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Ich bin bei der Schilderung jenes das ganze Menschengeschlecht umfassenden geistigen Wesens, jenes Allmenschen, dem jedes Individuum bewußt oder unbewußt Untertan ist und Tribut zollt, von der neuen biologischen Betrachtung des Weltalls ausgegangen. Ich habe es objektiv dargestellt, indem ich die Entstehungsgeschichte unserer Welt aufrollte. Betrachtet man es derart objektiv, so erscheint es wahrhaft modern. Wir können aber auch von einer andern Seite her zu dem Begriff jenes Wesens gelangen. Wir finden es in uns selbst.
Während etwa einer Million Jahren ist das ursprünglich äußerst einsam lebende Wesen Mensch geselliger geworden als irgend ein anderes Tier. Die wilde, einsame und egoistische Affenseele hat sich verändert und gemäßigt, sie ist sozusagen in ein verwickeltes Netzwerk sie mildernder und hemmender Neigungen gehüllt worden. Abergläubische Furcht, die bei vielen Menschen nicht bloß die Kindheit überschattet, sondern bis ins reife Alter hinein bestehen bleibt, ist nur eine der frühesten und rohesten Formen der Anpassung an die Erfordernisse des Zusammenlebens. Auch der Zwang der primitiven Tabus zählt unter die allerersten Mittel zur Abschwächung menschlicher Wildheit. Die ursprüngliche Wesensart wurde nicht nur eingeschränkt, es wurde ihr auch Neues hinzugefügt. Die Natur bemächtigte sich der sexuellen Erregung, der Mutter- und sogar auch der Vaterliebe, wie der Affe sie kannte, erweiterte sie und machte sie sozialen Zwecken nutzbar. Heute ist der Wunsch zu dienen im Menschen lebendig. Zusammenwirken und gemeinsame Tätigkeit sind ihm eine Freude, er verlangt sehnlich danach. Der Forschungstrieb ist uneigennützig geworden, der Schaffensdrang hat sich erweitert.
Der Grundzug der menschlichen Seele ist immer noch Selbstsucht, selbstschützerischer Egoismus, ebenso wie die Grundform des menschlichen Körpers immer noch dem Körper des Affen gleicht. Doch kann die Befriedigung der rein egoistischen Bedürfnisse den heutigen Menschen nicht mehr glücklich machen, kann ihm nicht völlig genügen. Beim Menschen wie auch beim Hunde und anderen gesellig lebenden Tieren ist die Seele des Individuums von der des Rudels durchdrungen worden. Befriedigung seiner Wünsche allein ist dem Menschen nicht genug, er will sich auch ruhig und sicher fühlen. Er hat ein Gewissen; ein sittlicher Kampf, ein Konflikt der Triebe spielt sich in ihm ab. Die Katze, die ein einsames Tier ist, hat ein unkompliziertes Wesen und geht allein ihres Weges, der Hund hingegen ist gleich seinem Herrn verworrenen Gemüts. Und im vernunftgemäß denkenden Geiste des Menschen besteht meiner Überzeugung nach ein dauernder Kampf zwischen dem zwar schon abgeschwächten, aber immer noch starken Triebe der reinen Selbstsucht und dem unbestimmteren, umfassenderen Faktor der Selbstlosigkeit. Die beiden sind miteinander verbunden, aber nicht in eins verschmolzen. Sie geraten in Widerstreit, und der Verstand ist bemüht, die Ursache der Disharmonie zu ergründen. Ich glaube, daß das weniger persönliche Element in der Regel wächst, indem wir älter und an Erfahrung reicher werden, und daß es im Getriebe der Welt immer deutlicher hervortritt und an Bedeutung gewinnt. Objektiv betrachtet, erscheint eine Seele des gesamten Menschengeschlechtes, subjektiv genommen, entspricht ihr eine starke Zunahme des Interesses des Individuums an unpersönlichen Dingen und Angelegenheiten. Die Gesamtseele, die ebenso unsterblich ist wie das Menschengeschlecht selbst, häuft ununterbrochen Schätze des Wissens auf und hat dem einzelnen immer mehr zu bieten, wodurch sie dauernd an Macht über ihn gewinnt. Viele Menschen verbringen heutzutage einen großen Teil ihrer wachen Stunden mit einer Tätigkeit, die für sie selbst von geringem oder gar keinem, für die Menschheit jedoch von sehr großem Nutzen ist. Gar mancher verlebt ein Vierteil oder ein Dritteil seiner Zeit in einer Studierstube oder einem Laboratorium, emsig mit Dingen befaßt, die nicht das geringste mit seinem eigensten, persönlichen Schicksal zu tun haben, einer Tätigkeit hingegeben, die nur dazu dient, das Erbe der Allgemeinheit zu mehren. Um dieser Arbeit willen wird er sogar seine persönlichen Angelegenheiten vernachlässigen.
