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Das literarische Drama der Franzosen übertrifft, zwar gewiß nicht an Wert, wohl aber an Mannigfaltigkeit unser deutsches Drama um das Doppelte und Dreifache. Denken wir uns, wir hätten neben unserm germanischen Schauspiel eine Tragödie nach griechischem Muster, dazu eine poetische Charakterkomödie antiken Vorbildes, endlich einen Einakter als Stelldichein der vorzüglichsten lyrischen Dichter denken wir uns jede dieser Gattungen durch Meisterwerke vertreten und alle miteinander auf die Bühne der Gegenwart gestellt, so gewinnen wir ungefähr das Bild des französischen grand art. Halten wir nun die Annahme, als besässen wir dies alles, noch einen Augenblick in Gedanken fest, und fügen wir die weitere Annahme hinzu, es käme ein Ausländer, um von uns zu lernen, und dieser Ausländer würde das alles samt und sonders ignorieren, dagegen seinen Landsleuten Kotzebue und Benedix und Birch-Pfeiffer als deutsche Musterdramatiker anpreisen, so haben wir ungefähr ein Bild davon, wie wir ‹von den Franzosen lernen›. Wir verschmähen das Gold und das Silber der Franzosen, um gierig über ihre Kupferstücke herzufallen. Ich gebe zu, daß es in dem einen und andern Gebiet des grand art bedenklich aussieht; das hindert jedoch nicht, daß es in der unliterarischen Theaterkunst der Franzosen durch die Bank unedel hergeht.
Reichtum verlangt Gruppierung. Wir müssen also das literarische Drama trennen. Naturgemäß ergeben sich hiebei die folgenden Hälften: die Gruppe des griechischen oder, wenn man lieber will, antikisierenden und die Gruppe des germanisierenden Stils. Die erstere begreift die tragédie, die klassische comédie und den modernen lyrischen Einakter. Die zweite wird von dem einen Titel drame zusammengefaßt.
Für die erste Gruppe werde ich, da einerseits die comédie in Deutschland durch gründliche Spezialarbeiten wohlbekannt ist, anderseits der lyrische Einakter weniger unsere Aufmerksamkeit beanspruchen darf, die tragédie als Probe und Beispiel wählen, mit dem Vorbehalt, der comédie und dem Einakter einige Worte des Anhangs oder der Anmerkung zu gönnen.
Die tragédie
Ich habe auf die Notwendigkeit hingewiesen, jedem Titel einer französischen Dramengattung erst eine Erklärung vorauszuschicken. Obschon sich gerade bei der tragédie diese Notwendigkeit am wenigsten fühlbar macht, da wir ihr Wesen aus der literarischen Kriegsgeschichte kennen, will ich doch, durch die Erfahrung darüber belehrt, daß man mit der Voraussetzung der Bekanntheit manchen Unterlassungsfehler begeht, die Definition nicht verschmähen. Diejenigen, die derselben nicht bedürfen, mögen mich also entschuldigen.
Tragédie bedeutet ein dramatisches Werk erhabenen (nicht traurigen) Charakters, das einen klassisch-antiken (griechischen oder römischen) oder einen biblischen Stoff nach den strengen oder etwas gelockerten aristotelischen Regeln mit idealer Charakteristik in feierlich rhetorischem Stil behandelt. Also haben nach französischer Anschauung weder Shakespeare noch Schiller eine einzige tragédie geschrieben. Eine tragédie ist Goethes «Iphigenie», nahe kommen ihr die «Braut von Messina», «Wilhelm Tell» (wegen der nationalen hochfliegenden Idee) und «Nathan der Weise» (wegen des Gedankenreichtums und der Würde des Verses), während zum Beispiel «Emilia Galotti» oder gar «Kabale und Liebe» meilenweit von ihr entfernt liegen. Schon das Fehlen eines einzigen der erwähnten Erfordernisse genügt, um ein dramatisches Werk aus der Klasse der tragédies auszuscheiden. So erhält der «Tancrède» oder die «Zaïre» Voltaires, obschon beide im übrigen strenge dem Vorbild der Klassiker folgen, den besondern Titel tragédie-drame, weil die betreffenden Werke in der Stoffwahl aus dem Gebiet der Antike und hiemit aus dem Bereiche der tragédie fallen.
Die tragédie nun behauptet noch heute unbedingt den ersten Platz in der Rangordnung des französischen Dramas. Jedermann ohne Ausnahme, in welchem Lager er auch sonst kämpfe, räumt ihr denselben ein. Molière wird zwar vielleicht allseitiger geehrt und von einzelnen enthusiastischer geliebt, der tragédie aber, und zwar ihr allein, zollt der Franzose das Gefühl heiliger Andacht. Auch beherrscht sie das französische Theater, still und unauffällig, ohne sich vorzudrängen, in zugleich stetiger und unterbrochener Reihenfolge, so wie der Sonntag die Woche beherrscht. Die Wirkungen, die von ihr jahraus, jahrein über die Nation ausstrahlen, sind unendlich und unermeßlich. Wer in der Schätzung des französischen Geistes die tragédie übersieht oder gering achtet, der legt den Hauptschlüssel des Verständnisses freiwillig aus der Hand. Wenn ich sicher sein darf, daß ein Paradoxon verstanden wird, wie es verstanden sein will, nämlich als eine zur Einprägung einer Wahrheit absichtlich übertriebene Formel, so möchte ich ein solches aussprechen. Ohne die tragédie, möchte ich sagen, gäbe es keine Franzosen, sondern bloß nordische Italiener oder westliche Russen. Uns freilich erscheint die betreffende Gattung kalt und tot, aber selbst steinerne Götter wirken Wunder, wenn die Seele sich mit Andacht hineinversenkt; und wenn alles Volk gläubig zu der ehernen Schlange emporschaut, so heilt die eherne Schlange.
Worin es nun die meisten deutschen Kritiker versehen, das ist in der Auslegung, als ob die tragédie das abgestorbene Drama der Vergangenheit darstellte. Diese Auslegung ist so unrichtig, als wenn ein Franzose behauptete, die deutsche Symphonie oder das deutsche historische Trauerspiel gehöre einer abgestorbenen Kunstepoche an. Allerdings stammen uns ja die größten Meister und Meisterwerke der genannten Kunstformen aus andern Zeiten. Allein hierauf kommt es doch nicht an, sondern darauf, ob sich noch immer die Augen des Schaffenden und das Herz des Genießenden nach demselben Wahrzeichen richten. Und das ist in Frankreich hinsichtlich der tragédie ebensowohl der Fall wie in Deutschland hinsichtlich der Symphonie und des historischen Trauerspiels. Die tragédie bedeutet für Frankreich Gegenwart im höchsten Sinn, da sie den nationalen Geist um sich sammelt als um die heiligste Fahne. Sie ist populär wie bei uns das Schillersche Drama. Wer das nicht glauben möchte, der höre die Schilderung, wie das französische Publikum der Aufführung einer tragédie entgegenkommt. «Das Publikum dieser lundis populaires (das heißt der klassischen Volksaufführungen) ist rührend durch seinen Enthusiasmus. Es bringt ins Theater etwas von dem Glauben und der Andacht mit, welche ein frommer Christ empfindet, wenn er Sonntags die große Messe anhört.» («Revue bleue», bei Anlaß einer Aufführung der Voltaireschen «Zaïre» im Odeon.) Ist es bei dieser Schilderung möglich, nicht an Schiller zu denken?
Besagte tragédie aber, der größte Stolz der französischen Nation und der höchste Ruhm der französischen Bühne (auch der gegenwärtigen), spricht allen deutschen Begriffen vom Theatralischen Hohn. Die betreffenden Werke würden bei uns die büchernsten aller Buchdramen gescholten und von jeder Direktion mit Schimpf und Schande zurückgewiesen werden. Und sie sind in der Tat Buchdramen, rein literarisch empfunden, rhetorisch ausgearbeitet und Seneka als Schutzheiligen anrufend. In nicht geringerm Widerspruch als zur deutschen Dramaturgie steht übrigens die tragédie zu den Bühnenregeln des sogenannten ‹modernen französischen Dramas›, was keines Beweises bedarf, was aber Zola zum Überfluß ungemein witzig bewiesen hat. Er hat sich das Vergnügen gegönnt, sich und dem Leser die Szene vorzumalen, wie Sardou von oben herunter Corneille maßregeln, wie ein Direktor ihn verächtlich abfertigen, wie die Anhänger der Dumas ihn auszischen würden: «Das ist ja völlig bühnenwidrig!» ruft Sardou. «Was für Längen!» jammert der Theaterdirektor. «Kommt denn gar keine Handlung?» seufzt das Publikum. Trotz dieser ‹Bühnenwidrigkeit› wirkt die tragédie von der Bühne herab auf dieselbe Nation, welche nach allgemeinem Urteil das Bühnenhandwerk besser versteht als irgendeine andere. Wie sollen wir das reimen? Will man sagen, die Autorität des Namens allein erzeuge die Bühnenwirksamkeit, mit andern Worten, die französische Nation (und mit ihr Italien und das Londoner Publikum, welches bei den Gastspielen der «Comédiens» der tragédie zujauchzte) wisse nicht zwischen einem aufrichtigen Genuß und einer mühsamen Pietät zu unterscheiden? Wir stehen hier vor einer ästhetischen Frage von größter Wichtigkeit. Ohne darüber entscheiden zu wollen, möchte ich doch die Richtung andeuten, wo nach meiner Meinung die Erklärung gefunden werden dürfte. Nämlich unsere moderne Dramaturgie spricht sich darüber, was theatralisch und was untheatralisch sei, etwas zu absolut und zu resolut aus. Viele ihrer angeblichen ewigen Grundwahrheiten möchten sich vielleicht bei genauerer Prüfung als schwarzweißrote oder blauweißrote Wahrheiten und nicht selten als graue Theorien entpuppen. Aus diesem Grunde, vermute ich, wirkt die tragédie auf der Bühne trotz ihrer ‹Bühnenwidrigkeit›.
