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Ich, der ich mich nicht gleich Philip Gosse genötigt fühle, an eine Erschaffung des Universums zu einem bestimmten Zeitpunkte zu glauben, habe es leichter als er: mein Geist nimmt das sich ihm offenbarende ungeheure Alter der Welt – ungeheuer nämlich im Vergleich zu meiner Erfahrung – als Tatsache hin. Das Alter der Welt ist für mich ebenso wirklich, ebenso real wie meine individuelle Existenz. Inwieweit diese als real gelten kann und was ›real‹ überhaupt bedeutet, sind, wie schon auseinandergesetzt, Fragen, die ich aus meiner Betrachtung des Daseins völlig ausschließe.
Und während die theologischen Erklärungen des Schauspiels, das wir Dasein nennen, Jahr um Jahr an Bedeutung für mich verloren haben, immer unwirklicher und unglaubhafter geworden sind, bin ich unter den Einfluß ganz anders gearteter Ideen geraten, Ideen, welche die moderne Einbildungskraft in immer stärkerem Maße beschäftigen. Man nennt sie heutzutage schöpferische Ideen, und nicht die Vergangenheit, sondern nur die Zukunft kann sie rechtfertigen.
Vom Standpunkte der Philosophie aus bin ich völlig bereit zuzugeben, daß der Fluß der Ereignisse, soweit sie vom menschlichen Geist erfaßt werden können, keinerlei Plan, kein System, keinen dramatischen Aufbau, keine bestimmte Ordnung aufzuweisen hat; mein Gefühl aber ist dieser Auffassung diametral entgegengesetzt. Ich habe noch niemals auch nur einen Fleck auf einer Mauer oder eine glutrote Mulde in einem Feuer betrachtet, denen mein Geist nicht hätte einen bestimmten Sinn und Zweck unterschieben können. Um so näher liegt es mir, der ich von Natur aus ein moralisches Wesen bin, dem Universum als Ganzem eine dramatische Idee unterzuschieben – sei es auch nur, um Richtlinien für meine Lebensweise zu gewinnen, einen Maßstab, der mir dazu dient, meine Entschlüsse als gut oder böse einzuschätzen.
Die moderne Naturwissenschaft hat dieses ganze Schauspiel in Raum und Zeit als gegeben betrachtet und daraus mit stetig zunehmender Sicherheit die Geschichte des fortschreitenden Lebens entwickelt. Der schwarze Vorhang des ewigen Nichts hebt sich empor und enthüllt das Sternenall, Materie, die, einem riesenhaften Staubwirbel vergleichbar, durch die unendliche Leere des Raumes kreist. Auf einem der herumwirbelnden Partikeln entsteht das Leben, anfänglich nicht mehr als ein Regewerden vielfältiger chemischer Reaktionen inmitten warmen feuchten Schleimes. Es ist ein neuer Vorgang in der Materie; alsbald beginnt sie Begierde und Unterscheidungsvermögen zu entfalten, beginnt Nahrung zu suchen, dem Lichte entgegenzustreben und von einer Umgebung, die ihr ungünstig ist, abzurücken. Anfänglich kann sie nur in warmen, seichten Gewässern bestehen, doch die ihr eigene Fähigkeit, sich auszubreiten und fortzupflanzen und widerspenstigen Stoff in die Sphäre seines Verlangens zu bringen, nimmt stetig zu.
