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Warum ich meinen «Prometheus» umgearbeitet habe

Gesprochen am 7. Dezember 1922 in Zürich

Das Gerücht, ich wäre daran, meinen «Prometheus» umzuarbeiten, noch dazu in gereimten Versen, hat bei jenen, die das Buch ins Herz geschlossen haben, Unbehagen hervorgerufen. «Wozu umarbeiten? Mir ist es lieb, wie es ist. Ich möchte es gar nicht anders. Und einen ‹Prometheus› in Versen kann ich mir gar nicht vorstellen.» Um das Unbehagen zu heilen, will ich Ihnen vor allem sagen, was der neue «Prometheus» nicht ist:

Erstens: Nicht ein Attentat auf das bisherige Buch. Die Pietät, die einige von Ihnen dem Buche weihen, dürfen Sie auch mir zutrauen. Ich war ja dabei, als es geschah. Das alte Buch wird genau so bleiben, wie es ist. Es kommt bloß ein zweites Buch über das nämliche Thema an seine Seite. Ich sage: «an seine Seite», nicht: «an seine Stelle».

Befremdet es Sie etwa, von dem nämlichen Dichter zwei Bücher über dasselbe Thema zu erhalten? Das ist allerdings vielleicht noch nicht dagewesen. Allein es kommt gar nicht so selten vor, daß das Neue noch nicht dagewesen ist.

Und in der Malerei? Da haben Sie von demselben Maler eine ganze Anzahl von Madonnenbildern mit dem Kinde. Übrigens fragt es sich gar nicht, was ich will oder nicht will. Selbst mit dem besten Willen läßt sich ein Buch, das in Tausenden von Exemplaren vorhanden und in treuen, gläubigen Herzen verankert ist, schlechterdings nicht unterdrücken.

Zweitens: Nicht ein Hinaufschrauben des Stoffes in literaturklassische Atmosphäre mittels Vers und Reim. Auch ich konnte mir anfänglich einen «Prometheus» in Vers und Reim nicht vorstellen. Wie ich dann aber versuchte, den neuen Text in der Sprache des früheren zu verfassen, belehrte mich der Versuch, daß ich damit der Manieriertheit verfallen würde. Man kann nicht Naivität aufwärmen. Und man soll nicht länger unbeholfen daherkommen, wenn man sich zu helfen weiß. Die eigentümliche rhythmische Prosa des Buches entstand nämlich aus Unbeholfenheit. Ich getraute mich damals noch nicht an den gereimten Vers. Also, ob gern oder ungern: in Versen. Aber in welcherlei Versen? Eine außerordentlich wichtige Frage, weil das Versmaß, was man nicht denken sollte, auch die Darstellung des Inhalts beeinflußt. Je nach dem Versmaß wird zum Beispiel die direkte Rede vor der indirekten vorwiegen und überhaupt die Rede einen größern Raum beanspruchen. In deutscher Sprache kommen heutzutage für ein großzügiges Werk bloß zwei Versmaße ernstlich in Betracht: der fünffüßige oder der sechsfüßige Jambus. Wiederum muß der Versuch entscheiden. Aber diesmal lade ich Sie ein, den Versuch mit mir zusammen anzustellen. Ich will Ihnen die vier ersten Verse des neuen «Prometheus», einmal in sechsfüßigen und einmal in fünffüßigen Jamben vorlesen.

 

Zuerst: «Es war ein trüber Tag, kein Atem ging
Im stummen Nebel, der vom Himmel hing,
Und staunend standen mit erhobner Zehe
Die stillen Stunden, witternd Schicksalsnähe.»

 

Später:
«Es war ein trüber Tag, kein Hauch, kein Atem ging
Im stummen Nebel, der erstaunt vom Himmel hing.
Und scheuen Seitenblickes mit erhobner Zehe
Stockten die leisen Stunden, witternd Schicksalsnähe.»

