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Der Arzt in der Schule

Wenn Reden und Aufsätze die Gesundheit fördern, so braucht die moderne Pädagogik den Arzt nicht mehr, denn sie selber ist von einer wahren Hygienomanie infiziert. Wo wir eine pädagogische Zeitschrift aufschlagen, stoßen wir auf Abhandlungen über Schuldiätetik, und an Lehrerkonferenzen, des Sommers bei geschlossenen Zimmern, wird über nichts so häufig geredet als vom Fensteraufsperren. «Das Schulzimmer muß gelüftet sein», das ist das A und O der Aufsätze und Reden. Ihr X und Z aber heißt: «Erholung des Schülers und Vermeidung der Überbürdung». Kein Organ des Schülers wird von den heilskräftigen Abhandlungen vergessen; Augen, Ohren und Rachen erfreuen sich der besonderen Beliebtheit, daneben der Haarboden mit seinen Vegetabilien und seinem Reichtum an Dipteren und Apteren, welche bewirken, daß der Haargrund sein u mit einem andern Buchstaben verwechselt. Dabei wird mitunter eine Unfallskasuistik entwickelt, welche schaudern macht. Das Ohr steht beim Schwimmen in der größten Gefahr; damit es überhaupt funktioniere, ist dringend notwendig, es täglich mit einem hörnernen Kaffeelöffelchen auszubeuten, es zu begießen, in der Sonne zu promenieren und zu frottieren. Und während die Herren andächtig zuhören und der Präsident dem Herrn N. N. für seine gediegene Arbeit dankt, hauen sich unten im Hof die Schüler mit den Fäusten auf das zarte Organ, und in der Schwimmanstalt stecken sie sich statt der Watte Steinchen durch das Trommelfell. Steine, mit oder ohne Schneeumhüllung, sind überhaupt das beliebteste Hausmittel der Schüler, so namentlich auch in Beziehung auf die Augen. Oben werden die Gefahren dargelegt, welche daraus entstehen können, wenn man das Auge mit dem Handtuch statt mit einem Schwämmchen abwischt, und unten traktieren sie dasselbe Auge mit handgroßen Kieselsteinen.

Weniger häufig erscheint die Nase in den pädagogischen Betrachtungen; das ist jedoch eine schwere Unterlassungssünde, die sich bitter rächen könnte. Ein strebsamer Lehrer hat darauf aufmerksam gemacht, wozu alles die Vernachlässigung der Nase führen kann, und wir erfuhren dabei, daß das gewöhnliche Reinigungssystem durchaus verwerflich sei. Nicht die ganze Doppelnase gleichzeitig, sondern die eine Kanone nach der andern sollten wir losbrennen, was der geehrte Herr in einem höchst interessanten Experiment, das ihm den Dank des Präsidenten im Namen der Lehrerschaft eintrug, vormachte. Mit Reden und Aufsätzen sind wir also auf gutem Wege.

Ebenso günstig steht es um die Schulhygienik, wenn Zahlen heilen und Statistik die Hauttätigkeit fördert. Es ist eine wahre Freude, mit welchem Eifer die hochlöblichen Regimente sich um die Schilddrüsen, um die Farbe der Pupillen und der Haare und um tausend andere ähnliche Dinge kümmern. Zwar werden nicht etwa die Pupillen mit den Nationalfarben gefärbt, wie man etwa vermuten dürfte, oder die Schilddrüsen zu öffentlichen Zwecken verwertet; aber jeder Kropf bekommt eine Nummer, und das ist für den medizinischen Staatszweck genügend. Der moderne Kanzleistil prahlt mit Tabellen.

Wir dürfen ferner ebenso Gutes vom Arzte sagen, insofern der Name des Arztes allein für sich schon wirkt, selbst aus der Ferne. In unsern Schulkommissionen sitzen Ärzte und machen sich nicht wenig um unsere Schulverhältnisse verdient; sie sind es, die den Anstoß zu all den Reformen und Aufsätzen geben, und ab und zu kommt wohl auch einer in das Schulzimmer, ist sehr höflich und freundlich und stößt den Kindern den Kopf in die Höhe, um der Kurzsichtigkeit vorzubeugen. Der Lehrer versteht und schämt sich: es ist wahr, er müßte das eigentlich alle Tage tun; schämt sich und tut es sechs Tage. Warum? Vielleicht deshalb, weil am Ende des Jahres nicht daraufhin geprüft wird, wessen Schüler den Kopf am höchsten heben können, sondern wer sein Programm am exaktesten abfertigt.

Diesen glänzenden theoretischen Resultaten gegenüber, was sehen wir in der Praxis? Hier viel Gutes, mit manchem Schlechten vermischt, dort viel Schlechtes, dem die guten Seiten nicht fehlen. Im ganzen lautet das Urteil: Erstens überall guter Wille der Behörden bis zu dem Punkt, wo der gute Wille an die Gemeindekasse stößt; denn dort findet er gewöhnlich seine Grenze. Zweitens überall das schräge Gegenteil der Theorien.