Näher auf die tragedie einzugehen, kann ich mir und dem Leser ersparen. Dagegen sei noch ein Wort über ihren indirekten, doch gewaltigen Einfluß auf die übrige dramatische Kunst gesagt, von welcher sie scheinbar durch eine breite Kluft getrennt ist. Die tragédie ist es, welche den französischen Schauspieler erzieht, insofern das Konservatorium die rhetorischen Szenen der Klassiker als die höchste Aufgabe der Schauspielkunst hinstellt und einüben läßt. Durch diese Erziehung erhält der französische Schauspieler eine durchaus andere Meinung von dem Bühnenwert der Diktion als der unsrige. Es wird ihm zeitlebens nicht einfallen, feindlich gegen die letztere aufzutreten, um so weniger, als er in der strengen, fast pedantischen Schule gelernt hat, sicher und unendlich verschiedenartig in verschiedenen Fällen zu sprechen und die Sprache mit freier Gebärde zu begleiten, womit der Hauptschmerz beseitigt ist, der unsere Schauspieler gegen den literarischen Dialog aufreizt. Für Frankreich gilt die Regel: Je größer der Schauspieler, desto mehr wird derselbe die Diktion auf dem Theater lieben und begünstigen. In einem Lande, wo der angehende Schauspieler gelehrt wird, einen einzigen Satz auf hundert verschiedene Arten vorzutragen, wo «jedes Wort des klassischen Repertoires eine geheiligte Betonung hat» und wo man den Schülern diese Betonung während Monaten einstudiert, in einem solchen Lande wird niemand von einer ‹Bühnenwidrigkeit der längeren Reden› reden. Und dieses verdankt Frankreich der tragédie.
Die tragédie bedeutet ferner dem Franzosen einen Protest gegen prosaische und gemeine Ausschreitungen des Theaters. In dieser Hinsicht wirkt sie gleich unsern Klassikern. Es kommt indessen zugunsten der französischen Verhältnisse ein Umstand hinzu. Während es nämlich der Bühnentechnik in Deutschland gelungen ist, sämtliche dramatischen Gattungen zu erobern und zu beherrschen, unter dem Vorwand, nichts weiteres als die Traditionen Shakespeares und Schillers zu verfolgen, bildet die tragédie eine unbezwingliche Burg gegen das theatralische Handwerk, die weder mit Gewalt noch mit List eingenommen werden kann. Was speziell die Theorie betrifft, so ist durch die Ehrfurcht vor dem Namen tragédie und durch die Augenfälligkeit des Gegensatzes derselben zur modernen Technik dafür gesorgt, daß die letztere niemals in demjenigen Umfange und demjenigen Grade überschätzt werden kann wie von der deutschen Kritik. Das Dogma von einer allein bühnengerechten Mache für alle Theaterstücke kann in Frankreich angesichts eines theatralischen Buchdramas niemals die Oberhand gewinnen. Nun besteht ja freilich auch in Deutschland ein tiefer Gegensatz zwischen dem literarischen Drama unserer Klassiker und der modernen Technik. Allein der Gegensatz erscheint von außen nicht so augenfällig, er läßt sich übersehen und, wenn man das Bedürfnis dazu empfindet, leugnen. Freytag hat meines Wissens zuerst den Widerspruch gefühlt und angedeutet. Später wurde derselbe von Gottschall einerseits und Lindau anderseits unmißverständlich verkündet.
Dem Dichter endlich dient die tragédie als Zufluchtsstätte für rein literarische Inspirationen im Gebiet des Dramas. Es darf nämlich die Tatsache nicht vertuscht werden, daß die tragédie so gut wie die Salontragödie von den modernen Dichtern gepflegt wird. Wenn in dieser Gattung verhältnismäßig selten Novitäten erscheinen (etwa jeden Winter eine), so liegt der Grund nicht in der ‹Abgestorbenheit› der tragédie, sondern in den raffinierten Ansprüchen des französischen Publikums in Beziehung auf Vers und Reim. Bei dem unglaublich geschärften Urteil der Franzosen in metrischen und sprachlichen Dingen bleibt es nämlich ein Wagnis, mit vielen Hunderten von Alexandrinern hervorzutreten. Ließen sich unter ihnen auch nur ein halbes Dutzend nicht völlig tadelfester Verse aufspüren, so liefe der Dichterruhm des Verfassers eine schlimme Gefahr, gegen welche ihn keine Kompositionskunst oder Charakteristik bewahrte. Da arbeitet es sich ungleich ungefährlicher, dankbarer und bequemer mit der Bühnentechnik im Aktualitätenstück.
Aber selbst über die eigenen Gebietsgrenzen hinaus reicht der Schutz der tragédie für literarische und poetische Inspirationen des Dramatikers. Ich glaube nicht fehlzugehen, wenn ich behaupte, der lyrische Einakter, welchen wir mit den Franzosen als das Kleinod des modernen französischen Dramas ansehen müssen, verdanke seine Entstehung und Hochschätzung der tragédie. Wenigstens besitzen diejenigen Nationen, denen dieses fehlt, auch jenes nicht.
Stilistisch in die gleiche Linie mit der tragédie gehört die klassische Charakterkomödie ( comédie im engern Sinn), die Komödie Molières. Wir Deutsche zwar sind freilich gewohnt, in Molière das volkstümliche, gallische Element zu betonen, also dasjenige, welches ihn von den gleichzeitigen Tragikern unterscheidet. Der Franzose umgekehrt legt dem, was Molière mit den Tragikern gemein hat, größere Bedeutung bei. Uns gewährt es ein besonderes Vergnügen, den Bühnentechniker, Komödiantenführer, Humoristen und Aktualitätenfreund Molière gegen den gelehrten, hochtrabenden, deklamatorischen und antikisierenden Corneille auszuspielen; Eduard Engel in seiner übrigens trefflichen «Psychologie der französischen Literatur» behandelt Corneille wie eine Null und Molière wie einen Übermenschen. Der Franzose dagegen glaubt in dem gemeinsamen Regelwerk, in der gemeinsamen Steifheit (ich meine Unwandelbarkeit ) der Charaktere, vor allem aber in der gemeinschaftlichen Diktion eine innige Verwandtschaft zu erblicken und erklärt das Besondere neben der Individualität des Meisters aus dem Wesen des Lustspiels und aus der Verschiedenheit des Stoffgebietes. Sprechen wir von dem Bühnentechniker Molière, der seine Werke nur widerwillig dem Buche übergab, so preist der Franzose die wunderbare Schriftsprache; erzählen wir mit Vorliebe Anekdoten aus dem Wanderleben des Komödianten, so berichtet er gerne von dem reichen und hoffähigen Hausbesitzer, dem seine Mittel erlaubten, drei Dienstboten zu halten; ergötzen wir uns an der urwüchsigen Kraft der Spässe, so erlabt er sich an den prächtigen Rhythmen und Reimen; deuten wir auf die aktuellen Stoffe, so weist er auf die griechischen Namen. Wer hat hier recht? Ich vermute: beide Teile. Und es wäre vielleicht ein Unglück, wenn der eine ausschließlich recht behielte. Denn das vor allem macht ja der Welt Molière so beispiellos unschätzbar, daß man über seine Werke bis an der Tage Abend Abhandlungen schreiben kann, wie über «Hamlet». Daß es indessen bei unserer Taktik, Molière als Sturmbock gegen Corneille zu gebrauchen, ohne Künsteleien nicht immer abgeht, das wenigstens scheint mir nicht fraglich. Eine Künstelei nenne ich es zum Beispiel, wenn man die Anwendung des gereimten Alexandriners bei Molière lobt und bei den Tragikern tadelt.
