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«Fidelio»

I

Wer den Kunstgenuß unter dem Gesichtspunkte einer Erholung betrachtet, der wird dem «Fidelio», falls er nicht nur so im allgemeinen der Spur nach bewundert, sondern gewohnt ist, Ton für Ton auf sich wirken zu lassen, unter einem schicklichen Vorwand aus dem Wege gehen. Denn ohne Erschütterung des ganzen Menschen geht es hier nicht ab. Diese titanischen Rhythmen, dieser energische, ernste Wille, diese wuchtige Arbeit mit dem vollen Orchester, die ohne die Proportionalität der einzelnen Stücke im höchsten Grade modern heißen müßte, diese unerbittliche Tragik, welche selbst das Lied in die Grundstimmung mit hineinreißt und gegen welche «Don Juan» eine lustige Oper erscheint, endlich diese Nachhaltigkeit leidenschaftlicher Erregung erheben ganz außerordentliche Ansprüche an den aufrichtigen Hörer, so daß man über die leichtlebigen Wiener, die den «Fidelio» zuerst frostig empfingen, nicht allzu scharf urteilen darf. Man war eben damals noch nicht gewohnt, im begleitenden Orchester die symphonische Kunst der thematischen Arbeit entwickelt und die Gesangesstimmen bloß als einen Bestandteil solcher Arbeit behandelt zu sehen; denn die alten Italiener, obschon tüchtig geschulte Kontrapunktisten, glaubten ihr thematisches Wissen und Können auf die feine Oper nicht anwenden zu dürfen. Wenn daher schon Mozart den Vorwurf hören mußte, er verwechsle das Piedestal mit der Statue, so mußte natürlich dieses einzigartige theatralische Instrumentalwerk, zumal bei einer Originalität wie Beethoven, in welche man sich noch nicht von Jugend auf hineingelebt und hineinstudiert hatte, ein noch weit größeres Befremden erregen.

II

«Fidelio»! Mit welchen Gefühlen der Andacht lauscht ein Freund der Musik der Vorstellung dieser Oper! Und jedesmal von neuem hofft man die alten Eindrücke verstärkt und einige entmutigende Bemerkungen, die man sich selbst kaum zu gestehen wagt, widerlegt zu finden. Dennoch, es läßt sich für denjenigen, der gewohnt ist, aufrichtig gegen sich selbst zu sein, nicht wegklügeln: es herrscht in «Fidelio» ein bemühendes Mißverhältnis zwischen Genieverschwendung vonseiten des Komponisten und Albernheiten vonseiten des Librettisten. Wir hören nicht selten den Gehalt dieses Libretto rühmen. «Fidelio» soll ein Typus der echten deutschen Oper und zugleich ein Symbol deutscher Gefühlsinnigkeit sein. Die Kritik dieser germanischen Spekulation besorgt das Programm: «Nach dem Französischen.» Gewiß ist der Vorgang höchst moralisch und auch rührend; der Text des «Fidelio» eignete sich vortrefflich für ein Mädchenpensionat. Damit ist jedoch noch lange nicht alles getan; es handelt sich vielmehr um die szenische Bearbeitung und um den Wortsinn. Und in dieser Beziehung dürfte kaum jemals einem Komponisten ein schwächeres Machwerk vorgelegen haben. Die Szenen betreffend, so ergeben sich allerdings aus der rührenden Handlung ergreifende Momente; und es lag gar nicht in der Macht des Textdichters, dieselben zu zerstören. Was jedoch in seiner Macht lag, das hat er redlich getan. Wie ist schon die Einleitung und überhaupt das ganze Gefasel zwischen Marzelline und Jaquino unleidlich, zumal in einer ernsten Oper, und in einer Oper, die ein Beethoven komponieren soll! Kennt man im ganzen ungeheuren Bereich der Pfuscherei kindischere Verse als die Verse des Quartetts im ersten Akt? «Mir ist so wunderbar, es sträubt sich mir das Haar, jetzt wird es mir erst klar, warum, warum nicht gar, wahrhaftig, es ist wahr.» Dagegen ist der Text der «Zauberflöte» der reine Shakespeare. Oder das abscheuliche Geldlied des Rocco, das uns in die Atmosphäre einer «Undine» versetzt! Ein Beethoven, der das Lob des Geldes in Musik setzen muß! Den dummen Witz des «Pim-Pim», um das Geldzählen zu versinnbildlichen, diesen Witz, den wir den Abend vorher im «Bettelstudenten» gehört, in der einzigen Oper des größten Komponisten antreffen zu müssen! Nein, der «Fidelio»-Text ist unerträglicher als jeder andere, denn wir sehen hier einen Prometheus in einer Wiege gefesselt. Altmodisch im höchsten Grade und in dieser Beziehung hinter die Mozartschen Opern zurückgreifend ist der steife Szenenbau mit den unvermeidlichen Wiederholungen. Wagner vor! Das prosaische Geschwätz, welches die stürmisch-leidenschaftliche Musik von Zeit zu Zeit plötzlich stillestellt, wie wenn man die Kurbel einer Maschine dreht, sowie die Abwesenheit des vermittelnden Rezitativs, geben endlich den Ausschlag. Aus allen diesen Ursachen ergreift den Hörer ein Gefühl der Befremdung und des Unbehagens, das er sich nicht gerne gesteht und das er, wenn er es sich gesteht, nicht leicht zu erklären vermag. Die Erklärung lautet: wir sehen ein ungeschicktes, kahles Singspiel, kaum gut genug für einen Lortzing oder Flotow, von dem gewaltigsten Titanen der Musik mit der höchsten Anspannung der Willenskraft behandelt.

Es ist nicht unsere Absicht, mit diesen Bemerkungen irgend jemand den «Fidelio» zu verleiden; und indem wir den Ausstellungen am Textbuch nicht das erwartete Gegengewicht durch die Preisung der Musik geben, so tun wir das in der Erwägung, daß die Erkenntnis des Schönen in einer Beethovenschen Musik keiner Worte, daß aber die Aufrichtigkeit gegen sich selbst vor einem Meisterwerke gar sehr der Ermutigung und des Beispiels bedarf.


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