heutzutage jemand darauf warten könnte.

Das Schicksal dieses Landstrichs, der seine Bewohner so leicht zu ernähren scheint, hängt also von den großen Verbrauchszentren ab; die versteckten kleinen Bahnlinien gleichen Saugarmen der üppig wuchernden großen Städte; sie haben der hiesigen Gegend alle Selbständigkeit abgezapft. Heimtückisch hat Paris das ländliche Leben hier unterjocht. Dem äußeren Anschein nach ist es heute noch ungefähr dasselbe wie vor hundert Jahren, da es hätte fortbestehen können, wenn auch alle übrige Welt zugrunde gegangen wäre; in Wirklichkeit aber sind die Bauern auf diesen Hügeln ebenso gefährdet, als ob sie inmitten des Verkehrs der Champs Elysées lebten. Sie werden erzogen, sie werden fortgelockt, sie werden in das Heer eingereiht und demoralisiert, Künstler und Wintergäste gleich mir verdrängen sie aus ihren Heimstätten, man nimmt ihnen Grund und Boden ab, um Villen zu bauen und Gärten und fremdartige neue Kulturen anzulegen.

Just außer Hörweite verläuft auf dem Hügel hinter mir, Grasse berührend, die große Landstraße von Paris nach Nizza, auf der in fieberhafter Hast ein neues Geschlecht reicher Leute einherrast, Menschen, die keinen Zusammenhang mit den Traditionen der Vergangenheit haben und, so will es scheinen, keinerlei Interesse für die Zukunft aufzubringen vermögen. Sie besitzen unberechenbare Macht über den Franc, von dem die hiesigen Bauern abhängen. Ihre großen, dickräderigen Autos fahren ratternd und tutend vorbei, der Chauffeur richtet den Blick starr auf die Straße, und die Reisenden – sind eben Reisende. Niemals noch sind Menschen so durchaus Reisende gewesen. Sie werden gleich Säcken befördert. Die Kleider, die sie tragen, ja selbst noch die Gesichtsfarbe der Frauen unter ihnen, haben Pariser und Londoner Kaufleute den passiven Körpern aufgezwungen, ehe sie in ihre Autos gepackt und abgeschickt wurden. Es scheint unmöglich, daß die finanziellen Wirkungen, die von ihnen ausgehen, anderer als rein automatischer Art sind. Trotzdem haben sie die Macht in Händen. Oder sind zumindest Werkzeuge einer blinden Macht. Sie machen die Olivengärten hier verschwinden und verwandeln die Bauern in Gärtner, in Blumenzucht-Spekulanten für ihre Parfümfabriken oder in Bedienstete für die zunehmende Zahl ihrer Villen. Ohne durchdachten Plan, ohne bestimmtes Ziel, sind sie daran, das Antlitz der Erde zu verwandeln. Und das nicht nur hier allein.

Mein Fenster schaut gegen Süden. Moderne Fabriken, Bergwerke und Hochöfen, Arbeiterwohnstätten, die ganze traurige Verunstaltung der Welt durch die Industrie, liegt weit hinter mir, weit außerhalb des Bildes, das sich meinem Auge darbietet. Die Werkstätten, die zu planen und aufzubauen ich mitgewirkt habe, die Fabriken, Lagerplätze und Magazine der Handelsunternehmungen, für die ich arbeite, samt all den dazugehörigen Büros sind hier vergessen. Dort drüben, rechts von mir, in Spanien, werden Hügel und Berge von uns aufgerissen und nach Mineralen durchwühlt; und in den eben hinter jenem Felsvorsprung gelegenen Parfümfabriken von Grasse mag es unzufriedene Arbeiter und Mißstände aller Art geben. Aber das sind nur kleine Ausläufer der großen Welt der Massenarbeit; der Feuerschein einer Gießerei oder eines Hochofens fehlt in meinem Bilde; südlich von hier bis zum Äquator gibt es keine Fabrik, deren zahllose Fenster hellerleuchtet die Dunkelheit der stillen Nacht durchbrächen. Das große Getriebe der Industrie liegt fernab von meinem Ausblick, auf daß es mich nicht störe, weit, weit weg hinter schützenden Hügeln und Bergen, jenseits des Bollwerks der Erde in meinem Rücken, das den Norden der Sonne beraubt, die ich hier genieße. Man dächte hier überhaupt nicht daran, wenn die Leute nicht wären, die in ihren Automobilen von Paris, Lyon und Grasse die Landstraße entlang nach Nizza, Monte Carlo und Italien rasen, und die noch größere Schar, die in den Schlafwagen- und Luxuszügen der Eisenbahnstrecke längs der Küste herbei rollt: diese Menschen bringen einem verstohlen die ferne schwelende Dunkelheit der Arbeit in Erinnerung. Hastig kommen sie herbei, einer drängt den anderen, es ist, als ob sie Hals über Kopf dahinstürzten, sich auf der Flucht befänden, auf der Flucht vor Dingen und Gedanken und vielleicht vor Befürchtungen, die sie zu vergessen wünschen.

