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Obgleich dies alles ist, was ich dem Leben abzugewinnen vermag, gibt sich mein Geist damit doch nicht zufrieden. Ich glaube nicht, daß unser Dasein ganz so zufällig und verworren ist, wie es meinen Darlegungen nach scheint. Ich glaube nicht, daß es eine sinnlose und schwankende Abfolge von Launen und Impulsen bedeutet. Im Weltall herrscht Ordnung, herrscht Gesetzmäßigkeit, notwendige und unerbittliche Gesetzmäßigkeit. Diese ist durchaus unabhängig von unserem Willen, sie steht außerhalb seines Bereiches, vielleicht ist sie überhaupt belanglos für ihn. Doch vorhanden ist sie.
Dieser Glaube, die Geistesverfassung beruht nicht auf dem Religionsunterrichte in meiner Jugend. Weit eher steht sie in einem engen Zusammenhang mit meiner wissenschaftlichen Arbeit: Die Welt ist ihrem Wesen nach vernunftgemäß zu erklären. Dabei ist sie den Gefühlen und Zwecken des Menschen in keinerlei Weise unterworfen.
Ich muß an das herzige graue Kätzchen denken, das ich voriges Jahr in der Villa Jasmin hatte – hoffentlich finde ich es dieses Jahr wieder. Mein Drehspiegel setzte es in große Verwirrung. Es sah sein Spiegelbild und konnte zu seiner Verblüffung an das Tier im Glase nicht herankommen. Es kämpfte mit dem Rätsel. Es glaubte, wie ich klar erkannte, das Teufelszeug müsse zu ergründen sein. Bald lehrte mich der Augenschein, daß das feine, rasch auffassende und in vieler Hinsicht recht kluge Gehirnchen des Tieres keinerlei Befähigung besaß, das Wesen einer Spiegelung zu erkennen. Mein Kätzchen tippte mit der Pfote gegen das Glas – nach einer Weile hatte es nämlich immerhin erfaßt, daß da nicht hindurchzukommen war – sprang mit einem Satz hinter den Spiegel und kam im Nu wieder nach vorn. Es machte die Beine steif, sträubte sein Fell und stolzierte in einer entzückend albernen Pose davon. Es war ganz so, als ob es die Augenbrauen hoch gezogen und mit den Achseln gezuckt hätte. Seine ganze Haltung brachte dasselbe zum Ausdruck wie jene Grimasse. Es gab die Sache auf, tat gelangweilt und verließ das Zimmer. Und kam gleich darauf wieder, um binnen kurzem aufs neue von seinem Bemühen zu lassen. Manchmal machte es vielleicht ein Dutzend vergeblicher Versuche an einem Tage. Nunmehr hat es die Geschichte wahrscheinlich längst ganz aufgegeben.
Obwohl die Sache für ein Kätzchen unbegreiflich bleibt, ist sie trotzdem zu verstehen, was ein peinigendes Bild meiner eigenen Unzulänglichkeit abgibt. Wäre ich ein Gott, dann könnte ich's wohl fügen, daß mein Kätzchen die Lehre vom Lichte begriffe. Ohne seinen Ganglien geradezu etwas Neues hinzuzufügen, bloß indem ich diese oder jene seiner Fähigkeiten verstärkte und erweiterte, brächte ich es auf das Niveau Newtons; und mit noch ein wenig Mehr an Wissen und Übung sogar auf das Einsteins und Weyls. Und wenn es einen Gott über mir gäbe – vielleicht existieren intelligente Wesen über mir, die meine geistigen Bestrebungen ganz ebenso zu beobachten vermögen, wie ich die des Kätzchens; wie sollte ich das wissen, wie sollte mir Kunde werden von ihnen? – wenn es also Götter über mir gäbe, dann könnte am Ende auch ich irgendwie auf eine höhere Stufe der Erkenntnis emporgehoben werden.