Hier halte ich inne, um ein Fragezeichen hinter das Wort ›stetig‹ zu setzen. Ich bin mir nicht klar darüber, wie weit es sich nachweisen läßt, daß das Leben fortgesetzt an Umfang, Wissen, Kontinuität des Willens und zusammenwirkender Kraft zugenommen habe. Immerhin läßt sich die Behauptung, daß das Leben von allem Anfang an ununterbrochen Fortschritte gemacht habe, durch vielerlei stützen. Das Streben nach einem immer größeren Bereich im Raum sowohl wie in der Zeit und nach einer immer reicheren und volleren Geistigkeit hat keine Unterbrechung erfahren. Fortschritt ist nicht dasselbe wie Fülle; immer wieder hat es ein großes Hinsterben der Tiere und Pflanzen gegeben, in verhältnismäßig kurzen geologischen Epochen sind tausende Spezies und Genera durch rasche geographische Veränderungen hinweggefegt worden; das Leben hat Zeitalter furchtbarer Härte durchgemacht. Doch gerade Zeiten der Unbilden scheinen außerordentliche Fortschritte in der Anpassung bewirkt und eine neue Phase der Fülle auf einer höheren Ebene vorbereitet zu haben. Die Sumpfvegetation und die schwer beweglichen, träge im Sonnenschein ruhenden Reptile des Mesozoischen Zeitalters wurden vielleicht in wenigen Jahrhunderten des Mißgeschicks ausgerottet, doch die Veränderungen, die sie hinwegrafften, ließen kurz darauf die großen Grasebenen, die üppigen Wälder und die Schwärme pflanzenfressender Tiere des Miozäns entstehen. Die Leiden und Katastrophen jenes Kampfes hatten dem Leben die Hügel und das trockene Land erobert, gefiederte Vögel und pelzbedeckte Tiere waren nunmehr imstande, gegen die Pole vorzudringen. Die Gesteinskunde, dieses Archiv des Abenteuers ›Leben‹, dünkt, zumindest einem so laienhaften Leser wie ich einer bin, ein ununterbrochener Bericht von Ausbreitung und Fortschritt – und ganz besonders von stetiger Zunahme der Intelligenz. Das scheint mir von allergrößter Bedeutung. Gefühl, Wahrnehmungs- und Urteilsvermögen und innere Hemmungen entwickeln sich, die Augen blicken ins Weite, die Glieder lernen, innezuhalten und zu zögern. Der Geist wächst, und zwar mit stetig zunehmender Schnelligkeit.
Die ersten Elemente geistigen Lebens wurden im Verlaufe ungeheurer Zeiträume langsam und mühevoll errungen. Das Begriffsvermögen der wirbellosen und der niedrigeren Wirbeltiere reicht wohl kaum über das Gebiet augenblicklicher Vorfälle hinaus; ihre nachhaltigsten inneren Erlebnisse dürften eine Zeitdauer von höchstens einigen Stunden oder gar nur wenigen Minuten nicht überschreiten, dürften weiter nichts sein als ruckweise Erkenntnisse, von keinerlei verbindenden Gedanken zusammengehalten. Ein Frosch oder ein Fisch hat wahrscheinlich nur vorübergehende Wahrnehmungen, die nach erfolgter Flucht, Nahrungsaufnahme oder Befruchtung sogleich wieder der Vergessenheit anheimfallen. Die Möglichkeit größerer Kontinuität taucht erst mit den umfangreichen Gehirnen der Vögel und Säugetiere des Tertiärzeitalters auf. Diese Gehirne brachten, das ist klar, ein ganz neues Element in den Kampf, und fortan stehen sie im Mittelpunkte des Daseinsdramas. Bei nahezu jeder Familie von Säugetieren hat das Gehirn seit dem ersten Erscheinen der betreffenden Gattung einen relativ fünf- oder gar zehnmal so großen Umfang gewonnen.
Doch nicht nur durch die Größenzunahme des Gehirns, wohlgemerkt, bedeutet das Säugetier einen außerordentlichen Fortschritt des geistigen Lebens. Die ihm eigene Besonderheit, die allerdings auch der Vogel bis zu einem gewissen Ausmaße aufzuweisen hat, ist ein fortgesetzter Kontakt, ein Zusammenleben mit den Jungen. Das Wissen geht nicht mehr mit dem Individuum zugrunde. Schon in den Anfangsstadien ihres Aufstiegs beginnen die Säugetiere ihre Jungen zu erziehen. Der Wolf oder der Hund erhält eine sorgfältige sittliche Erziehung und wird in der Taktik des Jagens unterrichtet; der junge Affe empfängt eine kräftige Anregung nachzuahmen und zu lernen. Mit dem Erscheinen des Menschen schreitet die Ausbildung eines ununterbrochenen geistigen Zusammenhangs immer rascher vorwärts. In fünfzig bis hundert Jahrtausenden entwickelt er die Sprache, die Bilderschrift, die Schrift, also die Möglichkeit bleibender Aufzeichnungen, und schließlich die Kunst des Druckens. Mit Archiven und Literatur hebt etwas wie ein Gehirn der Rasse an.