Als ich das letzte Mal in London war, begegnete ich einem sehr anregenden Manne, den kennenzulernen ich mir schon lange gewünscht hatte: Dr. Jung, dem Psychoanalytiker. Er war von Zürich nach London gekommen, um einige Vorlesungen zu halten, und nach einer von diesen, der letzten, besuchte er eine Gesellschaft, die sich in einem an der Themse gelegenen Hause in Westminster versammelt hatte. Ich weiß nicht mehr, wer die Gastgeber waren – Dickon hatte mich mitgenommen –, doch erinnere ich mich an die nicht sehr zahlreiche Gruppe angenehmer und interessanter Menschen, die zusammengekommen waren, um Jung zu treffen. Man rauchte, trank Champagner und Whisky, aß belegte Brötchen und sprach bis tief in die Nacht hinein. Es war ein gutes Gespräch, ohne Geistesblitze und Konversationskünste, dafür aber knapp und klar. Jung beherrscht das Englische vorzüglich, und ein einstündiger Vortrag in der Queen's Hall hatte ihn nicht im geringsten ermüdet.
Ich wandte mich an den großen Mann, weil ich gerne wissen wollte, was er von meiner Idee einer Art Überseele des Menschengeschlechtes halte. Er sagte, der Gedanke stehe durchaus in Einklang mit seinen Ansichten, und wies mir nach, daß nicht ich allein dieser Spur gefolgt war; ich sei neben dem zeitgenössischen Denken einhergegangen und habe Schritt mit ihm gehalten. Man stößt da und dort auf einen Satz, eine Anregung und verleibt sie unbewußt den eigenen Gedanken ein. Ich hatte meine Idee für originell gehalten.
Ich zitierte einen Satz des heiligen Paulus, besagend, daß wir alle Glieder eines Körpers seien, und hob hervor, wie leicht man bei diesem Thema in die theologische Phraseologie verfalle. Jemand aus der Gesellschaft erwähnte, daß Wells, ein entfernter Verwandter von mir, in seinem ›God, the Invisible King‹ betitelten Buche zahlreiche theologische Wendungen gebraucht habe; es sei ein manichäisches Buch, bemerkte ein anderer, weder griechisch noch hebräisch, sondern persisch. Der in Frage stehende Schriftsteller ist tatsächlich in der Wiederbelebung theologischer Ausdrücke, sowie auch in der Anempfehlung des Gebetes und ähnlicher Übungen recht weit gegangen. Zu weit, meinte jemand. Ich stimmte dem zu. Ich habe bereits einmal mit Wells selbst über diese Frage gesprochen, und meiner Ansicht nach ist sein ›Unsichtbarer König‹ nicht so sehr Gott in dem Sinne, in dem das Wort gemeinhin verstanden wird, als vielmehr Prometheus; ein titanisches, nicht ein göttliches Wesen. Dieser unsichtbare Herrscher scheint mir mehr dem Übermenschen Nietzsches als einer normalen Gottheit verwandt. Auch Frederic Harrison, bemerkte jemand, habe gesagt, Gott, der Unsichtbare König, sei nichts anderes als die Menschheit Comtes, der man eine Krone aufgesetzt hat. Der Ausspruch war mir neu und ich empfand ihn als eine durchaus gerechtfertigte Auslegung.