Ich habe seit jeher das Gefühl, daß ich meinem Gehirne niemals seine vollen Möglichkeiten abzugewinnen vermag. Selbst innerhalb seiner gegebenen Beschränkung erreicht es vielleicht durchaus nicht das Höchstmaß seiner Leistungsfähigkeit. Ich habe mitunter zu meinem Erstaunen Phasen außergewöhnlicher Klarheit. Ich führe zum Beispiel eine Partie Schach viel besser durch als sonst oder erfasse ein mathematisches Problem mit einer Unmittelbarkeit, die weit über meine normale Befähigung hinausgeht. Oder es packt mich mit einem Male schöpferische Kraft, ich mache rasch nacheinander eine Reihe reizvoller Erfindungen und entwickle eine ganz unvorbedachte Geschicklichkeit, sie auszuführen. In solchen Fällen muß etwas Besonderes mit meinem Gehirne vorgehen, es muß ihm eine erhöhte Zufuhr von Sauerstoff oder sonst irgend eine Anregung zuteil werden. Es zeigt dann, was es zu leisten imstande wäre, bleibt aber dabei doch mein recht trübes und unsicheres Alltagsgehirn. Es wäre sehr wohl denkbar, daß die Atmosphäre, in der wir leben, für die Tätigkeit des menschlichen Gehirns nicht die allerbeste ist und daß ihm der normale Blutkreislauf in unserem Körper nicht die alleranregendste Ernährung bietet.
Die Bewohner der Venus, wenn es welche auf jenem dampfenden Planeten gibt, sehen keine Sonne an ihrem Himmel. Die Astronomen vermuten, daß zwischen der Oberfläche dieses Sternes und dem Weltenraum eine Wolkenschicht gelagert ist, die ihn völlig umhüllt. Es muß sich unter jenem Firmamente wie im heißen Zwielicht eines Tropenwaldes leben; der Tagesanbruch kann nichts weiter sein als ein rosiges oder orangefarbiges Aufleuchten der Gräue, die Nacht muß tiefschwarze Dunkelheit bedeuten. Vielleicht jedoch gibt es Stürme dort, die, wenn auch nur ganz selten, das dichte, flockige Gewölk zerreißen und beiseite schieben; dann mögen die Sterne leuchten oder die Sonne unverhüllt auf die wogenden Dschungeln herniederbrennen. Und tausend Dinge, die bis dahin nur halb geahnt, nur schwach zu erkennen waren, müssen für eine kleine Weile voll und deutlich sichtbar sein.
Mein Alltagsgeist ist trübe und nebelig. Ich taste, ich sehe nicht. Und soweit ich es beurteilen kann, tasten auch die meisten meiner Mitmenschen, und viele unter ihnen ahnen nicht einmal die Möglichkeit klaren Sehens. Sie meinen, was ihr Geist leistet, sei eben das, was er zu leisten vermag. Ich stimme dieser Ansicht nicht zu, kann aber nicht viel zur Hebung meiner Geistestätigkeit ausfindig machen. Es ist mir niemals gelungen, den Ursachen jener seltenen Ausnahmezustände der Helligkeit in befriedigendem Maße nachzuspüren. Ich kann keine Herrschaft über sie erlangen. Doch verfolgen sie mich, geben mir das Gefühl von einem Etwas, das sich fassen ließe, wenn ich nur zupacken könnte, das sich ein ganz klein wenig nur außer Greifweite befindet, das deutlich sichtbar würde, wenn meine Augen bloß etwas schärfer wären.
Wenn aber auch irgend ein bisher ungeahnter Gott meinen Geist erleuchtete, so daß mir unter jenem tiefen Schönheitsempfinden, das alle Erkenntnis begleitet, hundert hartnäckige Rätsel klar und selbstverständlich würden, ich hätte doch, dessen bin ich sicher, nicht mehr als eine einzige Stufe einer endlosen Leiter erklommen. Auch mein Kätzchen würde, wenn ich es mit dem Verstande Newtons zu beschenken vermöchte, immer noch am Rande eines unbegrenzten Ozeans mit seinen haarigen Pfötchen auf Kieselsteine tippen.
