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Sobald die Neujahrsfestlichkeiten verrauscht sind und die Opernsaison zu Ende neigt, besteht das Hauptgeschäft des Petersburgers im Verwünschen des Klimas und in der Auswahl des Sommeraufenthaltsortes. Wer freilich in der Nähe der Hauptstadt (das heißt bis zu zwei Tagereisen Entfernung) eigene Güter liegen hat, der wird sich schwerlich lange besinnen; ist doch das Gutsleben in Rußland selbst unter ungünstigen Voraussetzungen immer eine der beneidenswertesten Erscheinungsformen menschlichen Daseins. Der unbegüterte Reiche hinwiederum trägt sich alljährlich regelmäßig einige Wochen lang mit dem Plan einer ausländischen Reise, den er aber meistens aus diesem oder jenem Grunde schließlich wieder aufgibt, um gleich der großen Masse sich unter den Petersburger Datschen (Mietlandhäusern) umzusehen, unter Naturbedingungen, welche zwischen ‹trostlos›, ‹trostloser› und ‹am trostlosesten› variieren.
Die Familien, welche sich nach freier Bewegung und reinerer Luft sehnen und welchen der Beruf des Oberhauptes auch gestattet, dieser Sehnsucht Folge zu leisten, sind übrigens keineswegs selten. Für ihre Bedürfnisse sind entferntere Kolonien hergerichtet worden. Von jenen entlegenen Datschengruppen sind zwei als die bedeutendsten hervorzuheben: die eine in Finnland, an beiden Ufern des Saima-Kanals verstreut, die andere an der estnischen Küste, in drei besondere Knäuel geballt. Es ist die letztere Gruppe, der wir der Kuriosität halber eine kleine Schilderung gönnen.
Der landschaftliche Charakter der Gegend, in welcher die erwähnten Bäder liegen, ist, selbst mit russischem Maß gemessen, ein verzweifelter; es gehören baltische Nationalaugen dazu, um in Estland etwas Anmutiges zu entdecken. Während Südrußland mit seinen duftigen Steppen, das mittlere Rußland mit seinen prächtigen Kornfeldern, seinen Lerchenscharen, seinen singenden und tanzenden Bauern trotz der unendlichen Flächen eine unvergessliche Poesie ausatmet, während das nordische Finnland wenigstens seine monotone Alternative von Tannenhügeln auf Granitsockeln und von labyrinthischen Seen aufweist, fehlt Estland sowohl die Vegetation und das warme Leben des Südens als auch das Hügelsystem des gegenüberliegenden Nordens. Den Waldsümpfen Nordrußlands freilich ist das wohlkultivierte Estland ohne Frage überlegen.
Solange man unterwegs von Petersburg nach Estland noch in dem farblosen, zu einem Drittel russischen, zum andern finnischen, zum letzten deutschen Ingermanland fährt, vernimmt man von Passagieren wie Schaffnern nur russische Laute, denn in ganz Rußland sucht heutzutage jeder einzelne eine Ehre darin, seine russischen Sprachkenntnisse zur Schau zu tragen; aber allmählich verändert sich die Szene: das feine baltische Deutsch mit seinen trompetenden Akzenten gewinnt immer mehr die Oberhand, und hinter Jamburg und Narwa hört man von Station zu Station das «Guten Morgen, Herr Baron» und «Wie geht es Ihnen, Exzellenz?» Wenige Stationen jenseits Narwa sieht man in der Ferne einige Erdschollen über die Birken hervorragen: es ist das estnische Alpengebirge, ‹Die drei Brüder› genannt. Eine liebenswürdige Baronsfamilie wohnt da oben in einem stattlichen Hause mit hübscher Aussicht, über einem Rosengarten und breiten, wohlgepflegten Saatfeldern, die sich bis gegen das Meer erstrecken. Vorn an der Küste, aber noch in beträchtlicher Entfernung und dem Blick verborgen, liegen die drei Seebäder, und wir sind nun dem Leser behilflich, aus seinem idealen Eisenbahnwagen auszusteigen.
