Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
War Minnie eine Zynikerin? Ich glaube, die Antwort lautet ›Ja‹. Nur so kann ich mir ihr Wesen erklären. Ihr Zynismus war fein wie geschnitztes Elfenbein, aber eben doch Zynismus. Er war weder aggressiv noch schmähsüchtig, aber ich glaube wirklich, daß für sie die Tugend, so wie die alten Zyniker das Wort verstanden, und die Freiheit als die einzigen erstrebenswerten Güter galten. Sie gab sich keiner Täuschung über Prunk und äußere Ehren hin. Sie nahm, was das Dasein ihr bot, wie ich auch, doch glaubte sie im Gegensatze zu mir nicht an die Lebenskraft in uns. Sie war schwach, wo es eine seelische Anstrengung galt, und kannte diesen Mangel ihres Wesens. Sie strebte nicht, um nicht zu irren. Sie nahm das Gute hin und mied das Böse. Denn auch der Kampf gegen das Böse schien ihr von Übel. Er macht die Menschen heftig und zornig. So ging sie ihm aus dem Wege. Sie verstand den Trieb nicht, der, unvermeidlichen Irrtum in den Kauf nehmend, rastlos weiter zu streben gebietet.
Infolge dieser Denkungsart gelangte sie, glaube ich, als der erste Zauber verblaßt war, dahin, Dickon zu unterschätzen. Seine Untreue, seine Nöte, seine plötzlichen Gesinnungsänderungen, seine übertriebene Bewunderung für fragwürdige Führer – wie Lloyd George, Milner, Northcliffe zum Beispiel –, sein überschäumender Tatendrang, der nach einem Abzugswege suchte und so oft den falschen fand, das alles war ihr unbegreiflich. Dennoch bewahrte sie ihm, wie ihr letzter Brief zeigte, bis ans Ende die herzlichste Zuneigung.
Dickon ›betete sie an‹, wie man so sagt, und doch schien er mir im Zusammensein mit ihr niemals völlig selbstvergessen und frei. Selbst wenn sie ihn nicht unterschätzt haben mag, sagte sein empfindliches Gewissen, daß sie es hätte tun sollen. Er war in seinen Gesprächen recht drastischer Derbheit fähig, in ihrer Gegenwart aber schien er stets auf Schicklichkeit bedacht. Niemals sprach er vor ihr von seiner aufrichtigen Begeisterung für seinen Beruf. An den Toren von Lambs Court brachen sich die steigenden Wogen der Reklame und fluteten zurück. Die besten Gespräche, die ich zu Minnies Lebzeiten mit ihm hatte, wurden nicht in ihrer Gegenwart geführt, und es scheint mir, als habe er sich seit ihrem Tod interessanter und kühner entwickelt. Liebhabereien hatten Dickon immer ferne gelegen, und nicht nur sein ganzes Leben, sondern auch seine Weltanschauung waren seit jeher in seinem Berufe verankert. Stärker noch als in mir war in ihm der Drang, seine Tätigkeit mit dem Anfang aller Dinge und dem fernsten Sterne zu verknüpfen. Da fühlte er nun, daß sie den Ernst seines Strebens mit leiser Ironie betrachtete, die Werte in seinem Drama bezweifelte und seinen Egoismus durchschaute. Sie war unbewußt und unbedingt und darum in so bedrückendem Maße ein zartes und feinfühliges Wesen und keine Schauspielerin auf der Bühne des Lebens.
Im Verlauf der Jahre vertiefte sich dieser Gegensatz zwischen den beiden. Anfangs gelang es ihm weit öfter, sie mitzureißen, als in späterer Zeit. Er sagte ihr fast alles, was er dachte, und vermochte sie durch die Kraft seiner Rede zu überzeugen. Später schüchterte ihn, wie ich glaube, die matte Gleichgültigkeit ihrer Zustimmung ein. Sie pflichtete ihm bei, kam ihm aber nie entgegen. Er fühlte, daß seine Ideen in ihrer Gegenwart ungeheuerlich und plump, unausgeglichen und unreif wurden – unreif wie alles Neue; und er verlor den Mut, sie ihr aufzudrängen. Ganz tief in Dickons Natur schlummert ein Hang, sich selbst zu mißtrauen.
Sein Einfluß auf mich hat sich so früh schon und so entschieden geltend gemacht, daß ich erst jetzt zu ahnen beginne, wie viel ihm zuweilen an meiner Meinung gelegen haben mag. Neuerungen, Experimente, kühne Versuche, das war sein eigentliches Element. Er fühlte das Gewagte in manchen seiner Ansichten und Handlungen gar wohl. Minnie aber bevorzugte so offenkundig alles Ausgereifte und Vollendete, liebte schöne alte Möbel, achtete Kunstwerke höher als Leistungen der Wissenschaft und legte Wert auf gesittetes Betragen und gelassenes, wohlüberlegtes Tun.