Ich bin gezwungen, in den Forschungen über die Beschaffenheit der Materie und über das Wesen von Zeit und Raum auf dem Laufenden zu bleiben. So habe ich erlebt, wie die Naturwissenschaft, in ernster Selbstzucht auf ihrem Wege fortschreitend, nicht nur dem Verständnis, sondern auch dem Empfinden des Durchschnittsmenschen immer fremder geworden ist. Die Analyse der Materie hat in den letzten fünfundzwanzig Jahren einen Stand erreicht, in dem sie aufhört, nach menschlichen Begriffen wunderbar zu sein. Sie ist unbegreiflich. Jede Feststellung ist ein Paradoxon, jede Formel eine Vergewaltigung des gesunden Menschenverstandes. Sie setzt einen in Verwirrung wie die Hieroglyphen eines Wahnsinnigen. Zur Zeit, als ich ein wißbegieriges Kind war und in den damals schon veralteten Büchern unserer Mowbrayer Bibliothek stöberte, erschienen mir Atome und Moleküle, von denen ich da las, fast so freundlich und menschlich wie holländischer Käse. Ich schreibe absichtlich: wie holländischer Käse, denn als ich etwas später – ich war eben zwölf Jahre alt und meine Mutter hatte ganz plötzlich und insgeheim mit Dickon und mir eine Reise nach Holland unternommen, um, wie mir nach Jahren erst klar wurde, dem Anblick fettgedruckter Artikelüberschriften in den Zeitungen, wie ›Clissolds Zusammenbruch‹, ›Clissold vor Gericht‹, ›Clissolds Kreuzverhör‹, zu entgehen – auf einem holländischen Markte goldgelbe Käsekugeln sonder Zahl übereinandergeschichtet sah und die putzig gekleideten Burschen beobachtete, die sie in genau geometrisch aufgebauten Stößen zwischen den bunt bemalten Kähnen und den Verkaufsbuden hin und her trugen, da gewann ich den Eindruck, ganz genau so müßten die Moleküle sich bewegen, die Atome der Materie sich zusammenfügen, sich trennen und wieder miteinander verbinden. Damals galten die Atome jedermann als greifbare Dinge, der Weltenraum war ein dreidimensionaler Bau, so rechtwinkelig wie ein Fensterrahmen. Der nun verschwundene Äther umhüllte uns gleich einem Gewande, die Zeit war sozusagen ein Stern, der für sich allein dahinlebte. In den Tagen jedoch, da ich studierte – hin- und hergerissen zwischen der Freude an wissenschaftlicher Forschung und der dringenden Notwendigkeit, mich aus der elenden pekuniären Lage herauszuarbeiten, in die ich durch das Unglück meiner Familie geraten war –, begannen wir in unserem College-Diskussions-Klub bereits davon zu sprechen, daß man die Zeit als eine vierte Dimension auffassen könne und daß der Erhaltung der Materie sowie der Möglichkeit exakter Wiederholung eine Grenze gesetzt sei.
Seither sind all die leichtfaßlichen ehemaligen Begriffe von der halben Greifbarkeit der Atome und der grenzenlosen Unendlichkeit des Raumes allmählich dahingeschwunden. Wir haben eine Schlußfolgerung um die andere gezogen und sind schließlich zu einem kristallinischen Komplex vieldimensionaler Krümmungen und pulsierender Reaktionen gelangt. Energie besteht und besteht nicht, dann besteht sie doch wieder, alles Sein verliert sich in Nicht-Sein, um aufs neue daraus emporzutauchen, der Bewegung ist eine irrationale Grenze gesetzt, der Bereich der Temperatur ist nicht mehr unendlich. Der Raum ist in unbegreiflicher Weise gekrümmt, so daß gerade Linien in sich selbst zurücklaufen, die Schwerkraft ist eine notwendige Folge der Dauer und die Atome sind die Bahnen und Harmonien unendlich kleiner (›infinitesimaler‹) elektrischer Ladungen. Einsteins eigene, populär gehaltene Darlegung seiner Raum-Zeit-Theorie mit ihren gekrümmten und gelegentlich schwankenden Koordinaten mutet mich im Lesen wie die Beschreibung eines durchsichtigen, wackeligen vierdimensionalen Gelatinepuddings an. Weyl geht noch weiter und Bohr hat dem ganzen Weltall eine Art intermittierender Wellenbewegung unterlegt. In den Tiefen oder auf den Höhen der Physik – das eine Wort scheint so gut wie das andere, wo es ja doch keinerlei Richtung mehr gibt – setzt sich mein Geist schließlich von Anstrengung erschöpft in einer Stimmung zur Ruhe nieder, wie sie aus Dürers ›Melancholia‹ zu uns spricht. Ich bin lange auf diesem Wege dahingeschritten, nun will es mir nicht mehr gelingen, weiter in das Dickicht verschwindender Formen und zuckender Energien einzudringen, das auf einem quadridimensionalen Kraftfelde wuchert.