Schon die barbarischen Namen der drei Badeorte erinnern uns daran, daß wir uns im Gebiete der Yksi-kaksi-Sprachen befinden: «Schmetzke», «Mereküll» und «Sillamäggi»; das erste Wort trägt zwar russische Livree, aber die beiden letzten sind so finnisch als möglich.
Schmetzke, unmittelbar bei Hungerburg am Ausfluß der Narowa gelegen, gewährt die bequemste Verbindung mit Petersburg, was für Beamte und Geschäftsleute Bedeutung hat. Die Nähe Narwas wird nicht geschätzt, obschon das verkommene Städtchen mit seinen mittelalterlichen Häusern, seinen kolossalen Bastionen, seinem prächtigen Wasserfall sich gar wohl einige Male ansehen läßt. Dagegen wird der Strand von Schmetzke wegen seiner Schönheit und seines weichen, breiten Sandgürtels nach Gebühr gewürdigt. Eine ausgedehnte Parkanlage überrascht den Besucher, sofern er vergißt, daß im Norden ein niedriger Birken- und Tannenwald beinahe umsonst gekauft wird und daß ein ‹Park› daselbst keine andere Arbeit verlangt als das Bloßlegen der Wege; der nackte Sandboden genügt für Fuhrwerke, und statt eines Trottoirs dient eine Plankenbrücke. Die Datschen von Schmetzke entsprechen dem Muster von Sokoljniki bei Moskau und der ‹Inseln› bei Petersburg. Wer kennte nicht die Häuserchen mit den grünen Dächern, die Gärtchen mit den grünen Zäunchen und vergoldeten Köpfchen! In Nordrußland ist alles grün, mit einziger Ausnahme der Wälder und Wiesen. Schmetzke, als die jüngste Badekolonie, ist nur erst spärlich besucht; es macht einen eigentümlichen Eindruck, eine hübsche Kurkapelle in der einsamen Parkwildnis spielen zu hören, vor einem Publikum, das mitunter aus anderthalb Menschen und sechs Sperlingen zusammengesetzt ist, uneingerechnet einen melancholischen Wolf, der vielleicht hinter einem Wacholderstrauch zuhört.
Im Gegensatz zu Schmetzke ist Mereküll höchst belebt. Hier entwickelt sich das Datschenleben zur schönsten Blüte, und daher fühlt sich der Russe der mittleren Stände daselbst ganz in seinem Element. Diese Menschenklasse verlangt nämlich vor allem eine zahlreiche Nachbarschaft und ein dichtes Zusammenwohnen. Der Tschinownik muß seine Kartenpartie haben, die Tschinownitza muß hinter dem grünen Gartenzaune im Schleppkleid paradieren und mit Sonnenschirm oder ‹Weier› (Fächer) kokettieren können; eine staubige Landstraße mit Equipagen und obligaten Gendarmen erhöht den Naturgenuß. Natürlich darf eine Musikkapelle nicht fehlen, denn ‹viel Menschen und Musik›, das sind die zwei Haupterfordernisse einer echt russischen Sommerstation. Mereküll besitzt neben diesen Bedingungen überdies einen Kursaal mit schmutzigen Kellnern, die man duzen und mit ‹Hundesohn› traktieren darf, was einem Russen das Herz schon bedeutend erleichtert.