 

Ich denke, Sie haben mit mir das zweite Beispiel vorgezogen, also den sechsfüßigen Jambus. Warum? An dem ersten Beispiel ist ja nicht das mindeste auszusetzen. Es sagt, was zu sagen ist, und sagt es klar. Es fehlt ihm auch nichts; mit einer einzigen Ausnahme: die Poesie.

Drittens: Das neue Werk vermißt sich nicht, das alte an Poesie übertrumpfen zu wollen. «Noch schöner»: so etwas gibt es überhaupt in der Poesie nicht. Ich verzichte im neuen Werk sogar geflissentlich auf die schönsten Stücke des alten Textes. Sie werden weder den Löwen noch das Tote Tal, noch Sophia und Logos, noch das Bächlein und den Lindenbaum im neuen «Prometheus» wiederfinden. Warum nicht? Aus Rechtsgefühl und Anstandsgefühl. Ich will nicht dem ersten «Prometheus» das zuckende Herz herausnehmen, um damit im neuen «Prometheus» zu prunken. Der neue «Prometheus» soll nicht mit Anleihen zahlen, sondern mit eigenen, neuen Werten.

Viertens: Endlich ist die neue Arbeit nicht eine obligate Parallelarbeit zur früheren, Seite für Seite sich mit dem vorliegenden Text auseinandersetzend. Es ist eben im Grunde keine ‹Umarbeitung› (der Name ist falsch), sondern eine frische, unabhängige Neudichtung über das alte Thema.

Und nun, nachdem ich Ihnen gesagt, was der neue «Prometheus» nicht ist, will ich Ihnen sagen, was er ist. Er ist die Abzahlung einer alten, mehr als fünfzigjährigen großen Schuld.

 

Die Schuld entstand vor einem halben Jahrhundert, im September 1869, an jenem Herbsttagmorgen auf dem Turnplatze in Liestal, als dem vierundzwanzigjährigen Examenkandidaten das Grundthema seines «Prometheus und Epimetheus» (der Handel um die Seele) auferschien. An jenem Septembermorgen sagte mir sowohl mein Bewußtsein wie mein Gewissen: «Dieses Gleichnis zu einem bleibenden Werk auszuschaffen bist du von heute an verpflichtet».

Das nenne ich meine große Schuld.

Nun lese ich in Ihren Blicken die Frage: «Bedeutet denn der ‹Prometheus und Epimetheus›, der seit dem Jahre 1881 im Buchhandel vorliegt, nicht eine Bezahlung der Schuld?»

Ja und nein. Im Hinblick auf die Poesie: Ja. Ich verleugne jene Poesie nicht. Mein Buch, mein Pathos! Hingegen in Hinsicht auf die Kunst, das heißt auf die konsequente themagemäße und gedankenrichtige Ausführung: Nein. Eher eine Vergrößerung der Schuld als eine Abzahlung.

Zwei sprechende Tatsachen: Ich habe das Buch in den vierzig Jahren seit seinem Erscheinen bis auf die heutige Stunde auch nicht ein einziges Mal wieder gelesen. Bloß aus der Erinnerung weiß ich (oder weiß ich nicht mehr), was darin steht. Ferner: Schon damals, während ich es schrieb, war ich mir deutlich bewußt, daß ich einen unfertigen, bloß provisorischen Text verfasse, dem möglichst bald (ich dachte an zwei oder drei Jahre) der gute, endgültige Text nachfolgen sollte. Zu erklären und zu entschuldigen, wieso der übergewissenhafte Zauderer, der noch keine einzige Zeile veröffentlicht hatte, dazu kam, plötzlich in überstürzter, angstvoller Hast ein zweibändiges Buch ins Publikum zu werfen, zu erzählen, warum die geplante endgültige Fassung unterbleiben mußte (und mit ihr so manches andere, was nachfolgen sollte), das würde uns hier viel zu weit abseits führen. Das mag eine künftige Biographie besorgen.