Hat die Mischung von gallischem Volksgeist mit antikisierender Klassizität Molière gleicherweise die Gunst Frankreichs und des Auslandes und das übereinstimmende Lob aller literarischen Parteien eingetragen, so erwies sich dieselbe Mischung als verwirrend für seine Nachfolger und als verhängnisvoll für das Weitergedeihen der Kunstform. Man kann alles nachahmen, nur keine Mischungen. Mit größerm Recht als von der tragédie könnte man von der comédie sagen: sie ist tot. Daß unsere moderne comédie (im weitern Sinn) mit dem Kompositionsstil und der Theatertechnik Molières so gut wie nichts gemein hat, das werden wir bei Gelegenheit des bühnentechnischen Dramas sehen. Der Name ‹Enkel Molières›, der Augier gegeben wird, bedeutet nicht die Gleichartigkeit der dramatischen Prinzipien, er ist ein Ehrentitel, ähnlich wie der Name ‹deutscher Shakespeare› oder ‹moderner Schiller› für Wildenbruch. Wen man ehren will, den vergleicht man eben mit dem Höchsten, ob nun dieses gleich- oder andersartig sei.
Der mittelbare Einfluß der klassischen comédie auf das Drama der Gegenwart erweist sich als sehr bedeutend, was sich aus dem Umstand einfach erklärt, daß die moderne Theaterschriftstellerei der Franzosen vorwiegend Lustspielarbeit ist. Über derselben glänzt die alte comédie wie ein edles Gestirn, das nicht nur leuchtet, sondern zugleich eine Anziehungskraft ausübt. Aber auch Warnung, Mahnung und Strafe geht von ihr aus. Ihr im Vergleich zum Drama der Gegenwart unendlich hoher literarischer Stil protestiert gegen die Feuilletonprosa der Unterhaltungsdramatiker und ihre obschon steife, doch scharfe Charakteristik gegen die Fabrikarbeit mit den beliebten sentimentalen Typen (clichés). Die comédie erzieht mithin den gewissenhaftern Lustspieldichter zu feinerer Charaktergebung und zu höhern stilistischen Ansprüchen. Ihrem Einfluß, neben der nationalen Sauberkeit des Franzosen in literarischen Dingen, schreibe ich es zu, daß das Pariser Unterhaltungsdrama trotz seinem theoretischen Erfolgkultus nicht entfernt in diejenige Tiefe gesunken ist wie dasjenige der übrigen Länder. Nur suche man die Präservativkraft Molières ja nicht auf der formalen Seite. Die comédie wirkt im Gegenteil als Befreierin vom Handwerk. Je näher zu Molière hinauf, desto weiter von der modernen Mache. Der ‹Enkel Molières› ist nach Lindaus Geständnis zugleich der vornehmste und der in bühnentechnischer Hinsicht ungeschickteste der gegenwärtigen Lustspieldichter. Umgekehrt sind die oberflächlichsten Charakterzeichner die flinksten Macher.
Das drame
Der Name drame meint weder das eine noch das andere, was wir unter Drama verstehen. Er bedeutet erstens nicht oder wenigstens seit Jahrhunderten nicht mehr eine Gesamtumfassung sämtlicher Klassen der theatralischen Literatur. Für diesen allgemeinen Kollektivbegriff gebraucht der Franzose und nach seinem Beispiel jetzt auch dieser und jener Deutsche (zum Beispiel Lindau) das Wort ‹Theater›. Der Kollektivbegriff hat sich zwar noch in dem Adjektivum dramatique erhalten (obschon nur in wenigen Verbindungen, zum Beispiel: l'art dramatique), dagegen das Substantivum drame im Sinne der Summierung oder der Allgemeinheit wird gegenwärtig äußerst selten und dann mit verklauselter Vorsicht angewandt, um die Verwechslungen, für welche das Wort drame ohnehin genügend sorgt, nicht zu vermehren. Drame bedeutet aber ferner auch nicht unsere besondere Gattung ‹Drama› (Schauspiel oder Versöhnungstragödie), denn für diese Gattung fehlt dem Franzosen nicht weniger als alles: der Anlaß, die Sache, das Verständnis, der Begriff und das Wort. Im Gegenteil ist drame von unserm ‹Drama› im engern Sinn am allerweitesten entfernt, da das drame von Blut und Gift überfließt; wie denn auch die französische Presse jede Schauergeschichte, also zum Beispiel eine Mordtat, unter der Überschrift drame bringt.
Was bedeutet also drame?
Ursprünglich etwas Negatives: eine verfehlte tragédie oder, weniger mißverständlich ausgedrückt: eine tragédie fehlerhaften Stils. Jedes Werk, welches ungefähr nach der Richtung der tragédie zielt, aber auf den königlichen Namen tragédie keinen Anspruch erheben darf, weil ihm irgendeine der oben erwähnten Hauptbedingungen mangelt, heißt drame. So zum Beispiel, wenn es in der Handlung zu wild hergeht, oder wenn das Interesse des Stückes nicht in der erforderlichen idealen (moralischen und politischen) Höhe gesucht wird, oder wenn der Autor Prosa spricht, oder wenn er Personen aus der Privatgesellschaft als Haupthelden vorführt, oder wenn er die Handlung der Gegenwart entnimmt, oder wenn er den geschichtlichen Stoff nach dem Jahre 476 (Odoaker, Anführer herulischer und anderer germanischer Heerhaufen und so weiter, siehe Plötz) wählt, oder wenn er Aristoteles nicht gehorchen will. In jedem einzelnen dieser Fälle darf das unbotmäßige Stück sich nicht tragédie nennen, es ist ein drame. Folglich sind drames die sämtlichen Trauerspiele Shakespeares und so ziemlich das ganze Repertoire des Auslandes. Der Titel drame ist also ursprünglich ein verächtlicher und will ein dramatisches Werk mit hohen Ansprüchen, aber unedlem Charakter bezeichnen. Auf historischem Wege jedoch hat sich die Meinung dieses Titels allmählich verändert und schärfer verdeutlicht, obschon die negative Bedeutung desselben immer durchklingt. Geben wir hier, anstatt uns mit historischen Erläuterungen aufzuhalten, das Ergebnis der Veränderungen, mit andern Worten den Sinn des Titels drame nach gegenwärtigem französischem Sprachgebrauch. Unter drame versteht gegenwärtig der Franzose zweierlei:
Erstens: das bürgerliche Trauerspiel und das Rührstück, wie es La Chaussée und Diderot geschaffen und wie es ihre Nachfolger bis auf den heutigen Tag ausgebildet haben.
Zweitens: das importierte historische Trauerspiel und Schauspiel der Ausländer, vorzüglich der Germanen, samt allen Sprößlingen und Ausartungen auf französischem Boden.
Das erstere drame ist in jeder Beziehung prosaisch und gehört nach der Schätzung der Franzosen zur niedern dramatischen Kunst; wir müßten es also, wenn wir unsre Arbeit streng hierarchisch gliedern wollten, aus diesem Abschnitt entfernen und weit nach hinten in die Gegend des modernen theatralischen Handwerks verbannen, um es daselbst als ein Lustspiel in schwarzer Tracht zu behandeln. Wenn ich das gleichwohl nicht tue, wenn ich den grand art episodisch mit der Darlegung der comédie dramatique durchbreche, so geschieht dies aus verschiedenen, wie mir scheint zwingenden Gründen: erstens, um den Inhalt des Titels drame nicht zu trennen, zweitens, weil wir das sogenannte moderne Drama der Franzosen kollektiv besprechen müssen, so daß dort zu einer besondern Schilderung keine Gelegenheit bleibt, endlich, weil auch das niedere drame, obschon aus französischem Boden entsprungen, gewissermaßen eine germanische Kunstform heißen darf, indem wir das verachtete bürgerliche Trauerspiel als unser Lieblingskind adoptierten. Auf solche Weise erhalten wir unter dem Titel drame eine vollständige Parallele unseres gesamten germanischen Trauerspiels und Schauspiels.
Das zweite, durch Victor Hugo poetisch geadelt und durch die vereinten Kräfte der Romantiker in der Achtung der Nation gehoben, zählt seither zum literarischen Drama (grand art) und gilt theoretisch für ebenbürtig mit tragédie und comédie, also ungefähr I b, genauer II, wenn wir numerieren wollten. Diesen theoretischen Rang hat das historische drame auch nach dem schmählichen Fiasko der ganzen Kunstgattung beibehalten.
Fügen wir hier noch hinzu, weil wir einmal daran sind, die Titel zu erklären, daß jedes drame, ob dasselbe nun der höhern oder der niedern Klasse angehöre, mélodrame gescholten wird, sobald es sich Naivitäten zuschulden kommen läßt, sei es in der Handlung oder in der Stoffwahl oder in den szenischen Mitteln oder in der Berechnung auf den Beifall des Publikums. Ein Rührstück, wie es der Philister liebt, ist ein mélodrame. Ein Spektakelstück mit Rittern, Räubern und Abenteuern, wie es die Dienstmädchen mit ihren Kürassieren ergötzt, ist ein méelodrame. Gegen das Wort mélodrame aber zeigt sich der französische Autor ebenso empfindlich wie der deutsche gegen die Vergleichung mit Kotzebue oder Birch-Pfeiffer. Daraus folgt, wie jeder erraten wird, daß die Kritik mit dem Titel mélodrame nicht sparsam umgeht. Ein Zola in seinem Prophetenzorn nennt schlechthin das ganze rührende oder traurige Repertoire der Modernen mélodrames.
