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Offener Brief an Adolf Frey

1919

Die Einladung, mich an dem Gedenkbuch zu beteiligen, das Ihre Schüler und Freunde Ihnen zu Ihrem Geburtstag zu überreichen beabsichtigen, habe ich als eine Auszeichnung empfunden, und ich entspreche ihr mit dem freudigen Eifer, wie man ihn verspürt, wenn eine Einladung einem Wunsche entgegenkommt. Ob ich mich auch nicht zu denjenigen zählen kann, die Sie sich durch Ihre segensreiche Wirksamkeit als Lehrer an einer öffentlichen Hochschule verpflichtet haben, denn diese Wirksamkeit mitzugenießen blieb mir leider versagt, so verbindet mich mit den übrigen das gemeinschaftliche Gefühl der Dankbarkeit. Meine Dankbarkeit ist persönlicher Natur und gründet sich auf private Erlebnisse vergangener Zeiten, deshalb muß ich biographisch ausholen.

Wir waren zwei unbekannte Schullehrer, als wir zusammenkamen, ich gänzlich unbekannt, Sie nahezu, bloß in Fachkreisen dank einigen literaturhistorischen Leistungen günstig notiert. Nach Vollendung meines langwierigen poetischen Erstlingswerkes aufatmend und eine jähe Lernbegier in allen meinen Gliedern spürend, wie ein Kosak, der lesen lernen will, kam ich, der Halbbarbar, zu Ihnen, zum vermeintlichen Gelehrten. Ich fand Besseres, als ich erwartet hatte: statt eines Gelehrten einen feinfühligen, weitherzigen Literarhistoriker, Schriftsteller und künftigen Dichter, statt des Mentors einen Freund. Nein, nicht einen Freund: zwei Freunde. Denn auch Lina Frey, Ihre hochgebildete, gescheite, einsichtsvolle Frau, beehrte mich mit einem herzlichen Empfang. Die Stunden des Zusammenseins zu dreien, ob sie schon geizig zugemessen waren (jedes halbe Jahr einen Tag oder zwei, wenn es hoch kam, denn die Ferien mußten abgewartet werden), hatten für mich, abgesehen von der geistigen Förderung, Erlebniswert; es waren Stunden ungetrübter Erhebung, die man nie vergißt.

Wer in solchem freundschaftlichen Austausch von Gedanken und Hoffnungen eher der Empfänger, wer eher der Geber ist, über diese Art von Einnahmen und Ausgaben gibt es keine Buchführung. Ich jedenfalls fühlte mich immer als der Empfangende. Unter anderem empfing ich von Ihnen die Hilfe Ihres Urteils und Ihres Rates bei meinen neuentstehenden Plänen und Werken. Während mehrerer Jahre habe ich über jedes meiner Manuskripte, ehe ich sie einem Verleger zuschickte, erst Ihr Urteil, Ihren Rat, Ihre Verbesserungsvorschläge erbeten, genau wie ich es gegenwärtig seit mehr als einem Jahrzehnt mit Jonas Frankel halte. Wissen Sie noch in Basel, mit meinen «Schmetterlingen»? Wie Sie diese Nummer für Nummer, Seite für Seite, Zeile für Zeile mit mir vornahmen? Oder in Aarau, in der liebenswürdigen, geistvollen Familie Fleiner, wo Ihre freundschaftliche Geduld und Schonung es zustande brachte, sich von mir ein mehrstündiges nichtsnutziges sogenanntes Lustspiel zur Begutachtung vorlesen zu lassen? Auch die Genesung von meiner leidenschaftlichen Verachtung des Realismus und der Prosa verdanke ich Ihnen, der mir damals mit höflicher Gebärde den Stuhl sachte an ein Fenster rückte, durch welches man in der Ferne Zürich erblickte und dort zwei hervorragende Gestalten, die nicht hochzuschätzen selbst meinem Vorurteil nicht gelang.

In der darauffolgenden Zeit, als ich ohne Stellung und ohne Einkommen war, haben Sie mir dann Ihre Freundschaft noch auf andere Weise betätigt. Verzeihen Sie mir, daß ich Sie daran erinnere. Meine Dankschuld zwingt mich dazu, und Wahrheit und Billigkeit heischen, daß ich es öffentlich tue. Jedermann weiß um die Bemühungen meines lieben Jugendfreundes Widmann, mich aus der Bedrängnis zu erlösen. Aber daß Sie ebenso eifrig, ebenso warm und nachhaltig wie Widmann sich um mich bemühten, das weiß man nicht, und darum muß ich es sagen. Und zwar hatten Ihre Bemühungen Erfolg. Die Stelle als Feuilletonredaktor an der «Neuen Zürcher Zeitung», von welcher ich den Umschwung meines äußern Schicksals datiere, verdankte ich zum größten Teil Ihrer unausgesetzten Befürwortung.

