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Wenn in Deutschland von dem modernen Drama der Franzosen die Rede ist, so erschallt bekanntlich das Lob im Wettstreit. Da ist eitel Psalter und Gittith. Wem der Inhalt nicht zusagt, der vereinigt sich wenigstens in der Bewunderung der Bühnenfertigkeit mit dem Gegner.
Das sieht in Frankreich anders aus.
Lassen wir vor allem nicht aus den Augen, daß dort selbst für die eifrigsten Anhänger der Bühnentechnik eine obere Grenze der Wertschätzung gezogen ist. Das gesamte moderne Drama wird ja, wie wir gesehen haben, aus dem grand art ausgeschlossen. Demnach hat selbst die größte Bewunderung, die ein Franzose einem Werk der betreffenden Klasse zollt, niemals die Bedeutung, demselben den Wert einer poetischen Schöpfung oder dem Autor den Rang eines dramatischen Dichters beizumessen.
Unterhalb jener obersten Grenze aber liegen mannigfaltige Abstufungen der Urteile bis zur tiefsten Verachtung vor, von welch letzterer wir in Deutschland keine Parallele, ja nicht einmal eine Ahnung haben.
Indem ich hiemit eine Art Sammlung der verschiedenen Urteile zu veranstalten versuche, verhehle ich mir die Schwierigkeit nicht, das Thermometer einer Nation abzulesen und einem Volksgeist die Wurzel auszurechnen. Es geht nie ohne Bruch auf. Immerhin, glaube ich, wird eine prüfende Beobachtung der Wahrheit näher kommen als jene entfernten Vermutungen aus Berlin W, mit welchen wir uns gewöhnlich zufriedenstellen. Bei dieser Musterung nun will ich mit den eifrigen Anhängern des modernen Dramas beginnen, um mit den systematischen Gegnern zu schließen.
Es gibt in Frankreich eine kleine Gemeinde, welche die Lehren des Bühnenhandwerks mit ähnlichem dogmatischem Eifer verkündet wie die gesamte deutsche Kritik und Dramaturgie, obschon im einzelnen manche Verschiedenheiten obwalten, und zwar, wohlbemerkt, immer in der Weise, daß die französischen Bewunderer weniger einseitig auftreten als die deutschen. Die bekehrten Länder gebärden sich eben immer katholischer als Rom. Um ein Beispiel zu geben, so finden wir nirgends in Frankreich den Schauspieler und den Regisseur als gesetzgebende Behörde für das Drama und als Richter der dramatischen Poesie aufgestellt. Der Autor, den man im deutschen Theater empfängt wie einen Hund im Kegelspiel, ist auf dem französischen Theater (auch dem bühnentechnischen) der Herr und Gebieter, wie sichs gehört.
Wer sind übrigens die gläubigen Anhänger? Schwerlich zählen die namhaften Dramatiker selbst dazu. Ich werde weiter unten den Ausspruch eines der berühmtesten Bühnenautoren gegen die Bühnentechnik mitteilen, wie ihn vernichtender ein geschworener Feind des Handwerks nicht hätte ersinnen können. Ähnliches beobachten wir ja auch in Deutschland. Unsere geschickten Bühnenautoren selber gebärden sich durchaus nicht engherzig, obschon vielleicht einseitig. Ein Lindau läßt mit sich reden, und sogar sehr angenehm mit sich reden; ein Blumenthal hat mutige Worte einerseits gegen die Überschätzung der Bühnentechnik, anderseits zugunsten der Römerdramen gefunden. Die Tyrannis der bühnentechnischen Schlagwörter stammt vielmehr von den vielen Leuten, welche keinen Namen, aber Titel, keine Autorität, aber Einfluß, keine Gedanken, aber Federn und Zungen haben. Und das stimmt denn zu den Erfahrungen aller Zeiten. Überall und immer treffen wir ja die Fanatiker nicht unter den Moses und Aaron, sondern unter den Leviten und Tempeldienern. Aber sogar unter den Buchschriftstellern von Ruf finden sich in Frankreich, im Gegensatz zu Deutschland, keine unbedingten Anhänger. Die Eiferer bleiben dort gänzlich unter der Anonymität versteckt. Parodi, der die Pariser Theaterverhältnisse zu beurteilen befähigt ist, verrät uns, wer sie sind: Stammgäste des Theaters, Kulissenbesucher, Schauspieler, Journalisten «und ähnliche Menschenklassen, die nichts vom Drama verstehen, aber sich für Spezialkenner halten». Schriebe Parodi deutsch, er hätte vielleicht noch andere ‹Menschenklassen› mit Namen hinzugefügt.