Verfolgen wir nun das Schicksal der beiden Gattungen drame im besondern. Auf die Wichtigkeit des Gegenstandes brauche ich einen deutschen Leser nicht erst aufmerksam zu machen. Bildet doch das, was Frankreich unter dem Namen drame als eine Unterabteilung in die große Dramenfamilie einfügt, bei uns nicht allein das Zentrum, sondern das ganze Gebiet der ernsten dramatischen Poesie. Mancher Deutsche könnte sich gar nicht einmal eine Vorstellung davon machen, was jenseits dieser Grenze noch möglich wäre. Über das niedere drame werde ich mich kurz fassen, da wir dasselbe aus Lessings Beschreibung (ein Franzose würde hinzufügen: und aus Lessings eigenen Theaterstücken) kennen. Dagegen will ich bei dem vornehmen drame historique, seinen abenteuerlichen Schicksalen und seinem lächerlichen Ende wegen seines zentralen Berufs im Gebiet der dramatischen Poesie und wegen seiner angeblichen Verwandtschaft mit unserm germanischen Trauerspiel länger verweilen. Ich beginne mit einer kurzen Übersicht über die Entwicklung des niedern drame, welches ein halbes Jahrhundert früher auf die Welt kam als das höhere.
französisch: comédie dramatique, comédie sérieuse, comédie larmoyante; deutsch: bürgerliches Trauerspiel
In der klassischen Periode der französischen dramatischen Poesie wurde der Allgemeinname drame (als Bezeichnung jedes beliebigen dramatischen Werkes) durch das Wort pièce verdrängt und als überflüssig außer Gebrauch gesetzt. Als dann in der Folge allerlei unbestimmte und unbestimmbare Werke entstanden, welchen weder der Name tragédie noch comédie paßte, wurde das Wort drame wieder hervorgeholt, um mit ihm alles Unbestimmbare zu belehnen. Da nun die betreffenden Werke zufällig schwunglos, meistens auch charakterlos erschienen, wirkte, wie das zu geschehen pflegt, dieser Tatbestand auf den Titel zurück, so daß man sich angewöhnte, bei dem Worte drame sogleich an etwas Prosaisches, Unbestimmtes und Kompaßloses, kurz an etwas Niedriges zu denken. Und von dieser unglückseligen, durch Zufall erworbenen Anschauung hat sich Frankreich, wie wir sehen werden, nie wieder gänzlich befreien können, trotz der nachträglichen theoretischen Erhebung des drame historique in den ersten Rang.
Es ist nicht ganz leicht, sich über die ersten Anfänge des drame und über den genauen Anteil, welchen jeder seiner Paten La Chaussée, Diderot, Sedaine, Mercier und Beaumarchais an seiner Erziehung nahm, Klarheit zu verschaffen. Das liegt zum Teil am Stoff selbst, indem das drame zerfahren und chaotisch entstand, unter den verschiedensten Namen: comédie larmoyante, comédie sérieuse, tragédie domestique, drame bourgeois und so weiter, zum Teil an der altehrwürdigen Gewohnheit der Literaturgeschichte, gewisse Epochen stets nur einleitungsweise mit stereotypen Phrasen abzufertigen. Ob man zwei oder zwanzig Darstellungen lese, man wird immer mit den nämlichen allgemeinen und verdächtig vorsichtigen Worten abgespeist. Einsichtsvoll und verhältnismäßig deutlich, obschon nichts weniger als erschöpfend, ist unser Thema in dem geistvollen «Beaumarchais» von Loménie behandelt.
Was zunächst den Titel der Kunstgattung betrifft (und der Titel gilt dem Franzosen bei der hierarchischen Organisation seiner Ästhetik überall für eine Sache von außerordentlicher Wichtigkeit; beiläufig gesagt: nicht mit Unrecht), so datiert Loménie die Wahl des Namens drame erst von Beaumarchais. Daß Diderot seine eigenen bürgerlichen Rührstücke comédies taufte, ist bekannt; daß jedoch sogar ein Loménie gesteht, nicht zu wissen, ob nicht vor Beaumarchais ein anderer schon den Namen drame gebraucht, ist bezeichnend für die unscheinbare Geburt dieser Kunstform. Gleichzeitig an vielen Stellen aus dem Boden hervorwachsend und von jedermann als Unkraut betrachtet, so kam eine Kunstgattung auf die Welt, welche bald darauf durch Lessing einen so gewaltigen Einfluß auf Deutschland ausüben und ein halbes Jahrhundert später Frankreich revolutionieren sollte.
Ungemein wichtig aber ist es, bei der Beurteilung des Diderot und seiner Kollegen die Lehren von den Werken zu unterscheiden. Was die letztern betrifft, so hat in Frankreich von jeher nur eine Stimme darüber geherrscht, daß die Theaterstücke des Diderot tief unter dem Mittelmäßigen stehen und daß die drames des Beaumarchais nicht viel besser sind; am glimpflichsten kommt noch Sedaine weg. Auch die deutsche Kritik gibt mehr und mehr zu, daß Lessing, der in seiner Polemik den klassischen Philologen nicht ganz verleugnete, die dramatischen Versuche des Diderot höher erhob, als sie es verdienen, weil eben Lessing keine tüchtigeren Beispiele vorfand und auch ein wenig, weil er sicher war, damit seine Gegner zu ärgern. Anders verhält es sich mit den Theorien, wie sie Diderot, Mercier und Beaumarchais entwickelten. In ihnen lag, zwischen vielem dilettantischen und unfruchtbaren Gestrüpp ein wertvoller und triebfähiger Keim, welchen Lessings Scharfblick zuerst erkannte. Übrigens hat Frankreich nicht allzulange sich derselben Einsicht verschlossen; und vollends heutzutage gehört das drame (bürgerliches Trauerspiel), wie jedermann weiß, zu den alltäglichsten Erscheinungen des Pariser Repertoires. Freilich kann auch heute noch wie vor hundert Jahren der Franzose keinen Grund finden, warum eines das andere auffressen müsse, warum drame und tragédie nicht friedlich nebeneinander wohnen dürften. Umgekehrt zeigt der Deutsche neuestens nicht übel Lust, die historischen Trauerspiele Schillers den rhetorischen des Corneille nachzuwerfen, um jeden Dramatiker mit einem schrecklichen Eid auf das bürgerliche Trauerspiel, mit Ausschluß aller übrigen, zu verpflichten. Dabei dünkt er sich über die Maßen französisch. Wir werden später sehen, was es mit diesem erhebenden Bewußtsein für eine Bewandtnis hat.
Wichtiger als die genannten Begründer des drame erscheinen auch dem Franzosen die deutschen Nachfolger, zu welchen er neben Lessing auch Goethe und Schiller zählt, wenn auch natürlich mit ehrenden Vorbehalten. Die französische Literaturgeschichte macht nach Diderot eine Pause und unternimmt eine Beobachtungsreise nach Deutschland; hier stellen sich ihrem Auge die Dinge folgendermaßen dar. Die Anfänge der deutschen literarischen (klassischen) Dramatik werden durchaus im Lichte des Diderot geschaut; die Einführung des Verses («Nathan»), ferner die Wahl historischer Stoffe und vor allem die Verbindung beider werden als segensreiche Neuerungen empfunden und dem Genie der deutschen Klassiker wärmstens verdankt. Die Abschwenkung Schillers von der Bahn der «Räuber» und der «Kabale» zu seinen historischen Jambentragödien wird als ein blendender, herrlicher Aufschwung gepriesen, und die Buchdramen der Goethe, Lessing («Nathan») und Schiller («Braut von Messina») werden als höchste Flüge (in der Richtung nach Athen und Paris) gefeiert. Mit Ausnahme der letztgenannten Stücke, welche nach der tragédie zielen, übrigens, ohne sie nach französischem Urteil ganz zu erreichen, verbleibt indessen das ganze dramatische Repertoire der Deutschen für die französische Literaturgeschichte innerhalb des Rahmens drame, nur daß in Deutschland wie ehemals in England das drame aus der bürgerlichen und prosaischen Sphäre in die historische und poetische erhoben wurde. Hiemit bilden Lessing, Goethe und Schiller die Brücke zu Victor Hugo, mit welchem die französische Literaturgeschichte triumphierend wieder auf den heimatlichen Boden zurückkehrt.