Ich aber möchte nicht vergessen. Ich möchte nur eine Weile jenem Getriebe ferne sein und nachdenken.

Hier sitze ich nach Sonnenuntergang am Fenster, meine Katze schnurrt vor dem knisternden Ofen, in dem soeben Tannenzapfen aufzuflammen begonnen haben. Mein kleines Arbeitszimmer ist freundlich, behaglich und hell im Scheine der frisch entzündeten Lampe, draußen aber, hinter dem Schleier der blauen Stille, der immer dunkler wird, liegt die unaufhörlich hastende Welt. Das Bächlein, das unter meinem Fenster vorüberplätschert, hat es nicht halb so eilig.

Könnte ich einen zehn Meilen langen Arm ausstrecken und eine kleine Bodenwelle glatt streichen, so würde ich die Lichter von Cannes und Antibes erblicken und all die Hotels und prächtigen Villen dort, und wenn mein linker Ellenbogen einige unbedeutende Hügel beiseite zu schieben vermöchte, so zeigte sich mir auch Cagnes und Nizza und noch weiter entfernt Villefranche, Beaulieu, Monte Carlo und Mentone. Von hier aus gesehen, würden diese Orte kleinen Flecken brennender Sandkörner längs der dunklen Küste gleichen. In ihnen beginnt der Abend eben erst. Durch die nahen Schatten der Hügel wandern nun die Bauern von der Arbeit heim, unsichtbar im Zwielicht; sie werden ihr Abendbrot verzehren, dann noch ein Weilchen sitzen bleiben und plaudern, bald aber die Lampe, in der amerikanisches Parafin brennt, auslöschen und zu Bette gehen. Die ganze Riviera entlang jedoch vollzieht sich zur selben Zeit der umständliche Ritus des Diners, Myriaden von Köchen und Kellnern sind geschäftig daran, in endloser Wiederholung die allgemein als gut und fein anerkannte Speisenfolge herzustellen und zu servieren, Tausende von Badewannen werden eben gefüllt, Hunderte von Männern bemühen sich in diesem Augenblicke, das Frack-Hemd über den Kopf zu ziehen, und schöne wie häßliche Frauen jedes Alters schmücken sich für den von künstlichem Lichte erhellten, bedeutungsvollen Teil des Tages. Sie werden allesamt etwas zu viel von dem prunkvoll-faden Menu essen, die meisten auch etwas zu viel trinken, dann werden sie bei den Klängen einer imitierten Negermusik gleich Automaten tanzen, werden wahllos flirten, auf furchtsam-verlogene nächtliche Abenteuer ausziehen, armselige kleine Ehebrüche und Hurereien begehen, sie werden Hazardspiele spielen, und zwar nach einem feierlich ersonnenen System, das den scherzhaften und respektlosen Launen des Zufalls vorbeugen will, um sich schließlich in zu später Stunde, fremd in den Künsten der Liebe, plump und roh der Wollust hinzugeben und einzuschlafen.