Hinter dieser überzeugten Gemeinde dehnt sich dann als nachlässiger Anhang das Theaterpublikum, mit andern Worten das halbe Paris und Frankreich aus, all die schönen Frauen und korrekten Herren, die keinen Grund finden, etwas zu tadeln, was ihnen Vergnügen gewährt. Und wie sollte es ihnen nicht Vergnügen gewähren, da doch der Autor ihr Vergnügen als oberstes Ziel betrachtet, beachtet und erstrebt? Bei diesem weiten Anhang ist von einer prinzipiellen Vorliebe für den Parteistandpunkt des modernen Dramas nicht die Rede. Schlagwörter haben in Frankreich nicht die Tragweite und die Kraft wie in Deutschland. Man genießt dort das Theater ästhetisch unbefangen, das heißt, man setzt sich in die Loge, weil man sich von der Aufführung ein köstliches Vergnügen verspricht. Endlich darf nicht vergessen werden, daß selbst die formalen Meisterwerke nicht wie bei uns dramaturgisch, durch Nachrechnen der Komposition, sondern durch ihr stoffliches Interesse und durch szenische Einzelheiten auf den Zuschauer wirken. Warum die Bühnentechniker trotz dem Protest der literarischen Kritik von dem Pariser Publikum hochgeschätzt werden, das hat der natürlichen, teils eitlen, teils vernünftigen Ursachen genug: die Verwandtschaft der Sinnesart und das Entgegenkommen der Autoren, ihr Talent, ihr Geist, ihr Geschick, ihre Fruchtbarkeit und nicht zum wenigsten ihre Berühmtheit. Denn dem Sieger strömt das Volk zu, und dem Erfolg huldigt die Welt, zumal die weibliche. Doch ist auf diesen großen glänzenden Kreis kein Verlaß; er ist ein Wendekreis. Der Liebling des Gestern wird heute ohne Gruß verabschiedet, und über die jeweiligen Scribe der Väter lächeln mitleidig die Söhne.
Für das moderne Drama treten aber auch die meisten Theoretiker der dramatischen Kunst ein, die Kritiker und Zeitungsberichterstatter höherer Ordnung, welche das Einzelne ins Prinzipielle erheben. Wir würden sie Dramaturgen heißen; weil aber der Franzose unter dem Wort dramaturge den dramatischen Autor versteht, benennt er sie nach dem Datum ihrer Feuilletons: lundistes (oder auch mardistes und so weiter). Die lundistes zeigen sich, obschon sie keineswegs zu den gläubigen Parteigängern des modernen Dramas gezählt werden dürfen, demselben huldvoll gesinnt und reden demselben gnädig das Wort im Stil von Schutzpatronen. Sie tun dies nach dem psychologischen Gesetz, daß man liebgewinnt, was man studiert, und nach der Erfahrung, daß scharfe Denker die Unterschiede begünstigen. Nun bildet ja die Behauptung eines radikalen Unterschiedes zwischen Buch- und zwischen Theaterschriftstellerei den Hauptsatz der bühnentechnischen Lehre. Indem also die lundistes immer von neuem die Bühnenwirkungen mit den Buchwirkungen prüfend und sondernd vergleichen, werden sie von selbst zu der Verteidigung der Technik getrieben. Jeder berufs- oder gewohnheitsmäßige Theaterkorrespondent wird ein Verteidiger der szenischen Kunstfertigkeit werden. Das Geschäft bringt es mit sich.
Es sind gewissenhafte, achtbare und gewinnende Herren, an ihrer Spitze der hochgerühmte Montagskritiker des «Temps», Francisque Sarcey, welcher Geist und Anmut des Stils mit Hingebung an den Gegenstand und, wie seine Gegner behaupten, mit etwas philisterhafter Geschmacklosigkeit verbindet. In den Kreisen der Pariser Berufswitzler gilt es für unerläßlich, über Sarcey zu spötteln. Diese Leute empfinden es als Pedanterei, etwas anderes als Hunde, Pferde, Priester und Kokotten ernsthaft zu nehmen.
Es kann schwerlich überflüssig erscheinen, wenn ich die Stellungnahme des ersten französischen Dramaturgen zum Drama in wenigen Sätzen skizziere.