«Das Schulzimmer muß gelüftet sein»   und siehe da, wenn man hereintritt, so glaubt man zu ersticken (ich generalisiere der Kürze wegen, die Vorbehalte verstehen sich von selber). «Das Arbeiten bei Hitze ist höchst schädlich und kann sogar gefährliche Kongestionen hervorrufen»   und siehe da, bei den tollsten Hundstagen schleppt sich die Jugend in die Zimmer, zu schmachten, zu schnarchen, zu transpirieren und unerträglich zu riechen; von Arbeit nur die äußere Form: das Dasein. Warum? Weil niemand wagt, die Initiative zu ergreifen. Die Schüler kommen, weil der Lehrer nicht Urlaub gibt, der Lehrer wagt den Urlaub nicht wegen des Direktors, der Direktor nicht wegen der Kommission, die Kommission nicht wegen des Inspektors und der Inspektor nicht wegen der statistischen Tabellen. «Nach jeder Stunde muß den Schülern wenigstens fünf Minuten Erholung gegönnt werden.» (Man dürfte hinzufügen: «und dem Lehrer zehn».) Glaubt man, daß dieser Satz von allen denjenigen, die ihn predigen, ausgeführt werde, daß nirgends zweistündige Stunden von Schülern und Lehrern verlangt werden? «Die Überbürdung wirkt schädlich auf Gehirn und Rückenmark und legt den Keim und so weiter.» Die Eltern sind die ersten, die sich darüber beklagen, und siehe, da werden die Kinder noch zwischen Kreuzfeuer genommen, die Schule überbürdet sie mit Unnützem und das Elternhaus mit Überflüssigem; wenn sie dann vollständig mürbe sind, kommt noch der Pfarrer mit dem Konfirmationsunterricht zu Hilfe. Aber Pfarrer, Lehrer und Eltern fahren fort, um die Wette vor den Gefahren der Überbürdung zu warnen. Und der Arzt? Nun, der warnt auch und eilt dann ins Spital zu seinen Patienten.

«Ärzte vor!» So denke ich mir das hygienische Kommando. Es ist nicht das Richtige, dieselben in Kommissionen einzukapseln; denn die Kommissionen repräsentieren Bürgergemeinden, und Bürgergemeinden pflegen durchschnittlich vor Ausgaben eine viel aufrichtigere Abscheu zu empfinden als vor Rückgratskrümmungen, und zwar werden wir dieses namentlich auf dem Lande beobachten. Vielmehr ärztliche Zentralkommissionen (da denn doch ohne Kommissionen heutzutage nichts geschehen kann) und ausübende Spezialärzte für die Schüler, wie man Militärärzte hat. Solche Herren, wenn sie dann Schulstürze unternehmen, wie die Finanzkontrolleure Kassenstürze, dürften manches Unerwartete finden. Selbstverständlich müßte denselben eine weitgehende Machtbefugnis verliehen werden, sonst erhielten wir nichts weiteres als einige statistische Tabellen mehr. Solange es dem Arzte zum Beispiel nicht zusteht, ein Zimmer oder ein Schulhaus als gesundheitswidrig abzuschließen, so ist sein Schulamt illusorisch. Wenn eine Cholera droht, dann wird Alarm geschlagen, dann durchziehen desinfizierende Banden die Gegend, ein Arzt als Hauptmann voran. Warum können wir das nur in epidemischen Kriegszeiten? Warum sollte es einem ständigen obrigkeitlichen Arzte nicht erlaubt werden, nötigenfalls den ‹Cholerazustand› über eine gesundheitswidrige Schule zu verhängen, wie man den Belagerungszustand proklamiert? Unter ‹Cholerazustand› verstehe ich aber die Unterstellung sämtlicher Schulbehörden unter das Kommando des Arztes.

Neben solchen Ausnahmsmaßregeln bliebe indessen die ordentliche periodische Leitung die Hauptsache. Wir finden es selbstverständlich, daß die orthopädischen Anstalten dem Arzte unterstehen, dagegen unsere Verkümmerungsinstitute, unsere Anämeen und Atropheen, die wir Schule nennen, besorgen wir selber mit unserem Laienverstand. Was für ein weites Feld der Tätigkeit steht dem Arzte hier offen! Zunächst die Sanifizierung der Lokale, nicht ein für allemal, sondern periodisch ausgeführt. Dann eine für Eltern und Lehrer hochwichtige Diagnose von krankhaften Dispositionen, Neigungen der Schüler. Wir untersuchen die Jünglinge bei ihrem Eintritt in den Militärdienst, warum sollen wir nicht die Kinder ab und zu auf ihre Gesundheit von Staats wegen prüfen? Das geübte Auge des Arztes vermag auf den ersten Blick manches zu erkennen, was Eltern und Lehrern verborgen bleibt. «Der Junge ist auffallend müde; was fehlt dir?»   «Der sieht bleich aus, der bekommt wohl nicht genug zu essen.»   «Ich mache Sie aufmerksam auf den Knaben N. N.; ich kenne ihn, er ist nervenkrank. Sie dürfen ihn nicht wie die andern behandeln.» Wie vielen Verstößen ist nicht ein Lehrer ausgesetzt, der über den Gesundheitszustand der Schüler im dunkeln schwebt! Welche Vorwürfe macht man sich, wenn man einen Jungen straft und nachher erfährt, er habe einen Herzfehler! Aber auch der Lehrer sollte nicht von der ärztlichen Fürsorge ausgeschlossen werden. «Mein Herr, Sie sind gereizt; Sie bedürfen durchaus zwei Wochen Ferien; ich verbiete Ihnen im Namen der Kinder und so weiter.» Oder ein anderes Mal: «Was ist das, wir haben ja achtundzwanzig Grad Wärme, und Sie wagen es, Schule zu halten? Jagen Sie mir augenblicklich und so fort.»

Eines müßte freilich die Vorbedingung des ärztlichen Oberregimentes sein: mit leeren Händen darf sich eine Zentralbehörde, selbst eine ärztliche, nicht in das Schulwesen der Gemeinden einmischen, sonst wird sie odios. Nicht Kosten oktroyieren, sondern Heilmittel umsonst aufdrängen, heißt die Aufgabe. Von den Schulärzten aber müßten alle diejenigen ausgeschlossen werden, welche mit dem Mikroskop arbeiten oder in medizinische Wochenblätter schreiben.


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