Trotzdem scheinen diese Menschen, einzeln und in Massen, Entscheidungen zu treffen, die ökonomischen Geschehnisse scheinen von ihnen auszugehen. Sie gehaben sich, als wären sie in weit geringerem Maße denn die Bauern stumm dem Schicksal unterworfene Geschöpfe. Es ist schwer zu glauben, daß dem wirklich so sei.

Mein Geist gleitet über die Vergnügungsorte der Riviera, diese Flecken eines leuchtenden Ekzems im Angesicht der Erde, hinweg zu weiterem Fluge. Da draußen liegt das Mittelmeer; wenn mein Auge über die glatte Wölbung der Wasser hinweg sehen könnte, würde es die hellerleuchteten Schiffe erblicken, die Genua ostwärts und Marseille gegen Westen sendet. Meine Einbildungskraft folgt ihrer Spur weiter und immer weiter rund um die Erde, durch Meeresstraßen und enge Gewässer hindurch bis in die Tropen, in die Häfen und an die Warenlager Indiens und des fernen Ostens, und an Gibraltar vorbei nach Süd-Afrika und Nord-Amerika, in fremde Städte und große Flußmündungen. Eine Weile verharrt mein Geist bei diesen Schiffen, die so winzig sind und heimatlos in der Wildnis der Gewässer; ich sehe die ernsten Ingenieure, die Dampf- und Öldruck überwachen, die Offiziere im Navigationsraum, die Heizer, ganz klein in der weiten Ferne, wie sie im Schweiße ihres Angesichts an den Kesseln arbeiten, und die Reisenden – wiederum Reisende! –, die den windstillen Abend loben und sich auf das Diner freuen. Welch ein verworrenes Gemenge von Gepflogenheiten und Beweggründen treibt doch jene Schiffe über die Welt hin – sinnlos zusammengewürfelt die Ladung, die Passagiere ohne Ziel und Absicht, die Fahrt ohne Gewinn.

Auf meinem zweiten Tisch liegen drei Tage alte englische Zeitungen, ferner der gestrige ›Quotidien‹ und der ›Eclaireur‹ von heute. Auch verschiedene Londoner Wochenschriften, die ›Weekly Times‹ und der ›Manchester Guardian‹. Indem ich mir ins Gedächtnis zurückrufe, was ich heute darin gelesen habe, scheint der Ausblick aus meinem Fenster weiter und immer weiter zu werden, seine Grenzen rücken vor, über das Mittelmeer hinaus gegen Osten und Westen, nach Oran und Marokko, an den Atlas, nach Ägypten und dem Sudan, nach dem steinigen Arabien und Jemen, nach dem Hadramaut, nach Basra und Ormuz, nach Indien und China, und dann nördlich über das Pamir-Plateau und immer weiter, bis sie schließlich die ganze Erde umfassen, ineinanderfließen und verschwinden. In Afrika drüben, dort hinter dem Wall des Estérel-Gebirges, just auf der Rundung der Erdkugel jenseits der Wasserfluten, weichen die Spanier vor den von Abd el Krim geführten aufständischen Stämmen des Rifs zurück. Es ist ein hastiger Rückzug, die Spanier erleiden schwere Verluste, noch schlimmere stehen ihnen wahrscheinlich bevor. Der heutige Abend kann ihnen keine Ruhe bringen. Indem ich dies schreibe, mag ein armer Bauernjunge aus Andalusien oder Kastilien eben in furchtbarem Schmerze zusammenzucken, eine flachgedrückte Kugel zwischen den zerschmetterten Wirbeln seines Rückgrats. Er stürzt zu Boden, und wenn keine Ambulanz in der Nähe ist, wird man ihn der Gnade der Verfolger überlassen müssen. Fast kann ich die traurigen Gestalten leibhaftig vor mir sehen, die sich vereinzelt durch die weite, öde Felslandschaft schleppen, und die zusammengekrümmten Leichname, die still liegen, bis umherstreifende Raubtiere sie entdecken. Auch das ist in meiner Welt, ist ganz so gewiß in ihr wie die friedlich stillen Hügel der Provence.