Sarcey betrachtet die Werke der Augier, Dumas und Sardou und mit ihnen jedes formal gut gearbeitete Stück als einen Schatz der französischen Bühne. Er hebt allerorten den Gegensatz des Theaters zum Buch hervor und nennt die Lektüre eines Dramas ungenügend. Der Regisseur ist ihm «die Seele des Theaters» (das bedeutet nach französischem Sprachgebrauch zugleich die Seele des Dramas). Andererseits ist Sarcey der erklärte Feind der Dekoration und der Diva, also der Schauspieleranmaßungen. Trotz seiner Bewunderung für geschickte formale Arbeit bleibt jedoch Sarcey Franzose genug, um die gehobene Literatursprache mit Vers und Reim als außerordentlich bühnengerecht zu preisen. Wir haben früher gesehen, daß er dem Vers eine «szenische Zauberkraft» beimißt. Vor einer tragédie wie vor jedem andern guten Buchdrama zieht er tief den Hut ab, und der höhern dramatischen Kunst die Gesetze der modernen Bühnentechnik vorschreiben zu wollen, wie die deutschen Dramaturgen tun, fällt ihm nicht ein, wie überhaupt keinem Franzosen. An Sarcey und seinen Kollegen können wir lernen, was französisch ist. Französisch heißt: das moderne Drama anerkennend genießen, weil dasselbe echt theatralisch, und das literarische Drama bewundernd genießen, weil dasselbe echt poetisch ist.
Nichts kann belehrender für die niedrige Schätzung des modernen Dramas mit seiner Bühnentechnik sein als der Umstand, daß man nicht selten bei einem Schriftsteller, der als Anhänger desselben gilt, der vernichtendsten Kritik begegnet. Bei uns ist das gerade umgekehrt. Unsere gelehrten Shakespearologen und Goethekenner sprechen sich mitunter über die Bühnentechnik der Franzosen aus, als wollten sie miteinander ein Kokottenlustspiel schreiben. Daß vollends jeder Theaterintend- und -dilett-ant die französische Mache in den obersten Bühnenhimmel erhebe, das gilt für eine selbstverständliche Voraussetzung. Hören wir dagegen einen französischen Kulissenverehrer, noch dazu einen solchen, der von Sarcey, dem Schutzpatron der Bühnentechnik, öffentlich empfohlen wird, Becq de Fouquières. Ich habe mir sein Buch «L'art de la mise en scène» aus dem besondern und einzigen Grunde verschrieben, weil ich hoffen durfte, hier, im Gebiet der Regie und in einer theatralischen Handwerksschrift, endlich einmal einem unbedingten, rückhaltlosen Lobpreiser der Technik zu begegnen. Und was habe ich gefunden? Erstens einen wunderlichen Heiligen, welcher die Bühnenwissenschaft in dem abstrakten Stil eines philosophierenden Chemikers behandelt, zweitens Aussprüche wie die folgenden: Ein theatralischer Erfolg besagt nicht das mindeste über den Wert eines Theaterstücks. Die meisten berühmten Zugstücke verfallen der Verachtung der spätern Geschlechter; denn das Theaterpublikum beklatscht jeweilen nur dasjenige, was seinen niedrigen Neigungen schmeichelt. Nicht nur die tatsächliche Bühnenwirkung auf einen gegebenen Zuschauerkreis, sondern selbst die immanente Bühnenkraft eines Dramas kommt für seinen Wert nicht in Betracht, schon darum, weil für die Nachwelt diese Kraft nicht mehr ausnützbar bleibt. Die Aufführung ergibt gegenüber der Lektüre durch einen urteilsfähigen Leser einen Verlust, denn jede Aufführung ist nicht bloß unvollkommen, sondern gewalttätig (violent) und roh (brutal). Rechnet man die Summe der unnötigen, aber in Wirklichkeit immer vorhandenen Übelstände hinzu, so muß die Aufführung eines wertvollen Dramas geradezu eine Beleidigung (outrage) desselben heißen. Das Dasein eines Theaters rechtfertigt sich bloß durch das Vorhandensein einer Menge unpoetischer Menschen, denen auf andere Weise ein Drama nicht beizukommen vermag; diesen erweist das Theater einen Dienst. Dem Drama selbst gegenüber bringt eine Aufführung nur fehlerhaften, innerlich schwachen und schadhaften Werken einen Nutzen, indem sie möglicherweise dem Publikum den Unwert des Stückes verdecken kann. Die Lektüre ist nicht allein vorwiegend, sondern einzig maßgebend für den Wert eines dramatischen Werkes.