Was geschah während dieser Zeit mit dem drame in Frankreich selber? Die französische Literaturgeschichte schweigt sich hierüber einstimmig aus; die wenigen Worte aber, die sie etwa darüber fallen läßt, bekunden die tiefste Verachtung. Auch ist wirklich von dem drame kaum mehr eine Spur zu entdecken; es verschwindet unter dem Boden, es versiegt wie eine Pfütze. Wir sprechen wohlverstanden, nur von dem bürgerlichen drame. Loménie schreibt diese Versenkung den napoleonischen Kriegszeiten zu; doch scheint uns vielmehr die allgemeine ästhetische Verachtung, welche diese Gattung brandmarkte, dem drame den Lebensmut geraubt zu haben. In jener Zeit war es auch, daß das drame mit dem Singspiel jene ehrenrührige Verbindung einging, durch welche ihm bis auf den heutigen Tag, nachdem jene Verbindung längst aufgelöst worden, der Nebengeschmack eines mélodrame anhaftet. Im Gegensatz dazu mehrten sich während derselben Epoche unter deutschen Einflüssen die Anläufe zum drame historique, welche seit dem «Franz II.» des Präsidenten Hénault, also seit 1747, als vereinzelte Phänomene periodisch wiederkehrten. Hierüber gibt jede französische Literaturgeschichte genügenden Aufschluß, weil das historische drame in Frankreich unendlich höher geschätzt wird als das bürgerliche, so daß der Literarhistoriker den Vorläufern des Victor Hugo mit demselben Eifer nachspürt wie der protestantische Theolog den Vorläufern Luthers. Doch muß dabei immer im Auge behalten werden, daß vor der großen romantischen Revolution das historische drame trotz achtbaren Beispielen noch keineswegs als berechtigte Kunstgattung anerkannt wurde; man faßte die betreffenden Erscheinungen einfach als Mißgeburten der tragédie auf, während niemand dem bürgerlichen drame, wie sehr er es auch verachten mochte, nach Diderot und Beaumarchais mehr den Anspruch auf eine selbständige Kunstform zu verwehren wagte. Der Franzose des Kaiserreichs und der Restauration dachte also bei dem Namen drame durchaus nur an das bürgerliche Trauerspiel. So gibt zum Beispiel das Wörterbuch von Boiste, welches im Jahre 1823, also kurz vor der Geburt des vornehmen drame historique, erschien, folgende Definition des Wortes drame: «Bürgerliche Tragödie mit vulgären Personen und ohne Ideenbeziehungen zum Staat und zur Nation».
Das glänzende Aufflammen eines poetischen drame historique brachte zwar auch dem bürgerlichen drame die Wiederauferstehung, aber schob es zugleich in den Hintergrund. Erst nachdem das drame historique einen tödlichen Sturz getan, trat es wieder hervor, aber nunmehr endgültig und, im Bewußtsein der Abwesenheit seines vornehmen Rivalen, zudringlich. Es genießt zwar selbst heute nur wenig Achtung, doch erfreut es sich großer Beliebtheit, und seine Unentbehrlichkeit dient ihm zur Empfehlung. Was für Empfehlungen ihm in Deutschland zugute kommen, daß wir das französische bürgerliche drame, welches in Frankreich immerhin nur als Statthalter und Lückenbüßer angesehen wird, unsern Dichtern zum Muster, zur Nachahmung und zum Heilmittel gegen Schiller hinhalten, wollen wir nicht untersuchen. Genug, wir besitzen es, und unter dem geschmackvollen deutschen Titel ‹Salontragödie› kennt es jede Direktion und jedes Theaterpublikum.
Diese Salontragödie wird, allen Traditionen des drame entsprechend, von Lustspieldichtern geschrieben. Auch lautet ja der volle Name dieses niedern drame zur Unterscheidung von dem drame historique eigentlich comédie dramatique (bei Diderot schlechtweg: comédie), doch wird der volle Doppeltitel als überflüssig kaum jemals gebraucht, weil bei dem erbarmenswerten Zustand des heutigen drame historique eine Verwechslung kaum zu befürchten bleibt. Der moderne Sprachgebrauch sagt drame für das bürgerliche und drame historique oder romantique für das historische Trauerspiel.
französisch: drame historique, drame romantique, drame historique romantique; deutsch: historisches Trauerspiel
Wem wäre nicht schon aufgefallen, daß die dramatische Poesie der Franzosen so wenig aufweist, was unserm historischen Trauerspiel ähnlich sieht? Die Erklärung dieser Tatsache in einer Abneigung gegen fernliegende Stoffe zu suchen, wäre ein großer Irrtum, da im Gegenteil die französische Nation noch heutzutage wenigstens einem Hauptstück der Vergangenheit, dem klassischen Altertum, ein Interesse zuwendet, welches das übrige Europa in diesem Grade längst nicht mehr kennt. In der Tat begrüßt ja dasselbe Paris, das uns Winter für Winter unsern Bedarf an aktuellen Bühnendramen liefert, jede einigermaßen literarisch anständige Novität im Gebiet des geschichtlichen Dramas mit einer den Deutschen befremdenden Ehrerbietung; und eine Vergleichung der betreffenden Theaterkritiken in Deutschland und in Frankreich ergibt eine ungleich höhere Wertschätzung des historischen Trauerspiels jenseits als diesseits der Vogesen. Wir dürfen uns also nicht verleiten lassen, aus der Abwesenheit der Gattung auf eine Mißachtung derselben zu schließen. Die Abwesenheit bedeutet vielmehr eine Lücke, und zwar eine solche, die von den Franzosen recht schmerzlich empfunden wird. Um nun zu begreifen, warum jene Lücke trotz dem lebhaftesten Bedürfnis und trotz dem erfreulichen Reichtum von dramatischen Talenten nicht ausgefüllt wird, dazu ist eine Übersicht über die bisherigen Versuche zu einem historischen Trauerspiel vonnöten. Aus einer solchen Übersicht wird sich ergeben, daß der gegenwärtige unrühmliche, ja klägliche Zustand der betreffenden Kunstform in Frankreich als eine totale Lähmung des Willens durch Mutlosigkeit, mit andern Worten durch eine lange Reihe von Fehlversuchen aufgefaßt werden muß.
Doch verständigen wir uns vor allem darüber, unter welcher Etikette das historische Trauerspiel der Franzosen zu suchen sei. Die tragédie hat, wie wir gesehen, damit nichts zu schaffen, wie es ja eine tragédie historique selbst nicht einmal dem Namen nach gibt. Die tragédie steuert stilistischen (rhetorischen) und moralischen Zielen zu, für welche das Stoffgebiet des Altertums nur den konventionellen Idealnimbus hergibt. Vielmehr ist es das drame, welches die Parallele zu unserm historischen Trauerspiel bildet; nur unter dem Titel drame historique oder, was für den Franzosen ganz dasselbe bedeutet, drame romantique können wir Analogien finden. Freilich sollte man dieselben nun hier in großer Zahl erwarten, da doch das drame historique seine Entstehung dem historischen Trauerspiel der Germanen und der Spanier verdankt, aus deren Nachahmung es hervorging. Daß trotz diesem direkten Kausalverhältnis keinerlei Verwandtschaft zwischen den beiden zu entdecken ist, das gehört mit zu den vielen Sonderbarkeiten, welche dem drame historique der Franzosen anhaften.