Der spanische Rückzug läßt die französischen Besatzungen in Marokko recht gefährdet auf weit vorgeschobenem Posten, und ganz Nordafrika befindet sich, wenn ich die Nachrichten recht verstehe, in einem Zustande, der bedrohlicher ist, als die Zeitungen zugeben wollen. Heute nachmittag war aus dem Hügellande hinter Grasse ein mächtiges Rattern von Maschinengewehren zu hören. Es hat sich eine Abteilung von sauber aussehenden gelbhäutigen Soldaten dort niedergelassen, Madegassen, wie man mir sagt; sie vervollkommnen sich in der Gefechtskunst – denn wer weiß, was noch geschehen mag? Als ich vor kurzem von London hieherreiste, zog ich am frühen Morgen den Fenstervorhang in meinem Schlafwagenabteil hoch und betrachtete die merkwürdige, zerklüftete Landschaft rings um Toulon, die weit mehr spanischen oder afrikanischen als französischen Charakter hat; da sah ich im hellen Morgenlichte Kompanien dunkelhäutiger Männer in Khaki-Uniform, die zwischen den bräunlichen Felsen mit Maultieren und Gebirgsgeschützen manöverierten.

Etwas weiter östlich auf dem Bilde, das ich heute abend vor Augen habe, dampfen britische Kriegsschiffe durch die Dunkelheit gegen Alexandria. Auch Ägypten ist in Bewegung. Der Sirdar des Sudan ist in Kairo von einer Studentenschar nach wohldurchdachtem Plane ermordet worden, und die neue Tory-Regierung in London hat zu Gewaltmaßregeln gegriffen. Mekka jenseits des Roten Meeres ist in den Händen der moslemitischen Puritaner, und der von Britannien eingesetzte König hat bisher die Stadt noch nicht wieder zurückzuerobern vermocht. Entlang der ganzen schwärenden Berührungslinie zwischen dem Islam und der westlichen Welt sind Krisen ausgebrochen. Außerhalb meiner Hörweite und meines Gesichtsfeldes, meiner Einbildungskraft jedoch wunderbar nahe, befinden sich heute abend Tausende und Abertausende von Menschen in furchtbarer Not und Erregung, und das wegen grundloser Konflikte, wegen ungeordneter Beziehungen, die an sich belanglos, fast ebenso verheerend und dabei ebenso unfruchtbar sind wie Erdbeben oder Wirbelstürme.

Die Zeitungen, schwach sichtbar im Schatten, der über dem Tische liegt, enthalten noch mehr der Nachrichten über Streit und Krieg. Ich besinne mich auf Einzelheiten über religiöse Erhebungen in Indien und über die Machtbestrebungen militärischer Führer in China; ansehnliche Armeen liegen dort im Kampf miteinander. Die britische Regierung hat den Vertrag ihrer Vorgänger mit Sowjet-Rußland nicht ratifiziert, so daß sich auch dort Störungen vorbereiten. Über Amerika war heute nicht viel zu lesen, nur ein Bericht über steigende Preise und eine Notiz über einen Kampf zwischen dem Ku-Klux-Klan und einer Abteilung der Staatsmiliz, bei dem Blut vergossen wurde. Doch all die Zeitungs-Überschriften und -Artikel sind ja nur plötzliche Wirbel, Gischt – blutrot gefärbter Gischt zuweilen – und Schnellen auf der Oberfläche des breiten und unablässig dahinrollenden Lebensstromes. Den Rest der Geschehnisse ahne ich wohl, kann ihn aber nicht sehen. Zwischen den verschiedenen verstreuten und mehr oder weniger bedeutsamen Einzelheiten, die wir erfahren, liegt eine Fülle nicht verzeichneter Krisen und unbeachtet gebliebenen Wandels. Allüberall sterben alte Menschen und junge setzen sich durch; neue Gepflogenheiten und Ideen verdrängen Schritt um Schritt die alten. Der Geist der Welt ist heute abend weder, was er gestern war, noch, was er morgen sein wird. Es ist, als ob es im allgemeinen Fluß der Dinge nichts Beständiges gäbe.