Nun will ich Becq de Fouquières, obgleich von dem ersten Dramaturgen Frankreichs empfohlen, nicht für eine Autorität ausgeben. Allein unsere deutschen Kulissenkenner und Bewunderer der französischen Theatertechnik sind meines Wissens auch keine Autoritäten. Sie dürfen vielleicht kaum Denker heißen, eine Eigenschaft, die niemand Becq de Fouquières abstreiten kann. Den Leser aber möchte ich auf die Rückschlüsse für die Anschauungen eines französischen Publikums aufmerksam machen, welche sich aus der bloßen Tatsache ergeben, daß ein französischer Autor, und noch dazu ein von Sarcey empfohlener Spezialkenner der Regie, dergleichen Sprüche so harmlos in die Welt hinauszusenden wagt. Würden solche Ansichten in Deutschland einen Verleger, einen Käufer, einen Fürsprecher, geschweige denn einen Nachhall finden? Ich glaube, die Setzer würden sich weigern, solche haarsträubende Ketzereien in Arbeit zu nehmen.
Haben wir bei dem großen Pariser Publikum eine naive, natürliche und erklärliche Vorliebe für dasjenige Drama angetroffen, das seine Liebhabereien und sein Unterhaltungsbedürfnis mit Geist und Geschick befriedigt, eine Vorliebe, welche darum nicht die Verehrung des literarischen Dramas ausschließt, haben wir ferner bei der Mehrzahl der französischen Dramaturgen eine gewisse, obschon keineswegs unbeschränkte, noch weniger einseitige Bevorzugung der bühnentechnischen Arbeit bemerkt, so neigt die Elite der französischen Nation in allen Ständen und so auch in dem vom Theater unabhängigen Schriftstellerstand entschieden auf die entgegengesetzte Seite.
Nach unsern Ausführungen über das literarische Drama und seine Aufnahme in Frankreich bedarf das keines Beweises und keiner besondern Erörterung. Soll ich wiederholen, wie sich vornehme Geister der jüngsten Vergangenheit, wie sich ein Musset und Sainte-Beuve zum Theater, und speziell zum modernen Theater verhielten? Soll ich an den Jubel erinnern, mit welchem ‹bühnenwidrige›, rein literarische und lyrische Novitäten gleich einer Erlösung von der Kritik und einem auserlesenen Publikum begrüßt werden? Soll ich nochmals von der andächtigen Aufnahme sprechen, welche den Antipoden der modernen Bühnentechnik, der tragédie und der comédie zuteil wird? Wenn sich der Leser entschließt, ohne Vorurteil das nächste beste Dokument der höhern französischen Bildung, also eine Revue oder eine Literaturgeschichte oder ein belletristisches Buch in die Hand zu nehmen, dann wird er auf Schritt und Tritt erfahren, daß die ästhetischen Überzeugungen des Autors den Grundsätzen der modernen Bühnentechnik zuwiderlaufen (ich erinnere nur an den Satz: «Alles, was schön ist, wirkt gleichmäßig auf der Bühne wie im Buch») und daß ferner an einzelnen verächtlichen Bemerkungen über das moderne Drama wahrlich kein Mangel herrscht. Des Spottens über diejenige Eigenschaft desselben, welche wir in Deutschland als seine höchste Tugend preisen, also über die ‹meisterhafte Schürzung des Knotens›, ist in Frankreich kein Ende. Es regnet ordentlich von verächtlichen Bemerkungen über den unvermeidlichen, leidigen cache-cache, zigzag, passe-passe und méandre der Handlung, wo ‹die Szenen atemlos hintereinander dreinrennen›. Der Leser mache den Versuch, und ich glaube, er wird mit mir zu dem Schluß gelangen, daß sich eine Reaktion vorbereitet, daß Frankreich sich sehnsüchtig nach einem höhern, weniger bühnengerechten, aber dafür gehaltvolleren Drama umsieht. Letzteres fehlt ja allerdings daneben nicht, allein man empfindet es schon als eine Last, daß das niedrigere Drama sich an seiner Seite so laut und so zuversichtlich vordrängt.