Allzu streng möchte ich aber meinen Vetter wegen der Art, in der er das Wort Gott gebraucht, nicht tadeln. Denn kann es anders als unbestimmt gebraucht werden? Wer an das Gute als an etwas objektiv Reales glaubt, glaubt in gewissem Sinne an Gott. Ich bezweifle, daß heutzutage viele Protestanten in einem anderen Sinne als diesem an Gott glauben. Seit Jahrtausenden ist der menschliche Geist bemüht, jenes hinter und über der Individualität und rings um sie befindliche Etwas zu erfassen, und er strebt gerade da höchst bedauerlicherweise nach Exaktheit, wo sie im stärksten Maße irreführend ist. Die Theologie ist stets experimentell gewesen und ist zuweilen zornig und grausam geworden, weil sie nicht erkannt hat, daß sie ein Experiment ist. Sie hatte sich mit unmittelbaren praktischen Notwendigkeiten abzuquälen. Und sie war dogmatisch, weil sie sich schwach und dem Druck der Forschung nicht gewachsen fühlte. Sie mußte, das war ihr klar, einen festen Standpunkt einnehmen, wenn sie nicht dauernd wanken sollte. Sie hat die nervöse, zuweilen bis zu bösartiger Gewalttätigkeit gesteigerte Reizbarkeit eines schwachen, aber wohlmeinenden Menschen an den Tag gelegt, der, unzulänglich ausgerüstet, daran ist, eine wichtige Aufgabe zu lösen. Aber auf allen ihren Irrwegen hat sie doch stets an der wesentlichen Idee festgehalten, das heißt sie hat immer geleugnet, daß das Individuum für sich allein stehe. Die Behauptung, daß das Individuum völlig isoliert sei, ist wohl der Grundgedanke des dogmatischen Atheisten.
Jung hob nachdrücklich hervor, wie leicht die Idee eines größeren menschlichen Wesens falsch aufgefaßt werde. Viele Menschen begriffen nicht, daß dieses Wesen synthetisch und allumfassend gemeint sei. Sie stellten es sich als ein außerhalb ihres Selbst stehendes Etwas vor, als ein Individuum derselben Ordnung wie sie, als jemanden, der über sie gesetzt ist, und nicht als ein Wesen, das sie alle ganz ebenso in sich schließt und umfaßt, wie der menschliche Körper seine Nervenzellen und Blutkörperchen. Weder Nietzsches Übermensch noch Shaws Superman seien als individuelle Personen zu nehmen. Beide bedeuten offenkundig die Entwicklung der Rasse, das im Fortschritt begriffene Menschengeschlecht. Schriftsteller mit der journalistischen Neigung zur Karikatur hätten sich dieser Begriffe bemächtigt und sie in Verruf gebracht, und die populäre Interpretation der Ausdrücke Übermensch und Superman habe nichts mehr mit der Gemeinschaft der Heiligen zu tun, sondern sei eine durchaus lächerliche individuelle Figur, eine Art Prahlhans, ein aufreizendes Gemisch aus Napoleon Bonaparte, Antinous und dem wunderbaren James Crichton.
Jung kam auf den von mir zitierten Satz des heiligen Paulus zurück, wir alle seien Glieder eines Körpers. Offenbar mißt er diesem Ausspruch große Bedeutung bei. Er sagte, nicht nur die christliche Theologie, sondern nahezu jede mystische Religion sei von der Idee durchsetzt, daß das enge Selbst in irgend eine – da und dort verschieden aufgefaßte – größere Seele untertauche. Diese Vorstellung zeige sich überall, sobald die Religion eine Theologie zu entwickeln und aus der Phase unterwürfiger Furcht vor dem mythologischen Alten Manne, dem Stammesgotte, herauszutreten beginnt. Der an die Mysterien Glaubende werde mehr oder weniger das größere Wesen und das größere Wesen mehr oder weniger der Gläubige. Im Stadium der ekstatischen Kommunion werde der Gläubige völlig aus seinem sündigen und begrenzten Selbst und über alle eitlen Schranken des Lebens hinausgehoben.
Die Idee der ihre Grenzen überschreitenden Individualität finde sich in der Messe, im Mithraismus und in vielen uns erhaltenen Hymnen und Redewendungen der alten persischen und ägyptischen Kulte. Sie werde von moslemitischen und jüdischen Mystikern in nahezu denselben Worten zum Ausdruck gebracht. Sie sei bei den Mystikern keine klare und kühl verstandesmäßige Vorstellung, sei mehr gefühlt als gedacht, doch entspreche sie ohne Zweifel der mit der modernen Biologie so wohl in Einklang stehenden Einverleibung des Individuums in ein die ganze Rasse verkörperndes Wesen. Im christlichen Mystizismus sei sie durch die stärkere Gefühlsbetonung dieses Kults verdunkelt. Auf der Mystik hingegebene Frauen habe der Ausdruck ›Himmelsbraut‹ eine außerordentlich starke Suggestion ausgeübt, und bei Typen von der Art der heiligen Hildegard, der heiligen Gertrud oder der heiligen Angela de Foligno sei der christliche Mystizismus zu einer bloßen Sublimierung der sexuellen Hingabe herabgesunken. In der Vorstellungskraft dieser Frauen werde das höhere Wesen sehr persönlich, körperlich und der Erwiderung ihrer eigenen Gefühle fähig. Der Egoismus werde da mehr exaltiert als zur Göttlichkeit erweitert. Das sei wohl stets der Fall, bemerkte jemand, wenn Frauen sich dem Mystizismus zuwenden. Diese Behauptung verursachte ein Einzelgefecht in einer Ecke des Zimmers.