Je weiter mein geistiges Auge blickt, indes ich hier an meinem Fenster sitze, desto vergänglicher scheint mir das Schauspiel. Trotzdem wird in den meisten Schilderungen und kritischen Betrachtungen des Daseins, die mir in die Hände fallen, immer noch aller Wandel in Frage gestellt, jeder Fortschritt geleugnet. Immer noch schreiben Leute von den ›unveränderlichen Grundzügen‹ der menschlichen Natur und den ›ewig gleich bleibenden Bedingungen‹ des menschlichen Lebens. Wenn sie vom menschlichen Leben sprechen, denken sie anscheinend stets an das Leben des Bauern, an Saat und Ernte, Geschlechtstrieb und Kinder, Arbeit und Ruhe. Sie sehen es mit dem Boden verknüpft, von ihm erneuert, und diese Form des Daseins dünkt sie so notwendig und unumgänglich wie der Wechsel von Tag und Nacht. Jedweden wesentlichen Wandel in Abrede zu stellen, ist, wenn ich nicht irre, eine der Grundlagen des katholischen Glaubensbekenntnisses. Und indem die Menschen jeden wesentlichen Wandel leugnen, trösten sie sich über die Kürze ihrer einzig und allein auf ihr Selbst konzentrierten Laufbahn. Wer gelernt hat, die Erbauung Roms und das Griechenland Homers und Hesiods in den Brennpunkt seines allzu kurzen historischen Ausblicks zu rücken, dem mag allerdings das bäuerliche Leben als ewig bestehend gelten. In Wahrheit aber liegt dem Wandel in der Welt keine unveränderliche Unterschicht zugrunde. Alles verändert sich, Wurzel sowohl als Blüte. Weniger schnell zwar, aber ebenso gewiß wandelt sich der Bauer mit dem Reste der Menschheit. Die Terrassen und die Olivenbäume dieser Gegend, heute scheinbar eins mit dem ursprünglichen Plane der Natur, haben noch keine fünfundzwanzig Jahrhunderte hier gestanden. Und nun verschwinden sie.

Vor ihrer Zeit bewohnten viehzüchtende Barbarenstämme den Küstenstrich. Und deren Vorgänger waren noch barbarischer. Vor einigen wenigen Jahrtausenden war das Land hier Urwald und seine Bewohner Wilde. Der Mensch der Grimaldihöhlen hat keinen Verwandten unter den heutigen europäischen Rassen; zu seiner Zeit scheint hinter jenen Hügeln, die meinen Horizont begrenzen, kein Meer, sondern ein großes Tal gelegen zu haben. Menschen wohnten dort, und man konnte trockenen Fußes nach den dichten Dschungeln hinüberwandern, die sich damals über Nordafrika hinzogen. Und wenn wir noch einige Jahrtausende weiter zurückgreifen, zurück auf das Zeitalter der Überreste, die in den Höhlen von Moustiers gefunden worden sind, dann müssen wir uns die Gegend hier als rauhes, ödes Bergland vorstellen, in dem der Höhlenbär umherstreifte und das Mammut und das wollige Rhinozeros durch reif bedecktes Dickicht brachen; der einzige Vertreter unseres Geschlechtes war damals ein grausiges, finster blickendes Geschöpf, von dem wir so gut wie nichts wissen.