Doch müssen zwei Dinge auseinandergehalten werden. Dem innern Unbehagen entspricht nicht eine äußere Feindseligkeit. Man begnügt sich, dem Überdruß in Stoßseufzern Luft zu machen, ohne darum zum Angriff zu schreiten. Und diese Resignation möchte ungefähr folgende Ursachen haben: Die Meister der modernen Technik zählen ja zu den geistreichsten Schriftstellern des Tages. Sie genießen die Autorität des Talentes, des Erfolges und der offiziellen Würde. Gehören sie doch fast alle zur «Académie», unter ihnen sogar der Verfasser des Textbuches zur «Schönen Helena». Akademiker aber stehen in Frankreich zwar nicht über dem Spott, wohl aber über der Kritik. Endlich tragen die gegenwärtigen Bühnenautoren den Ruhm des französischen Dramas ins Ausland. Und das dürfte wohl die Hauptsache sein, wie sich aus folgendem Beispiel ergibt: wir werden sogleich in Parodi einen heftigen Feind der modernen Bühnentechnik kennen lernen. Nun, derselbe Parodi gerät außer sich vor Jubel über die europäischen Siegeszüge der Dumas und Augier. Er tut sogar noch ein übriges, indem er diejenigen Nationen, die sich unterfangen sollten, der Herrschaft des Pariser Modestücks zu widerstreben, zum voraus verunglimpft. Trotz ihrer Nichtswürdigkeit, so meint Parodi, bleibt dieses Repertoire doch noch immer allem überlegen, was andere Nationen hervorbringen könnten. Unverblümter kann man uns kaum zu verstehen geben, daß die schlechteste Pariser Ware noch zu gut für uns sei. Leider muß man gestehen, daß die Gier, mit welcher wir selbst das niedrigste Machwerk der modernen Pariser Autoren auf die Bühne stellen, diese Anschauung, wenn nicht rechtfertigt, doch entschuldigt.
Wenn mithin die literarisch gebildete Welt Frankreichs im ganzen eine achtungsvolle Zurückhaltung in der Abschätzung des modernen Dramas beobachtet, so fehlt es darum nicht an souveränen Verdammungsurteilen einzelner Männer, deren poetisches Gewissen und deren literarische Überzeugung empfindlicher reagiert, weil die Betreffenden zur dramatischen Kunst ein innigeres Seelenverhältnis haben. Wir wollen nicht die Gelehrtenarbeit unternehmen, ein Verzeichnis solcher Stimmen zu sammeln, sondern uns sogleich nach den entscheidendsten derselben umsehen. Und da kommt denn in erster Linie Parodi, der Kandidat auf die dramatische Reformatorenstelle, in Betracht. Wir lernten in Parodi denjenigen Dramatiker kennen, dessen Kunstziel mit dem Kunstziel der deutschen Klassiker übereinstimmt. Nun kann ich mir nichts Interessanteres und Belehrenderes denken als die Vergleichung des von Schiller und Shakespeare begeisterten Franzosen mit den französierenden Deutschen. Wie sind da die Rollen vertauscht! Selbst der ernsteste deutsche Dramatiker der Gegenwart macht der Bühnentechnik die weitgehendsten Zugeständnisse in seiner Arbeit; wer in Deutschland den reinsten Germanismus auf stofflichem und idealem Gebiet anstrebt, schafft der Form nach französisch, wohlverstanden: handwerksfranzösisch. Und wie der deutsche Dichter, so der deutsche Dramaturg. Freytag, dem es wahrlich an ernstem Eifer für unser deutsches Drama nicht gebricht, fordert doch von dem Dichter unbedingten Gehorsam gegen den ‹modernen Bühnenbrauch›, wie er das nennt, also gegen die neufranzösische Bühnentechnik, um der Sache den Namen zu geben.
Hören wir dagegen den Franzosen, den Zögling Schillers, und vergessen wir dabei nicht, daß Parodi ein mit Erfolg gekrönter Theaterdichter ist.
Etwas spezifisch Theatralisches gibt Parodi gar nicht zu. Von einer Schönheit, die bloß im Buche, nicht aber zugleich auf der Bühne wirke, will er nichts wissen. Denen, die da behaupten, ein Drama komme einzig als Theaterstück in Betracht, wirft er den Satz entgegen: «Ein Drama, welches die Probe der Lektüre nicht besteht, gehört nicht zur Literatur (das will nach französischem Sprachgebrauch sagen: ist gänzlich wertlos), und wäre es selbst ein Wunderwerk von kunstgerechter Mache (agencement scénique)». Überhaupt bezeugt Parodi dem theatralischen Handwerk die größte Verachtung. Dasselbe erscheint ihm lediglich als ein Dienstbureau für die niedrigen Instinkte der Menge. Ihm steht fest, und er spricht dies klar und bestimmt aus, daß zwischen einem edlen historischen Trauerspiel und der modernen Bühnentechnik kein Vertrag möglich sei, daß dieselben sich vielmehr bis aufs Messer bekriegen müßten. Er geht sogar so weit, einem künftigen dramatischen Genie zu prophezeien, daß es von allen Theatern werde ausgeschlossen werden. Wahrlich, wir sind hier weit von den Urteilen Deutschlands über Theaterstück und Buchdrama und über ‹die Franzosen› entfernt!