Die Lehre von den Elementen ist zu kompliziert geworden, als daß der Durchschnittsmensch sie zu erfassen vermöchte – was jeden klugen Priester mit Befriedigung erfüllen muß. Der mystische Gott der Kraft und der Substanz – wenn man für einen so fernliegenden Begriff das Wort ›Gott‹ gebrauchen darf –, zu dem die endlose Wendeltreppe der Moleküllehre emporsteigt, ohne jemals wirklich bis ans Ziel zu führen, ist aber ganz gewiß kein Gott der Priester, kein Gott des Gefühls und der Moral, kein Freund der Menschen, kein mitleidsvoller Richter unserer Sünden, sondern ein Gott der strengen Vielfältigkeit, der wechselnden und schwankenden Rhythmen, der unergründlichen Verwicklungen, der Gott eines philosophischen Mathematikers.
Indem ich dies schreibe, fällt mir auf, daß meinem Geiste seit den Tagen meiner Jugend ganz unvermerkt etwas abhanden gekommen ist – die Ehrfurcht vor dem Anorganischen. In meiner Studentenzeit faszinierten mich die Lieblichkeit der kristallinischen Struktur und ganz besonders die Gesetze der doppelten Brechung und andere Lichtwirkungen. Begeistert, berauscht von Entzücken gab ich mich der Erforschung dieser Geheimnisse hin. Meine Begeisterung war zu einem Teil intellektuell, zum anderen aber auch sinnlich, der Freude vergleichbar, die Frauen an der Schönheit der Edelsteine haben. Betrachtete ich in jenen Tagen die glitzernden Flächen, Strahlen, Gänge und Formationen der durchscheinenden Tiefen, in die mein Blick drang, auf eine anthropomorphe Art und Weise als zugänglich, physisch zugänglich? War etwas wie die Vorstellung in mir lebendig, daß ich selbst, die gewohnten Pfade des Alltagslebens in kurzer Frist verlassend, jene zauberischen Paläste betreten würde?
Heute kann weder die Betrachtung dieses noch jenes anderen unergründlichen Geheimnisses, des Raumes, einen Nachhall der einstigen entzückten Bewunderung in mir wachrufen. Es gab eine Zeit – ich war noch recht jung –, da meine kindliche Seele vom Rätsel des Sternenhimmels erhoben und hingerissen wurde. Das ist vorbei – völlig vorbei. Ich hätte mir einstmals nicht träumen lassen, daß meine Begeisterung schwinden könnte. Noch entsinne ich mich deutlich, wie ich als kleiner Junge eines Winterabends auf der Terrasse in Mowbray die Sterne betrachtete – es muß Winter gewesen sein, denn der Orion war zu sehen – und von tiefstem, entzücktem Staunen ergriffen wurde. In leidenschaftliche Bewunderung versunken stand ich da und hatte jede andere Empfindung verloren. Ich war ohne Mantel aus dem Zimmer geschlüpft. Daß meine Gouvernante mich hinterher schalt, war mir gleichgültig, ihre Rufe aus nächster Nähe hörte ich eine geraume Weile überhaupt nicht. Heute hingegen betrachte ich die Sterne nicht viel anders als das Tapetenmuster an den Wänden eines Bahnhofwartesaales. Sie lassen mich kühl. Wenn sie nicht wären, stünde etwas anderes, ebenso Zufälliges, ebenso gleichgültig Erhabenes am Himmel.
Je mehr ich über die Sterne lernte, desto ferner rückten sie meinem Gefühl. Was mag da in mir vorgegangen sein? Ist das nochmals die Geschichte von meinem grauen Kätzchen? Bin ich es müde geworden, hinter den Spiegel zu tippen?