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«La Traviata»

Zu den vielen Dingen, welche uns gegen die sogenannte dramatische, im Gegensatz zu der melodiösen Opernmusik, mißtrauisch machen können, gehört die Erfahrung, daß die rein dramatischen Komponisten, also zum Beispiel die neudeutschen und die neurussischen, niemals, auch nicht ausnahmsweise, ein melodiöses Werk hervorbringen, während umgekehrt jedem Meister des melodiösen Opernstils die dramatische Behandlung eines Textes gelingt, wenn er einmal den Willen dazu findet. Wir wollen von älteren Beispielen nicht reden, wohl aber dürfen und sollen wir es von Verdi, da die Existenz einer «Traviata» neben einem «Othello» ein ebenso erstaunliches als lehrreiches Phänomen ist. Hier haben wir die beiden Extreme in einer Person vereinigt, und zwar an beiden Orten in höchster Vollendung. Dort, in «Traviata», ein überschwenglicher Reichtum süßer Melodien, wie sie kaum eine andere Oper bietet; dort, in «Othello», eine dramatische Kraft von einem Ernst, einer Gewalt und Keuschheit, daß selbst der orthodoxeste Wagnerianer den Hut davor abzieht. Ja, wenn wir dem Korrespondenten des «Bund» glauben, und wir glauben ihm, da das K[arl] M[unzinger] einen unserer hervorragendsten schweizerischen Musikdirektoren verrät, so muß «Othello» an dramatischer Kraft Wagner an manchen Stellen übertreffen. Die Tatsache klingt auch gar nicht unglaublich, da wir schon in der «Messe» und in «Aïda» ähnliche Symptome entdeckten; ich wüßte nicht, welches Werk an Feinheit der Instrumentation mit «Aïda» wetteifern könnte. Und das ist derselbe Verdi, über dessen ‹plumpe Bässe› und ‹rohe Chöre› eine zimbrische Kritik des Spottes kein Ende fand. Das gibt allerlei zu denken. Unter anderm folgendes: es muß denn wohl keine gar so schwierige Sache um den neudeutschen Schulstil sein, wenn der verrufenste aller Italiener, jener, dessen ‹Bänkelsängerei› man als das non plus infra verachtete, imstande ist, nach seinem sechzigsten Jahre noch plötzlich ein Werk ersten Ranges in der gepriesenen Richtung zu liefern; keine gar so schwierige Sache, nämlich eine Sache der eigensinnigen, doktrinären Beharrlichkeit.

Wie aber sollen wir die Anziehungskraft erklären, welche die melodiösen Meister jederzeit gereizt hat, die dramatischen nachzuahmen? Schwerlich werden wir fehlgehen, wenn wir einen Eindruck wie diesen voraussetzen: «Das könnten wir auch.» Und in der Tat, sie konnten es auch, das haben sie bewiesen, Rossini und Bellini auf ihre Art, Verdi auf die Art Wagners. Nun wäre bloß zu wünschen, daß die dramatischen ihnen Revanche geben möchten, indem sie ihrerseits bewiesen, daß sie auch eine «Traviata» schreiben könnten. Doch darauf würden wir umsonst warten.

Der Gedanke an «Othello» ist keineswegs überflüssig, wenn es sich um «Traviata» handelt. Wer zu bescheiden ist, um seinem eigenen Urteil zu vertrauen, wem mit andern Worten die musikalischen Moden und die ästhetischen Scholasmen imponieren, der gewinnt durch den Gedanken an Verdis neueste orthodoxe Schwenkung die Erlaubnis, die wir Ketzer uns ungefragt herausnehmen, die Erlaubnis nämlich, sich an der Schönheit der «Traviata» nach Herzenslust zu weiden. Verdi hat durch seine Bekehrung Absolution für seine melodiösen Sünden gewonnen; das darf sich jedermann zunutze machen.

Die Versuchung, wider alle Regeln der Schule dem Genuß dieser Musik sich hinzugeben, ist geradezu unwiderstehlich, wenn uns die Sänger die ganze Wärme und Farbenpracht, welche der Meister seiner südländischen Schöpfung eingehaucht hat, aus den Tönen herauszuzaubern verstehen.


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