Παντα ῥει, alles fließt. Bloß weil es mir nicht länger als eine kurze Frist vergönnt ist, an diesem Fenster zu sitzen, kann ich nicht sehen, wie das Bild sich wandelt, verschwindet und neuen, noch nicht dagewesenen, aber ebenso vergänglichen Erscheinungen weicht. Doch daß alles vergeht, des kann ich sicher sein: Bauern und Städte des Luxus, Schiffe und große Reiche, Waffen, Armeen, Rassen, Religionen und die jetzigen Lebensformen des Menschen. Könnte der Augenblick, der mir gewährt ist, zu einem Jahrtausend erweitert werden, dann schiene das Schauspiel, das sich mir heute bietet, von kürzerer Dauer als ein Sonnenuntergang, und die ganze Tragödie des jetzigen Zeitalters wäre das flüchtige Geschehnis eines Nachmittags. Ich vermag in der Welt, die mich umgibt, nichts Bleibendes zu entdecken; weder die Hügel noch das Meer, weder Gesetze und Bräuche noch die Natur des Menschen, nichts ist von Bestand – außer einem: dem steten Wachstum von Wissen, Erkenntnis und Macht.

Wissen, Erkenntnis und Macht nehmen stetig zu. Ich weiß nicht, warum dem so ist, aber es ist so. Dieses Wachstum hat angehoben, noch ehe es den Menschen gab. Unendlich langsam schritt es fort. Nun gewinnt es an Schnelligkeit und Tragweite. Es ist die Grundlage meiner Auffassung vom Dasein. Der Mensch, lange Zeiträume hindurch unbewußt, beginnt nunmehr, in dem einen Individuum hier, in dem anderen dort, sich über seine Möglichkeiten klar zu werden und von der Größe seiner Bestimmung zu träumen. Eine neue Phase der Geschichte will anheben.

Aber sie hat noch nicht angehoben. Die Welt, die ich heute abend betrachtet habe, ist noch nicht erwacht. Sie erfüllt ihr Schicksal willenlos, gleitet sozusagen die zufälligen Abhänge und natürlichen Rinnen der Bestimmung hinab. Nicht einem Zwecke gehorcht sie, sondern einem Gravitationsgesetze. Ihre mit Willen vollbrachten Leistungen kommen kaum in Betracht. Was wir bisher an Wissen errungen haben, kann uns den Weg, den wir gehen müssen, ahnen, aber noch nicht klar erkennen lassen. Die Morgendämmerung ist noch nicht da. Ein stilles kleines Licht nur hat zu leuchten begonnen, klar, bestimmt und hoffnungsvoll, der Morgenstern, der dem kommenden Tagesanbruch vorausgeht. Das Wissen, das wir heute besitzen, schließt die Verheißung jenes umfassenden größeren Wesens in sich, dem die denkenden Geister vieler Generationen entgegenstrebten.

Ich lasse die Vorstellung von dem allumfassenden Geiste, der sich entwickeln will, nicht einfach gelten, sondern fühle mich völlig von ihr durchdrungen; sie ist das natürliche Ergebnis meines geistigen Werdegangs. Mit der Leichtigkeit eines gründlich Vorbereiteten stimme ich der neuen Wissenschaft der Psychoanalyse bei, wenn sie darauf hinweist, daß ein neuer Entwicklungsabschnitt, ein Lebensalter größerer Reife, besserer Selbsterkenntnis und Selbstbeherrschung nunmehr den Kreis des Daseins erweitert und uns zu einer umfassenden geistigen Gemeinschaft zusammenfügt. Wir werden unpersönlicher, unser Verlangen nach Zusammenarbeit wächst, wir gewinnen an selbstloser Schaffensfreude.

Der Mensch ist seit langem ein widerspenstiges Kind der Natur; daß er dem Schicksal vorzugreifen, es abzuwenden versucht, ist nichts Neues. Schon hat er sich seine Welt umgestaltet; er hat das Wasser, das diese Abhänge hinabfließt, in ein Bett neben dem gepflasterten Pfade gezwungen, er hat Terrassen gebaut, die dem Abbröckeln des Erdbodens steuern. Wasser und Erdreich gehorchen hier seinem Willen. Rings um das Haus steht kaum ein Baum, der nicht gepflanzt oder als zweckmäßig geduldet worden wäre. Jedes Tier, zu groß, als daß es frei umherstreifen oder in Erdlöchern hausen könnte, ist unterjocht worden. Doch hat sich die Herrschaft des Menschen bisher nur stückweise geltend gemacht; sie kann nicht umfassend sein, solange es an umfassender Einsicht fehlt. Wer aber will bezweifeln, daß wir diesem Mangel abhelfen werden?