Einen durchaus ländlichen Charakter zeigt Sillamäggi; daher wird es auch vornehmlich von der deutschen Gelehrtenwelt aufgesucht. Anstatt eines Städtchens oder Dörfchens bildet ein einziges Herrschaftsgut den Kern der Badegemeinde. Dem Eigentümer dieses Gutes gehört auch der ganze Grund und Boden der Kolonie, so daß derselbe verschiedene Vorrechte in Anspruch zu nehmen sucht, wie unter anderem das Monopol des Milch- und Butterverkaufes. Der glückliche Besitzer ist selbstverständlich ein Baron. Sillamäggi bietet recht beträchtliche Naturannehmlichkeiten (Naturschönheiten können wir es nicht wohl nennen). Die Häuser liegen nämlich samt und sonders in einem duftigen Tannen- und Kiefernwald, so daß die Badegäste eine kombinierte Limonade von Wald- und Meerluft einatmen; und wenn auch der Strand selbst wegen des Steingerölles vielfach unzugänglich bleibt, so gewährt der ‹Glint› eine wohltuende Abendsonnenscheinpromenade. ‹Glint› heißt der Abfall des Landes ins Meer, der sich selbstverständlich bald steiler, bald flacher ausnimmt; wo eine erhöhte Küste durch Einsturz senkrecht eingebrochen erscheint, da dient der Glint als eine natürliche Warte zum Ausblick ins Meer, und diese Stellen sind denn auch mit Recht berühmt. Wenn jedoch die Revalenser ihren Glint ‹Laaksberg› taufen, so scheint uns das die tiefste Erniedrigung, die der Name ‹Berg› jemals erfahren. Alle Achtung vor dem kleinsten Hügel, aber eine Ebene, die sich nach drei Seiten ins Unendliche hinzieht, um mit der vierten ins Meer zu fallen, einen ‹Berg› zu nennen, das will uns doch allzu gewagt vorkommen. Die Bewunderung des Glint gilt in baltischen Landen als charakteristisch für den Estländer, welcher deshalb allerlei Anekdoten über sich hingehen lassen muß. So erzählt die Sage, daß in Dorpat die estnischen Studenten einen neuen Ankömmling aus ihrer Heimat folgendermaßen auf seine Echtheit prüfen: Sie reisen mit ihm an den Glint und stoßen ihm den Kopf gegen die Felsen; zerschellt der Schädel, so war derselbe unecht, bricht der Glint, dann ist der Kandidat ein wahrhaftiger Estländer. Welche psychologische Voraussetzung dieser Erzählung zugrunde liegt, brauche ich nicht zu erklären. Immerhin hat der Glint seine landschaftlichen Vorzüge, worunter ich namentlich die südlichere Flora rechne, welche sich unter seinem Schutze birgt; es zieht sich ein schmaler Streifen Mitteleuropa an seinen Abhängen hin.
Außer dem Glint gibt es da und dort etwa noch eine andere kleine Naturmerkwürdigkeit, nach welcher die Badegäste pilgern, so zum Beispiel die Schlucht von Sillamäggi, unweit der Landstraße gelegen. Diese Schlucht finden wir in der «Geschichte Karls XII.» als ein gewaltiges Naturhindernis mit düsteren Farben geschildert. Wer den harmlosen Graben gesehen hat, ist geneigt zu lachen, wenn er nicht weiß, daß die Artillerie und der Park bei gehörig morastigen Wegen sich nötigenfalls mit der kleinsten Einsenkung begnügen, um stecken zu bleiben. Die Gefährlichkeit oder wenigstens Bedenklichkeit jener Schlucht wird übrigens durch die Volksüberlieferung bestätigt; Karl soll gezwungen gewesen sein, die schwach verteidigte Schlucht zu umgehen und unter der Führung eines estnischen Bauern den Weg über eine versteckte Insel am Meere zu nehmen. Doch beweist ein neulich vom Gemeinderate von Narwa veröffentlichter Bericht über jenen denkwürdigen Feldzug, daß der schwedische König allerdings durch die Schlucht zog und daß der estnische Bauer mithin eine Mythe ist, was den gelehrten Autor nicht hindert, das grausige Konterfei des ominösen Bauern neuerdings abzudrucken.
Zum Zwecke geselliger Unterhaltung ist in Sillamäggi ein alter ‹Krug› eingerichtet worden, der seit seiner Umwandlung offiziell ‹Vauxhall›, konfidentiell ‹Ochsenhalle› genannt wird. Überhaupt üben sich der Witz und die Zunge müßiger Sommerfrischler in den mannigfachsten Wortverdrehungen. So hat man als passendes Seitenstück für Hungerburg das Nachbarstädtchen Jamburg in ‹Jammerburg› umgetauft ein Name, der auf dem unglücklichen Nest sitzen geblieben ist; ähnlich muß sich der Badeort Schmetzke gefallen lassen, ‹Schmutzke› zu heißen. Andererseits haben Naturschwärmerinnen den traurigsten Verliesen die leuchtendsten Titel anzuheften gewußt. Von ‹Schweiz› und ‹Thüringen› wollen wir gar nicht reden; wo fände man diese nicht wieder! Aber in Estland kann man auch einen ‹Paradiesesgarten› und ‹Himmelsgarten› haben.