 

Wie dann endlich, spät im Leben, der nunmehr bald Sechzigjährige die äußere und innere Freiheit gewann, zu guter Letzt noch ein weitumspannendes Werk anzugreifen, benützte ich die Freiheit zur Abzahlung meiner Schulden, soweit eine solche noch möglich war. Zunächst ein Denkmal für den zweiundzwanzigjährigen Studenten in Zürich, den Epiker. So entstand der «Olympische Frühling». Eine freie, durch keinen steifen Plan beschränkte, epische Phantasie, eine freudige, muntere Bewegung der kräftigen Glieder, verbunden mit Glücksgefühl und gesegnet mit Verjüngung.

Beiläufig, da wir doch schwerlich so bald wieder zusammenkommen werden, zwei notwendige Worte über den «Olympischen Frühling». Es steht nicht so, als ob mir im dritten Teil, in der «Hohen Zeit», die Zügel entglitten wären. Es verhält sich gerade umgekehrt. Schrankenlose Freiheit war von Anbeginn mein Bewegtrieb, der dritte Teil war der Entstehungsgrund des Ganzen, die beiden früheren Teile sollten bloß eine Einleitung bedeuten. Von selber ist mir dann die Einleitung zu zwei Bänden in geschlossener epischer Form geraten. Und da Band für Band besonders erschien, habe ich für den ersten Band den kurzen Titel «Epos» für passender empfunden als den anfänglich geplanten Titel «Epische Phantasie». Meine Behauptung, daß es ein schädlicher Irrtum ist, bei meinem Epos «Olympischer Frühling» zu fragen: «Was bedeutet das?» halte ich aufrecht. Aber sie gilt beileibe nicht für meinen «Prometheus», der alles andere eher als ein Epos ist.

Die Verjüngung durch den «Olympischen Frühling» war inwendig so mächtig fühlbar, daß der bald Siebenzigjährige den Entschluß zustande brachte, das zu tun, was er vierzig Jahre früher hatte tun wollen, nämlich dem 27. September 1869 sein Recht auf eine definitive, themagemäße Ausführung zu geben. Ein verwegener, um nicht zu sagen vermessener Entschluß: Wird die Lebensfrist bis zur Vollendung reichen? Wird die Gesundheit, wird die Schöpferkraft solange vorhalten? Aber auch eine hohe, schöne Hoffnung. Die Hoffnung, dem vierundzwanzigährigen Jüngling vom Turnplatz in Liestal, den ich als meinen Gläubiger betrachte, aufrecht in die Augen schauen zu dürfen und von ihm einen Blick des Dankes zu empfangen. Die Hoffnung, nicht als ein Fragment in den Sarg der Literaturgeschichte zu gleiten, mit einem Fragezeichen vorn und hinten, sondern als ein solcher zu scheiden, der das Hauptstück seiner Lebensaufgaben verwirklicht hat.

Indem ich nun das fertige Werk veröffentliche (zunächst durch das gesprochene Wort), muß ich ihm gleichzeitig einen Trost für bedrängte Gemüter mitgeben. Nämlich, solange ich mir zu denken weiß, läuft unermüdlich eine Legende vor meinem «Prometheus» einher, um vor ihm als einem unverständlichen Buche zu warnen. Lassen Sie sich dadurch nicht irre machen. Es ist nämlich gar nicht wahr, daß mein «Prometheus» unverständlich wäre. Er hat bloß einen fremden Odem. Diesen Odem spüren die einen, die andern nicht. Die ihn aber spüren, wer sie auch seien, die verstehen auch augenblicklich den Inhalt; dafür habe ich Beispiele genug.

Allerdings, wenn einer kommt und Ihnen das Unerhörte zumutet, den Schluß zu kosten, ehe Sie das Werk selbst kennen   dann kann das Verständnis ab und zu sonderbare Augen machen.

Ich muß es Ihnen aber zumuten, denn ich brauche Ihre Mitarbeit. Ich habe Ihr Urteil nötig, ob der Atem der Dichtung beim mündlichen Vortrag vor versammeltem Publikum fühlbar ist.


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