Dickon wurde durch den Krieg und die Erfahrungen der Kriegszeit in starkem Maße angeregt. Wie ich erzählte, verknüpfte er schon vor dem Kriege große Pläne mit dem Reklamewesen. Die Propaganda war ihm eine anfeuernde Entdeckung. Und der Gedanke des Wiederaufbaues nach dem Kriege ergriff ihn mit Macht, verwob sich in ihm mit jenen umfassenden Ideen über Reklame und erfüllte ihn eine Zeit lang ganz und gar.
Die Zeit des Wiederaufbaues liegt nicht mehr als fünf oder sechs Jahre zurück; trotzdem kann ich mir die Gefühle und Erwartungen, die ihr anhafteten, kaum mehr vergegenwärtigen. Noch schwerer ist es, sich die Geistesverfassung während der Kriegszeit ins Gedächtnis zurückzurufen.
Wir begannen mit Heroismus und Opfern. Bis zum Ende meiner Tage werde ich bei der Ansicht beharren, daß die letzten Monate des Jahres 1914 eine tragisch großartige Phase in der Geschichte Europas bedeuten, daß sie für zahllose Menschen eine Zeit gesteigerten, heldenhaften und furchterfüllten Erlebens waren. Soweit wir Engländer in Betracht kommen, zeigte sich meiner Meinung nach erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1916 eine Entartung des Krieges. Mit der Wehrpflicht versank die Fata Morgana der Größe. Sie verschwand unmerklich, und man erkannte, daß der Krieg nichts anderes war als dumme und rohe Zerstörung, in moralischer Hinsicht vielleicht sogar noch mehr als in physischer.
Um diese Zeit gewann der Ruf nach Wiederaufbau an Macht. Aus all dem Blutvergießen, all der Verwüstung sollte eine neue und schönere Welt hervorgehen. Der Krieg sollte dem Kriege und der sozialen Ungerechtigkeit ein Ende setzen. Das furchtbare Morden sollte, dem alten Opfer zur Saatzeit vergleichbar, eine reiche Ernte verbürgen: die Verbrüderung der Menschheit sollte daraus emporblühen.
In den Jahren unmittelbar nach dem Kriege, da uns der Schmutz und die Leiden, die Angst, die Qual und die Not, die furchtbare Verwüstung und der tragische Heldenmut des Kampfes noch lebendig vor Augen standen, war es moralisch unmöglich, nicht zu glauben, daß dieses unermeßliche Unheil mehr als bloße Zerstörung, mehr als eine bloße Mahnung gewesen sein müsse; daß irgendwie ein Preis gezahlt und ein Gewinn erzielt worden sei. Ich halte mich für einen außergewöhnlich skeptischen Menschen und muß doch gestehen, daß jene Überzeugung auch mich eine Zeit lang erfüllte. Ganz allmählich nur begann ich die Vorstellung hinzunehmen, daß der Abgrund die Fülle an Leben, Kraft und Gütern verschlungen, für immer verschlungen haben mochte und keine Vergeltung, keinerlei Trost dem Opfer folgen werde.
Erst heute sind wir imstande, dieser furchtbaren Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Der Krieg ist ebensowenig von Nutzen für die Menschheit gewesen, wie die Pest oder ein Waldbrand. Er hat nichts beseitigt und nichts geschaffen. Bestenfalls hat er mit manchem Wahne aufgeräumt. Die Periode des Wiederaufbaues war das fieberhafte Ende einer der größten Täuschungen, des Glaubens nämlich, daß aus jedwedem Leiden Gutes hervorgehe.
Doch während in mir die Hoffnung auf Wiederaufbau immerhin maßvoll blieb, war Dickons Hingabe an den Gedanken einer umfassenden Neugestaltung aller Lebensbedingungen leidenschaftlich und vollkommen. »Eine Welt, die für Helden taugt«, wiederholte er unablässig. »Ein wunderbares Wort, Billy! Und voll lebendiger Kraft. Es wird Wunder wirken.«
Er war überzeugt, daß es Wunderbares bewirken werde. Worin dieses Wunderbare aber seiner Meinung nach eigentlich bestehen sollte, ist mir bis auf den heutigen Tag nicht ganz klar.
Über das Meer kam Woodrow Wilson mit dem großen hageren Gesichte, feierlich unergründlich, und brachte uns seinen politischen Schulaufsatz, die Vierzehn Punkte. Wir wußten damals weder um seine Eitelkeit und Beschränktheit noch um die engen Grenzen seiner Macht. Er selbst übrigens auch nicht. Er versprach uns den Weltfrieden. Innerhalb der Sicherheiten, die ein dauernder Weltfriede gewährleisten werde, sollte es etwas wie einen freiwilligen Kollektivismus geben. Man sagte uns, daß es nicht Sozialismus sein solle – denn eine Menge einflußreicher Leute hatten erklärt, daß sie keine Sozialisten seien, und es wäre nun peinlich für sie gewesen, wenn sie sich hätten widersprechen müssen –, aber durchaus dasselbe bewirken werde wie der Sozialismus. Arbeitsbedingungen, Volksgesundheit, Schutz der Frauen und Kinder und Schutz benachteiligter Völker – all das sollte durch einheitliche, die ganze Welt umfassende Gesetze geregelt werden. Die Frage aber, wie diese Regelung durchzuführen sei, schien Dickon als etwas Nebensächliches zu betrachten. Er war viel zu sehr vom Geiste des Ganzen erfüllt, als daß er auf Einzelheiten hätte eingehen mögen. Er werde die Arbeit der Propaganda und Vorbereitung auf sich nehmen, meinte er, und die anderen Leute würden alsdann das Ihre tun. Jenem Zauberwort ›Wiederaufbau‹ lag eigentlich kein schöpferischer Gedanke zugrunde, sondern nur ein Gefühl, das Gefühl, daß etwas getan werden müsse, etwas Großes, Edles, Nützliches und Prächtiges.