Leider wohnten wir in Zürich nicht gleichzeitig. Als Sie Ihre Tätigkeit als Hochschullehrer begannen, war ich schon wieder fern, sonst hätte ich zu Ihren fleißigsten Zuhörern gezählt. Dagegen Ihr literarisches und dichterisches Schaffen mit gespannter Aufmerksamkeit zu verfolgen, das konnte mir die räumliche Entfernung natürlich nicht verwehren. Und Ihr ganzes Schaffen, von Fall zu Fall, beseelte mich immer von neuem mit dem Gefühl der Erhebung. Ich brauche das Wort Erhebung nicht unbedacht. Das Größenmaß und das Karat unserer poetischen Begabung steht nicht in unserer Macht, das ‹Talent› (im biblischen Gleichnissinn verstanden) wird uns in die Wiege gelegt. Aber was jeder aus seinem ihm verliehenen Talent macht, das entscheidet darüber, ob einer Hochachtung als Künstler verdient oder nicht, das scheidet den Echten vom Unechten. Was nun Sie aus Ihrem Talent gemacht, die Kunsthöhe, die Sie, aus einer schwarz verhängten Jugend sich emporringend, erschwungen, die Werke, die Sie geleistet haben, das wirkt auf mich erhebend, das empfinde ich als vorbildlich. Unter den mustergültigen Eigenschaften Ihres Schaffens getraue ich mir die Kardinaltugend zu nennen, aus welcher alle übrigen Vorzüge sich ergeben: die tiefernste Auffassung des Schriftsteller- und Dichterberufes und der unerschütterliche Wille zur Selbstentäußerung im Dienste dieses Berufes. Daraus ergab sich: die fleißige, zähe Arbeit mit unermüdlicher, wiederholter Umarbeitung, bis jeweilen das Ziel erreicht ist, nämlich die Fertigkeit. Fertigkeit bis in die kleinste Einzelheit, ich meine die Fertigkeit vor dem eigenen Gewissen, bis man schließlich inwendig den lang ersehnten und erseufzten Spruch vernimmt: «So, jetzt glaube ich kann ich es verantworten.» Damit verbunden: Geringschätzung des Zeit- und Arbeitsaufwandes, Niederkämpfung der Ungeduld, bald wieder mit einem neuen Werke vor der Öffentlichkeit zu erscheinen. Bei einer solchen Einstellung wagen sich die Versuchungen gar nicht heran, denen so viele erliegen: die schielenden Seitenblicke nach dem großen Publikum, nach dem Urteil der Presse, nach den Diktaten der Zeitströmungen. Dergleichen bleibt weit hinter dem Horizont, in lächerlicher Ferne. Unbeirrte Treue im Dienst der Kunst war Ihr Wahrzeichen, und dieser Treue kommt die Bedeutung eines Vorbildes zu. Wenn ich jeden, der ernst, selbstlos und demütig seiner Kunst dient, als meinen Kollegen empfinde, so weiß ich unter sämtlichen lebenden Schriftstellern keinen, den ich dermaßen als Kollegen verspüre wie Sie.

Als ‹Kollege› in einem anderen Wortsinne, dem alltäglichen, sind Sie mir in den letzten Jahren endlich wieder persönlich begegnet: im Komitee der Schweizerischen Schillerstiftung. Ich habe Sie dort die mir längst bekannten Vorzüge betätigen sehen: die Befugtheit und Weitherzigkeit Ihres Urteils, die unbedingt nötige Strenge gegen den Pfuscher, die warme Befürwortung jedes Wertes, unabhängig davon, ob Ihnen die Persönlichkeit sympathisch sei oder antipathisch. Und nicht zu vergessen der gewissenhafte Fleiß, der Ihnen das schwierige Kunststück ermöglichte, alles, aber auch alles Eingesandte durchzulesen und begründet zu begutachten. Auf dem Gebiet der deutschsprachigen Schweizer Literatur ist Ihre Tätigkeit im Schillerkomitee unübertrefflich und unersetzlich.

Und nun haben Sie leider letzten Sommer Ihre Freunde durch Ihre schwere Erkrankung in Schrecken und Sorgen versetzt. Der unheimliche Mann, den die Vision eines Ihrer Gedichte schaudernd schaute, der stumme Mann mit dem Beil, dessen Schneide er Ihnen mit boshaftem Schielen drohend entgegenwendete, hat Sie mit einem vergifteten Beil verwundet. Vor solchem Ereignis schweigt unsere Erschütterung, hoffnungsvoll bangend, ob der gutgesinnte Nebenmensch mit dem heilsamen Messerchen den Sieg über den bösen Metaphysiker mit dem Beil davontragen werde. Glücklicherweise steht aber neben diesen beiden noch jemand anders an Ihrem Krankenlager. Ihrer Frau in Ehrerbietung zu gedenken, die, nachdem sie in gesunden Tagen Ihnen eine einsichtvolle berufene Mitarbeiterin gewesen, jetzt als hilfreiche, aufopfernde Pflegerin und Trösterin über Sie wacht, glaube ich mir als Ihr ehemaliger Hausfreund gestatten zu dürfen. Treue haben Sie zeitlebens geübt, Treue empfangen Sie jetzt zum Lohn. So oft ich in dieser Zeit an Sie denke, und ich denke immer an Sie, klingt jedesmal der Gedanke an Ihre treue Lebens- und Leidensgefährtin mit, und der Dank, den Sie ihr wissen, weiß ich mit Ihnen.


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