Womit bringt nun solch eine Badegesellschaft ihre Zeit zu? Mit Nichtstun und Baden, wie überall. Das Baden hat in ganz Rußland eine Eigentümlichkeit, welche dem Bildhauer besser behagen mag als dem Pädagogen; sie besteht in totaler Abwesenheit jedes Badekleides sowohl bei Frauen als bei Männern, sowohl bei hoch als bei niedrig. Wer mit Badehosen eine Badeanstalt besucht, erregt im besten Falle Verwunderung. Immerhin bleibt die Geste der Venus von Medici niemandem verwehrt, und wenn der bärtige russische General mit seinen Kindern dem Wasser entgegenspaziert, stellt er allerdings meistens das lebende Bild eines Pan von Medici dar. Handelte es sich hiebei bloß um die eigentlichen Russen, so würde jedermann sogleich bereit sein, diese Sitte aus slawischer Verdorbenheit zu erklären; aber die gediegenen Balten nebst ihren sittsamen, frommen Frauen machen von diesem Gebrauch keine Ausnahme und beweisen uns damit, daß die größere oder geringere Schamhaftigkeit nicht Sache des Charakters, sondern der Erziehung und Gewohnheit ist. Natürlich baden die verschiedenen Geschlechter zu verschiedenen Zeiten, und in Mereküll, wo die größere Volksmenge strengere Vorschriften erfordert, ist das Promenieren am Strande während der zartern Tageshälfte untersagt. In Sillamäggi sind überdies die Badenden durch eine Umhegung von Birkenzweigen, welche den Dienst der südlichen Feigenblätter versehen, mehr oder weniger gedeckt. Außerhalb der reglementarischen Badestunden ist das Baden Männern und Frauen überall am Strande völlig freigegeben, und die Spaziergänger gehen von dem Grundsatze aus, daß Bauern und Dienstboten geschlechtslos seien.
Andere namhafte Vergnügungen als das Baden lassen sich kaum finden, werden aber auch nicht vermißt. Die Hauptressource des russischen Landlebens, das Reiten, kommt in Estland wegen Mangels an Pferden wenig in Betracht. Eigentümlich ist die naive Lust sämtlicher Nordländer an den primitivsten ‹Gartenspielen›. Wie der finnländische Gutsbesitzer sich nach dem Mittagessen völlig ernsthaft mit seiner Tante oder Großmutter auf die Schaukel setzt, so kann ein Petersburger Gelehrter sich stundenlang damit abmühen, einen Ring nach einem Haken zu werfen, und der estnische Baron sich mit einem ‹Kure› (einem Holzknüppelspiel) vergnügen.
Die Hauptaufgabe jedes nordischen Sommerlebens ist übrigens das Atmen; es gilt, binnen wenigen Wochen dem erschöpften Blute möglichst viel Sauerstoff zuzuführen und einen Vorrat Gesundheit und Kraft auf die Zeit des neunmonatlichen Zimmersitzens anzusammeln. Der Nordländer führt ein Insektenleben, indem er gleich den Mücken und Eidechsen des Sommers munter herumschwärmt, aber des Winters sich in seine Höhle zurückzieht, aus welcher er dann und wann verdrossen hervortaumelt, um am falschen Glanze der Theatersonne wie die Fliege beim Lampenschein auf einen Augenblick zu erwachen und aufzuleben. Es ist ein unschätzbares Glück für den Norden, daß im Hochsommer die Witterung zuverlässig ist und die Nacht ausbleibt. Denn hiedurch werden Sonnenschein, Licht und Lebensluft während einiger Zeit doppelt gewonnen, und wenn die Monate geizen, erweisen sich wenigstens die Tage als gnädig.