Da sich der Mensch in wenigen Jahrtausenden aus einem einsam in Felsenhöhlen lebenden Wilden zu dem Techniker, dem Chemiker und dem Psychologen der heutigen Zeit entwickelt hat, da heute geistige Regsamkeit und Aufklärung in raschem Zunehmen begriffen sind, da dem Fortschritt der Menschheit keinerlei positive Hindernisse im Wege stehen, sondern nur negative – wie Unwissenheit, Starrsinn, Gewohnheit, Zweifel und abergläubische Furcht, die dem Lichte weicht, – fällt es mir nicht schwer zu glauben, daß das Menschengeschlecht, dem ihm angeborenen Triebe folgend, in einigen wenigen Generationen, binnen kurzem also, ein Leben führen wird, das uns wunderbar erschiene, wenn wir es vorwegnehmen könnten, ein Leben, so kraftvoll, harmonisch, lieblich und dabei so herrlich ereignisreich, wie wir es heute nicht einmal zu erträumen oder zu erwünschen vermögen. Diese neue Daseinsform mag uns näher sein, als mancher unter uns zu vermuten wagt, denn ihr Entstehen hängt fast nur von einem bewußten Zusammenarbeiten der Menschen ab. Noch vermag niemand abzuschätzen, welche Möglichkeiten des Zusammenarbeitens ein auf neuer Grundlage aufgebautes Erziehungswesen eröffnen wird. Daß es langer Jahrhunderte bedurfte, um aus dem trüben Lebenslaufe des tierischen und widerspenstigen Menschen der paläolithischen Zeit das freie Dasein zu gestalten, das wir heute führen, ist kein Maßstab dafür, welch schneller Wandel durch bewußtes Bemühen bewirkt werden mag.

Indem ich in die Welt hinaus auf die Hügel vor mir blicke, die nun friedlich unter dem glitzernden Nachthimmel ruhen, erkenne ich so klar, wie ich die Sterne droben sehe, daß Vergeudung und Verworrenheit unseres kleinlichen, an Nöten reichen und zerstückten Lebens – dieses Lebens, das so hastig ist, so zuchtlos und so tragisch albern – einem bewußten und wohlgeordneten Dasein zu weichen beginnen, einem Zeitalter, in dem die Menschheit die Erde besitzen und beherrschen wird.

Im Frieden dieser sternenhellen Stunde vermag ich weit zu sehen. Ich vermag die beunruhigenden Ereignisse, von denen die außerhalb des Lampenscheins liegenden, nunmehr unsichtbaren Zeitungen melden, auf ihren richtigen Maßstab zurückzuführen. Die Dunkelheit der Nacht hat das flüchtige Getriebe an den Spieltischen dort drüben verschlungen, und alles Hazardspielen, alle Geldmanipulationen der Welt haben nun in meinem Bilde kaum größere Bedeutung mehr als das Häuflein vertrockneter Blätter, die das Wasser in der Rinne neben meinem Hause den Abhang hinunterschwemmt. Vielleicht werden die raschelnden Blätter eine kleine Weile lang ein Abflußgitter verstopfen, vielleicht werden sie dem Bächlein ein wenig Wasser entziehen.