Als einst das junge Frankreich der zwanziger Jahre, durch das Studium der Ausländer belehrt, zu der Einsicht von der Einseitigkeit der tragédie gelangte, da schien die Sonne Shakespeares, die sich für Deutschland so segensreich erwiesen, auch Frankreich leuchten zu wollen. In der Tat waren einige Hauptbedingungen zu einer ähnlichen schöpferischen Entwicklung vorhanden. Vor allem die Selbsterkenntnis, dann der ehrliche gute Wille, endlich das Genie (Victor Hugo). Was hat da gefehlt und gestört? Welches sind die Ursachen, die statt des gehofften freien historischen Dramas nur Mißgeburten ohne Lebens- und Fortpflanzungsfähigkeit hervorbrachten? Dieselben sind nach meiner Ansicht die folgenden:
Zunächst der Mangel an grundlegenden theoretischen Erörterungen, wie sie Deutschland in der «Hamburger Dramaturgie» erhielt. Dem Franzosen stand und steht weder eine Ästhetik noch eine Dramaturgie zur Seite, kein Herder hat ihm das Herz der Poesie entdeckt und kein Lessing die Geheimnisse des dramatischen Baus erschlossen. Seine ästhetischen Führer heißen: Regeln und Überlieferungen, Vorbilder, Versuche, Erfahrungen und, nicht zu vergessen, ein natürlicher, überdies herrlich ausgebildeter Sinn für das Schöne. Man sollte denken, diese Führer ersetzten die bewußte, prinzipielle Erkenntnis mehr als genügend. Und wirklich gibt es Gebiete der Poesie, in welchen der einfache Schönheitsinstinkt der französischen Nation, verbunden mit den Lehren einer vielhundertjährigen Literatur, klarer urteilt als wir mit unsern ästhetischen Dogmen: ein solches Gebiet ist zum Beispiel der dramatische Dialog. Im drame historique jedoch erwies sich der Mangel an bewußter Erkenntnis der Grundgesetze als überaus unheilvoll. Von der Konvention der aristotelischen Regeln befreit, durch keine spezielle Erfahrung und Mahnung gewarnt, sprangen die Autoren aufs Geratewohl in das historische drame, mit der Hoffnung, zufällig ans Ziel zu springen. Die Franzosen sind denn auch jetzt die ersten, den Mangel an grundlegenden Abhandlungen für die künstlerische Erkenntnis zu beklagen. Zwar jenes ungeschlachte Riesenmädchen, das wir ‹Ästhetik› nennen, eine Kollektivgeburt von Metaphysik, Naturwissenschaft, Kunstgeschichte und Kunstverständnis (und nicht selten auch von Kunstunverständnis), beobachten sie mit scheuen Blicken, zweifelnd, ob es ein nützliches oder ein schädliches Getier sei; dagegen um tiefsinnige Darlegungen großer Meister im Stil der «Hamburger Dramaturgie» und der Schillerschen Aufsätze beneiden sie uns, und sie wissen warum. Ihre gesamte theoretische Erkenntnis hinsichtlich des Dramas liegt in tausenderlei kurzen, obschon zum Teil höchst feinen Bemerkungen verzettelt. Zusammenhängende Arbeiten von Belang finden sich bis auf die neueste Zeit nur in Gestalt von Vorreden zu dramatischen Werken (zum Beispiel zu «Britannicus», zu «Eugenie», zu «Cromwell» und so weiter), von denen die einen veraltet, die andern von vornherein unbrauchbar heißen müssen. Um es mit einem Wort zu sagen: es fehlte den dramatischen Autoren der zwanziger Jahre die unerläßliche Vorarbeit einer gediegenen schöpferischen Kritik.
Damit hängt innig zusammen das Mißverständnis der Vorbilder. Schillers Bild wurde durch den Schleier der «Ahnfrau» und ähnlicher epigonischer Kuriositäten getrübt, Shakespeares Riesengestalt durch die Hohlbrille einer Romantik aus dritter Hand betrachtet. Eine Menge anderer Lehrer verrückten endlich den Autoren, die alles Ausländische für gleichartig hielten, das Urteil. Byron, Walter Scott und vor allem Lope de Vega sollten neben Shakespeare Modell stehen. Shakespeare für sich diente besonders als Symbol der Maßlosigkeit. Was man an ihm hauptsächlich bewunderte, das war das ‹Groteske›; was von seinen Gestalten in der Phantasie haften blieb: bucklige Narren, umschlungen von lilienweißen Fräulein. Von der Ökonomie der Shakespeareschen Werke keine Ahnung.
Äußerst verderblich wirkte dazu der alte Schimpf, der nun einmal dem Titel drame im französischen Sprachgebrauch anhaftet. Man mochte noch so sehr das drame historique als eine Gattung höchsten Rangs anpreisen, die Victor Hugo und Dumas konnten sich innerlich selber nicht von der Meinung trennen, daß für ein drame alles und jedes gut genug sei. Das bewiesen sie durch die Tat, indem sie mit einer unglaublichen Frivolität in die neue Kunstform hineinstürmten, den Hut auf dem Kopf, wie in ein Wirtshaus. Wie sehen wir Lessing jahre- und jahrzehntelang über seinen Musterwerken in heiliger Denkarbeit brüten, mit dem bescheidenen Ziel, Shakespeares Größe von unten und von weitem her näherzukommen! Wie voreilig dagegen, wie frech und hochmütig werfen die französischen Autoren der dreißiger Jahre ihre historischen Trauerspiele ( drames) auf die Bretter, ungeweiht und unvollendet, den Schlotterbau und die Hohlheit der Erfindung mit einem Vorhang von wundervollen Versen verdeckend! Unabsehbares und noch lange nicht überwundenes Unheil hat dieses würdelose Treiben talentvoller Dichter in einer vermeintlich leichten Kunstgattung über das französische Drama gebracht. Noch heute glaubt der Franzose, das drame historique, also das historische Trauerspiel, bedürfe weniger der Selbstzucht, gestatte eine losere Organisation als irgendein anderer Teil der dramatischen Kunst. Darum schalten denn auch die französischen Dichter im historischen Trauerspiel mit einer Burschikosität, die den geraden Gegensatz zu der fast abergläubischen Scheu bildet, mit welcher wir dieser Kunstform nahen.
Dann griff die alte tragédie, die man tot und übertot geschlagen zu haben behauptete, gleichwohl verwirrend in das neue drame ein. Lessing durfte nach der theoretischen Überwindung der importierten tragédie seinem Shakespeare ungestört ins Antlitz schauen. Dagegen blendete in Frankreich die besiegte tragédie selbst noch aus dem Staube den Blick ihrer Feinde. Nach wie vor richteten sich die Augen nach ihr wie nach einem Kompaß, nur daß man jetzt entschlossen war, links zu gehen, wenn der Kompaß nach rechts zeigte. «Die tragédie hat mit ihren antiken Stoffen so verfahren, folglich», so lautete der naive Schluß, «müssen wir mit den mittelalterlichen gerade das Gegenteil tun.» Hatte die tragédie königliche Figuren in höfischem Anstand mit feierlicher Rede deklamieren lassen, so mußten nach dieser Logik im historischen Trauerspiel bucklige Narren mit wütenden Gestikulationen herumrennen «wie betrunkene Maikäfer» (Zola).
Endlich müssen wir noch jener Phantasieseuche gedenken, welche damals mit der Cholera Europa heimsuchte: der Romantik. Wer auf die angenehmste Weise eine Vorstellung davon gewinnen mag, wie Frankreich den romantischen Karneval feierte, der lese die überaus liebenswürdigen «Souvenirs littéraires» von Maxime Du Camp in der «Revue des Deux Mondes». Die damalige Anschauung vom Wesen der Poesie läßt sich in einen Satz zusammenfassen: Je verrückter, desto poetischer. Wir haben bekanntlich allmählich jenen Satz ins Gegenteil korrigiert und urteilen heute: Je nüchterner, desto poetischer. Ob das viel gescheiter sei, darüber werden unsere Großkinder entscheiden. Daß trotzdem die Romantik in manchen Gebieten der Poesie Schönes hervorgebracht, und das sowohl in Frankreich wie in Deutschland, wer wüßte das nicht? Dem französischen drame historique jedoch, dessen Lebensfähigkeit ohnehin zweifelhaft war, gab die Romantik den Todesstoß. Ich möchte es geradezu ihr Opfer nennen, erblickte ich nicht den tiefsten Grund seines Mißlingens in dem prahlerischen Gebaren und der künstlerischen Würdelosigkeit der Autoren. Wenigstens hat anderswo die Romantik auch im Drama edle Früchte gezeitigt. Für die Theorien aber, welche die Vorrede zu «Cromwell» entwickelt, darf die Romantik kaum verantwortlich gemacht werden, jedenfalls die deutsche nicht, denn sie sind vorwiegend aus dem Privatgallimathias Victor Hugos geschöpft. Eine Probe daraus mag genügen: «Das Groteske vereint mit dem Erhabenen ergibt das Reale.» Kein Wunder, wenn das drame historique einen ‹epileptischen› Charakter annahm. Das Schlimmste dabei ist, daß die Epilepsie fortan als Grundgesetz des historischen Trauerspiels gilt, daß die Romantik mit dem drame eine pathologische Verwachsung gebildet hat, daß ‹historisch›, ‹romantisch› und ‹tollkühn› von nun an für den Franzosen gleichbedeutende Begriffe werden. Noch jetzt glaubt der französische Autor, daß dem historischen Trauerspiel eine kleine Dosis Hirnverbranntheit wohl bekomme. Wie läßt sich diese eigensinnige Befangenheit in einem zufälligen Irrtum nach der Überwindung der Romantik angesichts des gesunden Franzosenverstandes erklären? Die Schuld liegt an dem Autoritätskultus, dieser Kehrseite der französischen Pietät in literarischen Dingen. Der Weihrauch ist in Frankreich wohlfeil; er wird eimerweise auf die namhaften Häupter gegossen. Wo ein Eugène Sue und ein Jules Verne ‹Genies› genannt werden, wo man darüber diskutiert, welche Kleinigkeit dem ‹französischen Lope de Vega› (das heißt Alexandre Dumas dem Ältern) gemangelt habe, um Shakespeare völlig ebenbürtig zu sein, da muß ein Victor Hugo natürlich in überweltlicher Höhe strahlen. Nun, wir haben es ja erlebt. Es kann uns also nicht wundern, wenn das Vorbild Victor Hugos die Augen verblendete. Daß übrigens schließlich nicht Victor Hugo, sondern der frivolere Alexandre Dumas, der dem drame noch weit leichtere Aufgaben stellte, für die Weiterentwicklung des historischen Trauerspiels ausschlaggebend geblieben, werden wir sogleich sehen.