Jedes Jahrhundert, jedes Jahrzehnt der letzten Menschenalter hat Schnelligkeit und Umfang des geistigen Verkehrs zwischen den Menschen außerordentlich gesteigert, hat den der Allgemeinheit immer leichter zugänglichen Wissensschatz beträchtlich vermehrt. In meiner Kindheit war der Telegraph noch ein Wunder. Heute können wir drahtlos telephonieren, binnen kurzem werden wir radiotelegraphische Bilder in die Ferne senden, Gebärden und Bewegungen in Filmen zwanglos festhalten. Die Zunahmegeschwindigkeit der Kommunikationsmöglichkeiten steigt hyperbolisch. Die Abgesondertheit des geistigen Lebens des Einzelnen wird immer geringer. Die Geister vermischen sich und wirken auf einander durch das neue gemeinsame Medium veröffentlichter, festgelegter und allgemein anerkannter Ideen und Auffassungen. Ein neues gemeinsames Medium, sage ich: denn über unser aller Geist herrscht ein Gesamtgeist. In ihm sind Wissenschaft, Geschichte, Denken lebendig. Er steht in derselben Beziehung zu unseren individuellen Leistungen wie ein Regiment oder eine Armee zu den einzelnen Soldaten. Er ist eine Kollektiv-Person, an der wir alle teilhaben und die unser aller Persönlichkeiten durchdringt. Und er ist nicht mehr sterblich wie wir. Er ist das erwachende Leben, das die Grenzen der Individualität durchbricht und seiner selbst bewußt wird. Wir alle sind zusammenwirkende Teilchen eines titanischen Wesens, das zum Bewußtsein erwacht und von diesem Planeten Besitz ergreift.
Besteht irgend ein Grund, anzunehmen, daß diesem wachsenden geistigen Wesen, seiner stetig zunehmenden Macht, seiner Ausbreitung, seiner Kraft, das Leben jedes Einzelnen zu durchdringen, Grenzen gesetzt seien? Ich kann keinen finden. Es heißt, daß es zeitlich begrenzt sein müsse, weil es an unsern Planeten gebunden sei, der bei fortschreitender Abkühlung der Sonne zu gefrieren und abzusterben verdammt ist. Mir aber ist es unbegreiflich, wie jemand, der um die letzten Folgerungen aus der modernen Naturwissenschaft weiß und ein wenig Gefühl für das noch unbekannte Erkennbare hat, glauben kann, das Leben müsse notwendigerweise für alle Zeit auf diesen Planeten beschränkt bleiben. Die Prämissen sind völlig unzulänglich. Ein Beobachter der Natur im kambrischen Zeitalter hätte mit eben so viel Berechtigung erklären können, daß › Leben‹ nur unter Wasser möglich sei und daß in wenigen hundert Millionen Jahren der letzte Fisch zum letzten Male nach Luft schnappen werde, da dann die letzten Tümpel auf Erden vertrocknet sein müßten. Ich neige weit mehr zu der Annahme, daß die gegenwärtige Entfaltung von Bewußtsein und Willen eine Geburt, einen Anfang bedeutet, und daß ich nicht nur ich selbst bin, sondern auch teilhabe an einem Wesen, das zwar geboren worden ist, nicht aber notwendigerweise auch sterben muß.
Diese Art der Betrachtung hält der ätzenden Säure meiner Zweifel am besten stand. So sehe ich das Leben. Und diese meine Weltanschauung besteht, wo aller alte Glaube den letzten Rest von Glaubwürdigkeit eingebüßt hat. Es ist, ich gebe es zu, eine poetische und keine beweisbare Auffassung. Sie annehmen, heißt nicht, zur Religion zurückkommen. Jenes Wesen gilt mir nicht als Gott, außer der Gottbegriff wird völlig umgekehrt. Es ist ein Ziel und keine Ursache, und da es innerhalb der Grenzen der Zeit steht, muß ihm unmittelbare und praktische Realität eigen sein. Doch ist es mir groß genug, um die ganze Tragweite und den vollen Ausblick meines Lebens zu umfassen und dessen Beweggründen und Beziehungen eine vernunftgemäße Deutung zu geben.