Jung lauschte diesem Streit eine Weile. Dann bemerkte er, daß Konfuzius mit seiner ›Höheren Person‹ denselben verallgemeinerten und allumfassenden Menschen gemeint haben müsse, der uns vorschwebt, den die Rasse verkörpernden, nicht den individuellen Menschen. Auch das war mir neu. ›Höhere Person‹, erklärte Jung, könne ebenso gut mit Übermensch übersetzt werden; doch hätten wir Europäer eine unglückselige Art, das chinesische Denken zu mißverstehen, ins Lächerliche zu ziehen und unfruchtbar zu machen dadurch, daß wir die ihm eigenen Redewendungen ganz wörtlich übersetzten und dabei so würdelose Ausdrücke als nur möglich verwendeten. Caradoc Evans, warf ich dazwischen, habe die wallisische Religiosität in Verruf gebracht, indem er den Ausdruck ›schimmerndes Gewand der Rechtlichkeit‹ mit der Bezeichnung ›weißes Hemd‹ wiedergab. Wir hätten bisher nur eine ganz nebelhafte Vorstellung vom chinesischen Denken, fuhr Jung fort, auch vom zeitgenössischen; es sei sehr leicht möglich, daß die Chinesen auf durchaus eigenen Wegen, ohne unsere Anteilnahme oder Mithilfe, zu einer praktisch anwendbaren modernen Weltphilosophie gelangen würden.
Doch ob wir nun die großen Lehren Chinas oder die Opfermysterien Perus ins Auge faßten, überall fänden wir, bald in groben und ungeheuerlichen, bald in kalten und rätselhaften Formen, die Andeutung einer nahezu universalen Idee. Jede große Religion und jede Lebensphilosophie habe sich – infolge des Glaubensbekenntnisses und der Erziehung des betreffenden Volkes oft unter ungeheuren anfänglichen Schwierigkeiten – zu demselben geistigen Prozeß durchgetastet, zu der Unterordnung des Egoismus unter ein umfassenderes, verallgemeinertes Wesen, die Verkörperung der Gemeinschaft. Könne ein Zweifel bestehen, daß diese Übereinstimmung auf eine gemeinsame psychologische Notwendigkeit zurückzuführen sei? Daß die gleichartigen Gedankengänge bei den verschiedensten Völkern, den parallelen Streifen auf der Oberfläche eines großen Flußes vergleichbar, die Richtung eines Stromes bezeichnen, der seit fünfundzwanzig Jahrhunderten mit stetig wachsender Macht vorwärtsrollte?
Das Begreifen dieser inneren psychologischen Notwendigkeit, die wir unter dem Einflusse Freuds und Jungs und ihrer verschiedenen Anhänger mit einer neuen Lebensphase der Menschheit in Wechselbeziehung zu bringen beginnen, bedeutet sozusagen ein Mündigwerden. Unser Geist hat sich allmählich von der Furcht und der Unterwürfigkeit befreit, die dem Kindesalter der Menschheit anhafteten, und entwächst nunmehr auch dem überstarken Individualismus ihrer romantischen Jugend. Indem unser geistiger Bereich sich weitet, erkennen wir, daß alles, was rein individuell in uns ist, schließlich zugrunde gehen und verlöschen muß. Manche, vielleicht sogar die meisten unter uns treten in ein neues, ein reiferes geistiges Lebensalter ein. Die Geisteskraft künftiger Jahre, die Geisteskraft des Mannesalters der Menschheit, wird, verglichen mit der vergangener Zeiten, selbstvergessen, wissenschaftlich geschult und schöpferisch sein. Sie wird bewußt und gewohnheitsmäßig als ein Teil des Übergeistes wirken und schaffen.