Witzigen, satirisch begabten Schriftstellern mag die Periode des Wiederaufbaues Stoff für manches unterhaltende Buch bieten. Mein eigenes Unvermögen, die lächerliche Seite jener Zeit zu sehen, ist, ich gebe es zu, einem Mangel an Humor zuzuschreiben. Ich bin ihr und ihren ungeheuren, wenn auch vernunftwidrigen Enttäuschungen noch viel zu nahe. Die Bewegung, die jene Jahre erfüllte, war von äußerster Zusammenhanglosigkeit und Inkonsequenz. Männer, des maßlosen Individualismus voll, redeten von kollektivistischen Bestrebungen, von der Notwendigkeit, jedwedes Unternehmen gemeinnützigen Zwecken unterzuordnen. Die wildesten Patrioten erörterten den Völkerbund. Pläne, der Einwohnerschaft Londons geräumige und prachtvolle Wohnstätten zu errichten, wetteiferten mit anderen, die sich die Verteilung der Londoner Bevölkerung über das Land hin zum Ziele setzten. Überall wurden dem Volk schöne Häuser versprochen, und nirgendswo wurden sie gebaut. Die Arbeitslosen würden zu Scharen in die Kolonien versetzt werden, hieß es, und diese Exportation werde nach wissenschaftlichen Methoden vor sich gehen. Daneben hörte man von einer Innenkolonisation, die die Auswanderung stark herabmindern werde. Herrliche Landstraßen sollten gebaut werden. Überdies sollte der allgemeine Luftverkehr sowohl Straßen als Eisenbahnen überflüssig machen. Von dem neuen Geiste des Kollektivismus berührt, sollte die Produktion emporschnellen wie einer, der sich auf eine Wespe gesetzt hat. Jeder Artikel sollte gute und förderliche Preise erzielen; die Löhne würden dann allerdings außerordentlich hoch sein. Die Charing-Cross-Brücke sollte zu einem ruhmreichen Kriegsdenkmal umgebaut werden. Jedermann sollte bis zum sechzehnten Lebensjahre die Schule besuchen. In jenen herrlichen Tagen muß der Verbrauch von Druckerschwärze ungeheuer gewesen sein. Denn es wurden Pläne und Vorschläge jeglichen Umfanges veröffentlicht.
Neben einer Anzahl freiwillig hervorgetretener Männer aus der Geschäftswelt stand eine bunte Schar junger Universitätsgrößen – Volkswirtschaftler, Soziologen, Professoren der Staatswissenschaft, einer wie der andere selbstbewußt, führend auf seinem Gebiete und ein Hohlkopf; und die beiden Gruppen waren meist sehr verschiedener Meinung. Ferner wurden verschiedene Ministerialbeamte der Bewegung des Wiederaufbaues zeitweilig oder dauernd zugeteilt und legten die ausweichende Geheimniskrämerei von Menschen an den Tag, die ihres Vorgesetzten und ihres Ressorts stets eingedenk bleiben müssen. Journalisten und Schriftsteller wurden zu Staatsmännern und drechselten edelklingende, aber nichtssagende Phrasen zurecht. Immer wieder tauchten Entdecker dieses oder jenes Mittels zur völligen Umgestaltung des menschlichen Lebens auf. Steckenpferdreiter, die zahllose Drucksorten von sich gaben und einem den Briefkasten damit verstopften, erfüllten ernste Geschäftsleute mit Schrecken und Verachtung und ließen sie schleunigst die neuen Ansichten aufgeben und zu ihren alten Arbeitsmethoden zurückkehren.
In moralischer Hinsicht herrschte dasselbe Kunterbunt wie in geistiger. Neben unbedingt rechtschaffenen Männern vom Schlage Dickons standen schwankende Typen, die es halb ehrlich meinten, und eine Schar von Abenteurern, die Begeisterung für den Wiederaufbau heuchelten und im herrschenden Wirrwarr nur eines klar zu erfassen verstanden: daß sich ihnen Gelegenheit zum Erraffen biete. Einige unter diesen haben eine erstaunliche Beute erjagt. Doch kommt es mir wohl nicht zu, darüber Klage zu führen, da verschiedentliche von der Regierung aufgelassene Unternehmungen an die Firma Romer, Steinhart, Crest & Co. und ihr angegliederte Gesellschaften zurückgefallen sind.