Überschlagen wir vorher den idealen Gewinn und Verlust, den die Einführung des romantischen drame historique Frankreich gebracht.
Auf der einen Seite dürfen wir, abgesehen von der unschätzbaren Bereicherung der Literatur durch die in stilistischer Hinsicht meisterhaften Werke Victor Hugos, die theoretische Erhebung des historischen Trauerspiels ( drame) in den Rang der tragédie nicht gering anschlagen. Scheint das auch auf den ersten Blick wertlos, da es doch an Werken gebricht, welche diesem Rang entsprechen, so steht doch einmal der Rahmen da, und die Lücke innerhalb dieses Rahmens wird von der Nation schmerzlich empfunden. Kommt also einst ein Dramatiker, der allen Anforderungen der Kunstgattung entspricht, so wird sich derselbe, läßt sich hoffen wenn auch nicht gar zu felsenfest , nicht erst mit der Kritik herumzuschlagen brauchen. Ferner wurde durch das drame historique eine äußerliche Verständigung mit der dramatischen Poesie des Auslandes angebahnt. Es mutet uns freilich wenig an, Lessing als einen mindern Diderot und Goethe und Schiller als ungekämmten Victor Hugo angeschaut zu wissen. Gegenüber der alten Schulmeisterei mit dem aristotelischen Lineal bedeutet es immerhin einen Fortschritt.
Anderseits bleibt der romantische Charakter, den der Franzose, wie wir gesehen, in seiner Vorstellung von einem historischen Trauerspiel nicht mehr zu trennen vermag, ein äußerst bedenklicher Umstand. Diese vermeintliche Unzertrennlichkeit ist die Hauptursache, warum an dem drame historique bisher alle Verjüngungsversuche gescheitert sind, warum, um es mit andern Worten zu sagen, die Ernüchterung, statt einer gesunden Korrektur zu rufen, zur Verzweiflung führte. Natürlich kann ein moderner Franzose die romantische Schwärmerei so wenig wiederfinden wie ein moderner Deutscher die schillersche Naivität der Rhetorik. Die ernsthaften Schriftsteller sehen das ein und bleiben daher dem drame historique romantique fern, die andern arbeiten sich in eine künstliche Tollheit hinein, um womöglich die gewünschte und vermeintlich für das historische Trauerspiel erforderliche Phantasiehitze zu gewinnen. Dann erzeugt gerade die äußere Anlehnung an die Ausländer ein inneres Mißverständnis derselben. Es ist eine bedenkliche Einführung in die deutsche Literatur, wenn man Goethe und Schiller als Romantiker auffaßt. Wir haben Mühe zu begreifen, wie das überhaupt möglich sein kann, es ist aber ein einfaches Subtraktionsexempel. Da nämlich nach französischer Ansicht zur Klassizität nicht allein die höchste Vollendung, sondern zugleich die (feierliche) Behandlung klassischer, das heißt antiker Stoffe gehört, dürfen unsere Dichter im allgemeinen nicht Klassiker heißen. Da man ferner alles, was nicht klassisch ist, romantisch nennt Loménie rechnet Diderot und Beaumarchais zu den Romantikern; und die französische Literaturgeschichte tut dasselbe (obschon verschämt) mit allen modernen Pariser Autoren., so sind sie eben ‹Romantiker›. Leider ist diese logische Spielerei nicht so harmlos, als man denken sollte; denn Namen haben inwendig keine trennenden Schubfächer; sie gleichen Flaschen, in welchen der gesamte Inhalt durcheinanderfließt. Und so erscheinen denn die ‹Romantiker› Goethe und Schiller, wenn nicht allen, so doch den meisten Franzosen als Geistesverwandte Hoffmanns. Damit aber verwandelt sich das einfache Subtraktionsexempel in eine Gleichung mit Unbekannten.
Die Weiterentwicklung des drame historique bietet ein Bild der Zersplitterung, der Zerfahrenheit und der Verzweiflung. Zwar die Erkenntnis ließ nicht auf sich warten. Sehr rasch begriff Frankreich, daß das historische Trauerspiel schwerlich auf dem Wege nach dem Tollhaus liege. Auch war damals die Vergötterung Victor Hugos noch nicht obligatorisch. Man durfte es wagen, die Erkenntnis öffentlich zu gestehen und dieselbe durch Versuche zu betätigen. Nun ist es aber bezeichnend für den französischen Charakter, daß niemand auf den Einfall geriet, die Rettung in der Vertiefung des künstlerischen Willens und in der Erforschung der Grundgesetze der betreffenden Kunstform zu suchen. Man holte die tragédie wieder hervor und bat sie um die Erlaubnis, Kompromisse mit ihr einzugehen. So ratlos und verlassen fühlt sich der französische Dichter, sobald er keinen konventionellen Zwang spürt, daß er in die nächstliegende Kette schlüpft, um einen Halt zu gewinnen. Allerdings berechtigte der Mißbrauch, der mit der Freiheit war getrieben worden, die Nachfolger zum Mißtrauen. Die Sehnsucht nach den Fesseln der tragédie stammte mithin aus jenem Bedürfnis, welches den von einem tollen Hund Gebissenen bitten läßt, man möge ihn binden. Auf solche Weise entstand eine Gruppe von ‹zahmen Shakespeare› ( Shakespeares du centre gauche) und von vernünftigen, achtungswerten, von Freund und Feind gelobten, von niemand bewunderten Schulstücken. Unter ihnen, um das beiläufig zu sagen, finden wir übrigens trotz allen Mängeln oder, richtiger ausgedrückt, trotz allen Vorzügen die einzigen Beispiele eines ernsthaften Trauerspiels, die das neuere Frankreich aufzuweisen hat. Ihr Hauptfehler ist die Fehlerlosigkeit.
Allein die Mittelmäßigkeit ist noch weniger dazu angetan, den französischen Geist zu fesseln, als die Absonderlichkeit. Der Heilversuch wurde für schlimmer befunden als die Krankheit, und so erfolgte endlich der letzte Schritt: man gab das drame historique als unheilbar auf. Nur so, wie man etwa zur Karnevalszeit Griechen und Perser aufmarschieren läßt, die niemand ernsthaft nimmt, erscheint das historische Trauerspiel ab und zu noch in Frankreich, als Reminiszenz geschrieben und als Anachronismus angeschaut. Zwar dem Namen nach huldigt man ihm noch als einer edlen Kunst, tatsächlich behandelt man es als einen Scherz von zweifelhaftem Geschmack. Wollten wir also bloß auf den Wert sehen, so wäre es schade um jedes Wort, das wir weiter darüber verlören. Da indessen die Tatsachen und nicht der Wert der Tatsachen über einen Zustand belehren, will ich den Charakter des modernen historischen Trauerspiels der Franzosen noch etwas bestimmter zeichnen.
Vor allem ist hervorzuheben, daß das Vorbild Victor Hugos, als zu mühevoll für eine so hoffnungslose Kunstform, verlassen wird. Man hält sich an das weit bequemere Muster des ältern Dumas. Das historische Trauerspiel ( drame) von Dumas ist aber nichts anderes als der Sensationsroman der dreißiger Jahre, für die Bretter zusammengestellt. Der aus den Bibliotheken geholte Sensationsroman mit aufgewärmten Rittern und Räubern, das ist demgemäß auch das Wesen des jetzigen drame historique. Als Probe und Beweis kann das Stück «Le fils de Porthos» dienen, nebst den Bemerkungen der französischen Kritiker über dasselbe. Sarcey belehrt uns zunächst, daß dieses drame einem modernen Feuilletonroman entnommen ist, welcher seinerseits «eine Art Fortsetzung zu den ‹Drei Musketieren‹» bildet, und teilt demjenigen, der nicht das Glück hatte, das Werk selbst zu hören, mit, daß es vierzehn tableaux vorzeigt. (Die tableaux sind charakteristisch für das drame historique.) Dann sagt er über die ganze Gattung, wie sie jetzt aufgefaßt wird, folgende überaus lehrreiche und dem Gedächtnis einzuprägende Worte: «Dumas hat in Frankreich die Gattung des historischen drame oder richtiger des spanischen Mantel- und Degenstücks eingeführt. Dasselbe besteht in einer Reihenfolge von Bildern, welche sich sämtlich um ein historisches Ereignis bewegen, indem sie dasselbe im eigentlichen Sinn des Wortes illustrieren. Man hört ein Mantel- und Degenstück an, wie man in einer Sammlung von Vignetten oder von Kupferstichen aus der Geschichte blättert. Die Bilder müssen viel Glanz und Bewegung haben. Man nimmt gerne damit vorlieb, daß sie nur ganz äußerlich mit dem Gegenstand zusammenhangen und rein anekdotisch sind, dagegen verlangt man, daß sie die Phantasie in Anspruch nehmen ( qu'ils amusent l'imagination) und zu schönen Gruppen und Szenerien Anlaß geben. Es ist eine besondere Kunst für sich, an welcher nicht jedermann Geschmack findet, die jedoch einen gewissen Teil des französischen Publikums (Sarcey meint die Dienstmädchen und die sentimentalen Tambourmajore) über die Maßen entzückt. Selbstverständlich hat die historische Wahrheit wenig mit dem historischen drame zu schaffen. Die Geschichte, wie sie das Mantel- und Degenstück auf die Bretter stellt, ist und soll nichts anderes sein als eine Folge von abenteuerlichem und ergötzlichem Humbug ( gasconnades). Vor allem: Bewegung, Lärm und Glanz, Degenstöße, romantische Liebesgeschichten, Befreiungen, gräßliche Mordtaten und übermenschliche Aufopferungen. Und überall Helmbüsche, viel Helmbüsche.»