Und selbst die armen Toten jenseits des Mittelmeers trüben meine Vision nicht mehr. Der Knall der Gewehr- und Revolverschüsse in den Straßen von Kairo dringt nicht bis in die heitere Ruhe dieser Hügel. Auf irgend eine Art muß jeder sterben, und solange das Leben der Menschen armselig und klein ist, liegt nicht gar viel daran, ob sie in ihrem Bette oder auf dem Schlachtfelde den Tod finden. Die großen Geschütze auf jenen Schiffen sind in der Zeit von geringer Tragweite. Daß Menschen ein wenig schmerzhafter, dafür aber rascher als gewöhnlich durch Schuß oder Bajonett, durch Gas oder Explosionen enden, ist kaum viel schlimmer, als daß sie durch Krankheit oder Hungersnot zugrunde gehen oder von wilden Tieren zerrissen werden. Solche Geschehnisse sind Einzelzüge unseres Zeitalters, fast ebenso vergänglich wie die bösen Träume, die zu dieser Stunde manchen Schläfer quälen mögen.

Es gibt keinen dauernden Schmerz, kein ewiges Leid. Alle Mühe geht vorbei gleich der Kraftanspannung des Würzelchens, das wächst, der Knospe, die erblüht. Hoch über Kriegen und Unglücksfällen, alle gegenwärtige Qual der Menschheit überragend und schließlich lösend, steht das Wachstum des Geistes. Lichtkreise gleich dem meiner Lampe sind gewaltiger als alle Armeen und Flotten der Welt und stärker als die Summe menschlicher Gewalttätigkeit. Unbesiegbar ist ihre Neigung, zusammenzulaufen gleich Tropfen Öls. Sie werden heller. Und weil unser Licht wächst, werden wir endlich der Schatten gewahr. Ein Übel als unerträglich erkennen, heißt seine Beseitigung beginnen. So groß die Übel, die wir rings um uns sehen, auch sein mögen, die Kraft des Wollens in uns ist größer. Es wird eine Weltordnung kommen, die der Ordnung eines Gartens gleicht oder der einer Werkstätte, eines Laboratoriums; ein reines, klares und machterfülltes Leben wird den Menschen zuteil werden; das Dschungel und all die Leiden, die es verursacht, werden endlich für immer verschwunden sein.

Und dieses größere, zum Bewußtsein erwachte Leben des ganzen Menschengeschlechtes wird das Leben des einzelnen weder herabmindern, noch verkrüppeln, noch in Fesseln schlagen. Das Leben des Individuums wird anders sein, es wird eine Erweiterung erfahren. Es wird sich über egoistische Konflikte emporheben, wird der Eifersucht entwachsen, so wie wir Aberglauben und Furcht überwunden haben oder doch zu überwinden im Begriffe sind. Doch wird der einzelne von ebenso lebhaften Interessen erfüllt sein wie heute. Es wird mannigfaltigere und schärfer individualisierte Persönlichkeiten geben. Die Selbstbehauptung des Individuums wird andere Formen annehmen; besondere Dienstleistung, bestimmte schöpferische Arbeit werden an Stelle der heute blind erstrebten äußerlichen Ehren, der festgelegten Vorteile und des Besitzes treten. Schon in unseren Tagen wird jene neue, reifere Phase des menschlichen Daseins von vielen durch tausenderlei Einzelheiten ihrer Lebensweise vorweggenommen.

Ich lege mit dem, was ich hier sage, keineswegs ein Glaubensbekenntnis ab. Meine Gedanken haben nicht etwa gegen innere Widerstände anzukämpfen. Ich klammere mich nicht in leidenschaftlichem Hoffen an etwas, was die Wirklichkeit Lügen straft. Ich schreibe vielmehr so klar und nüchtern, wie ich nur kann, nieder, was ich für reine Tatsachen halte, Tatsachen, die sich mir alsbald aufdrängen, wenn ich nur die Nase ein wenig über meine persönlichen Angelegenheiten emporhebe und dadurch einen Überblick über die Welt ringsum gewinne. Die Aussicht auf eine Zukunft, in der ein gesünderes und größeres Menschengeschlecht die Erde beherrschen wird, gilt mir als ebenso wirklich wie das Licht, das eben im Fenster eines Bauernhauses dort drüben zwischen den Hügeln aufgeleuchtet hat und nun wieder verschwunden ist.


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