Das ist das historische Trauerspiel der Franzosen! ‹Humbug› und ‹Helmbüsche› sind schließlich als Grundgesetz derjenigen Gattung geblieben, welche einst den Anspruch erhob, es Shakespeare gleichzutun! Mit diesem Hokuspokus glaubt das französische Publikum etwas zu besitzen, was ungefähr Schiller ähnlich sehe! Dieser Schiller kommt uns etwas spanisch vor.
Des Deutschen Auge wird sich hier nach der berühmten französischen Bühnentechnik umsehen, mit der verwunderten Frage, warum denn ein Sardou und ein Dumas fils nicht beispringen, um zu helfen. Nun, sie springen freilich bei und helfen ihrerseits den Humbug vergrößern. Man darf ja nicht vergessen, daß der französische Autor für jede Dramengattung einen besonderen Kompositionsstil annimmt. Da nun aber der Stil des drame historique einmal Ungebundenheit und Augen- und Ohrenspektakel verlangt, handeln selbst die geschicktesten Bühnentechniker, sobald sie ins historische Schauspiel übertreten, dementsprechend. Sie lassen ihre Bühnentechnik zu Hause, weil dieselbe nach ihrer Überzeugung nicht hieher gehört. Die Bühnentechnik des «Balsamo» (Dumas fils) läßt sich nach den Kosten der Ausstattung in lateinischer Münzwährung angeben; der Kompositionswert der «Theodora» von Sardou, welcher man in Berlin ich weiß nicht welche bühnentechnischen Tugenden nachrühmt, ist nach französischem Urteil neben fünfzig Prozent Dekoration und fünfzig Prozent Sarah Bernhardt zu suchen. Und diese Tatsachen mögen denn beiläufig denjenigen, welche meinen, daß eine formale Bühnenkunst den Gegensatz zu schlottriger Theaterarbeit bilde, zur Belehrung dienen. Gerade so wie ein Bandfabrikant unbedenklich einen Schuhhandel unternimmt, wenn der letztere größeren und leichteren Erfolg verheißt, gerade so einfach liquidiert ein Dumas seine bühnentechnische Werkstätte und ein Sardou seine Faden- und Knotenspinnerei, um es einmal mit dem bequemern Möbel- und Tapetengeschäft zu versuchen.
Bei dieser Gelegenheit mache ich auf einen eigentümlichen Kontrast aufmerksam:
Wir Deutsche begehren im historischen Trauerspiel und Schauspiel strengstens die geschlossene Komposition, so sehr, daß wir nicht einmal die freiere Szenenführung der Shakespeareschen Historien gestatten. Der Franzose dagegen, dessen theatralische Kompositionskunst von uns so hoch gerühmt wird, geht im historischen Trauerspiel mit ungebundener Szenenführung noch weit über Shakespeares Historien hinaus und löst das Drama in ‹Bilder› auf. Die Bedeutsamkeit dieses merkwürdigen Kontrastes ist es wert, daß der Leser einen Augenblick über die Moral der Fabel nachdenke. Ich will seinem Urteil nicht vorgreifen und seine Gedanken nicht beeinflussen, da ich hiebei aus den Grenzen meiner Arbeit hervortreten müßte. Immerhin glaubte ich, auf die eigentümliche Verschränkung aufmerksam machen zu sollen.
Glücklicherweise schickt die Zukunft einen hoffnungsvollen Strahl in die klägliche Gegenwart des drame historique herüber. In unsern Tagen ist die Sehnsucht nach einem edlern historischen Trauerspiel erwacht, das literarisch und kompositorisch bedeutend wäre. Auch verspricht das gründlichere Verständnis Shakespeares, daß man sich diesmal vor Entgleisung hüten werde. Einzelne hervorragende Geister haben begriffen, daß das drame von den Romantikern mit Jubel in eine Sackgasse gestoßen wurde, daß man den falschen Weg bis zum ersten Anfang wieder zurücklegen müsse, um mit Vorsicht und Bescheidenheit von vorn zu beginnen, nach den Geboten des künstlerischen Gewissens und nach dem echten Muster der Ausländer. Um ein Beispiel davon zu geben, wie weit eine französische Elite in dieser Beziehung gediehen ist, wollen wir einen bedeutenden und geachteten Dramatiker, Parodi, sprechen lassen. In seinem Buche «Das französische Drama» das, beiläufig gesagt, ziemlich abscheulich, nämlich schwülstig, blumig und gelehrttuerisch geschrieben ist, behandelt derselbe das drame historique unter dem Titel einer «Lücke» der französischen dramatischen Kunst. So viel wie nichts ist getan, alles bleibt noch zu erkämpfen. Er erkennt in der Leichtfertigkeit der Arbeit die Todsünde der Victor Hugo und Dumas. Er verwirft den Titel drame für das historische Trauerspiel und wagt es, von einer tragédie historique zu reden. Und das ist in der Tat der Punkt, von welchem die Heilung ausgehen muß. Denn solange Frankreich den Namen tragédie, der für einen königlichen gilt, auf das rhetorische Drama beschränkt und dem historischen Drama den Namen drame, der immer anrüchig bleiben wird, zuweist, solange wird das historische Trauerspiel von der Seite angesehen und nachlässig gearbeitet werden. Sobald man hingegen tragédie historique sagt, weiß jedermann, daß er seine Schuhe auszuziehen hat. Parodi rühmt ferner mit Schiller den dramatischen Gehalt der französischen Geschichte und nennt es eine Schande, daß sich Frankreich in der Ausbeutung derselben von einem Ausländer habe überflügeln lassen. Sein Vorbild ist die historische Tragödie und in noch höherem Grade die Historie Shakespeares. Ein analoger Zyklus ‹französischer Historien› erscheint ihm als das edelste Ziel für den Dramatiker. Sein Kompositionsprinzip ist ein echt künstlerisches, indem er das Maß des Trauerspiels den Anforderungen des jedesmaligen Stoffes entnehmen will. Und wer möchte ihm hierin nicht beipflichten? Denn Form ist ja nichts anderes als natürlich gegliederter Stoff. Endlich verlangt Parodi ebensowohl ein tüchtiges, genau berechnetes Gerüst der Handlung als einen literarisch schönen Dialog. Kurz, er steht in der Hauptsache genau auf dem Standpunkt unserer Klassiker; er bekennt denselben Kunstwillen und empfiehlt dieselben Mittel zum nämlichen Ziel.
Wir können seinen Bestrebungen nur Glück wünschen. Dringt seine Lehre durch, dann fehlt Frankreich zu einem tüchtigen historischen Trauerspiel nur noch eines: eine kleine Kette großer Dramatiker. Haben wir aber, weil das drame historique bis auf unsere Tage wenig Erfreuliches hervorgebracht, darum ein Recht, dasselbe zu ignorieren? Hätten wir selbst ein Recht, so täten wir doch unklug, das Recht zu benützen, denn dadurch verlören wir den Zusammenhang des französischen Dramas. Links außen die antikisierende pathetische tragédie mit ihren Verwandten, rechts am andern Ende das prosaische, realistische Lustspiel mit seinen Ablegern das läßt sich allerdings schwer zusammenreimen, und wir können es niemand verdenken, wenn er sich dies nicht zu erklären vermag. Im Zentrum des französischen Dramas jedoch liegt, ganz wie bei uns, das drame historique, nur unsichtbar, weil derzeit abwesend. Darum ist es jedoch weder tot noch vergessen. Sein Platz ist zurückbehalten, der Thron für seine Wiederkunft bereit, und man schickt Boten aus, um seine Heimkehr zu melden. Wer also das drame historique ignoriert, der tut wie ein Architekt, welcher in der Zeichnung eines Palastes das Mittelgebäude wegließe, aus dem Grunde, weil dasselbe gegenwärtig nicht bewohnt werde.