Das Urteil Parodis erscheint durch die Bedeutung und die Stellung des Autors als das denkbar merkwürdigste und schlagendste. Dennoch können wir Stimmen finden, welche das modern-französische Handwerksdrama noch vernichtender treffen, weil sie aus dem eigenen Munde der berühmtesten Handwerksdramatiker kommen.
Ich bitte den Leser, den folgenden Satz scharf und genau, Glied für Glied zu durchdenken:
«Woher stammt uns Theaterschriftstellern der unglückliche Zwang zu fieberhaft beschleunigter Handlung, zu brutalem Drängen nach dem Schluß, so daß von einem Drama nichts mehr übrig bleibt als ein Geripp, dem zuliebe wir das Wesen opfern müssen, das heißt das Fleisch, das Blut und das Leben, mit andern Worten die Ausführung der Gedanken, der Gefühle und der Charaktere?»
Dieser Satz enthält Wort für Wort eine Verdammung des modernen französischen Dramas mit seiner Bühnentechnik. Der ihn aber ausspricht, ist nicht etwa ein deutscher Jambendramatiker, nicht ein unglückseliger Schöpfer eines «Konradin»oder «Nero», sondern Er selbst: Sardou.
Indem der zitierte Satz die Form einer Frage hat, gibt Sardou vielleicht auch die Antwort dazu? Er gibt sie, und die Antwort lautet noch vernichtender, denn sie gesellt zur Strafe den Schimpf. Wer die Antwort nicht zufällig schon kennt, wird sie nimmermehr erraten. Woher rührt nach Sardou jener ‹unglückselige Zwang›? Von den Verdauungsstörungen der Pariser, denen das Blut zu Kopf steigt, weil sie nach hastig verschlungenem Mittagessen ins Theater eilen. Und damit wir bei diesen Worten ja nicht etwa an einen flüchtigen absichtlich übertreibenden Ausdruck des Ärgers (une boutade) denken sollen, springen Sarcey und Dumas herbei, um den Satz zu bestätigen. Nach dem Geständnis der beiden berühmtesten Bühnenschriftsteller und des anerkanntesten Dramaturgen Frankreichs stammt mithin die Bühnentechnik aus dem Magen. Und die gepriesene Stenologie, ‹der prickelnde, schnell dahingleitende, echt dramatische Dialog› beruht auf Stenopepsie. Und der ‹dramatische Geschwindschritt› und das ‹Vollblut› des ‹geborenen Dramatikers› und der ‹fieberhafte Pulsschlag der Handlung› und der ganze apoplektische Habitus des modernen Dramas erklärt sich als Verdauungsfieber. Eine saubere Bühnentechnik!
«Unsere Bühne ist eine andere geworden als die Bühne Schillers», lehrt Freytag. Das läßt sich allerdings annehmen. Denn es hält schwer, zu glauben, daß der Mageninhalt eines löblichen Publikums für den Bau des «Wallenstein»maßgebend gewesen sei.
Zu dem Protest der gebildeten Klassen, zu dem verächtlichen Verdammungsspruch einzelner hervorragender Geister gesellt sich dann noch die erbitterte Feindschaft einer starken literarischen Partei, der Partei des Realismus. Welche Macht der Realismus, und speziell der französische Realismus, in dem modernen Europa und in geringerm Grade selbst in Frankreich bedeutet, ist bekannt. Prallte diese Macht auch bisher an dem Theater ab, so kann es ihr doch früher oder später einmal gelingen, die Bühne zu erobern; dann aber ist es mit dem Handwerksdrama und der Bühnentechnik endgültig vorbei. Ganz ohne Einfluß auf das Theater sind übrigens die realistischen oder ‹naturalistischen› Lehren über das Drama schon jetzt nicht geblieben. Ich schreibe zum Beispiel das merkliche Überhandnehmen der dialogisierten Romane hauptsächlich realistischen Vorbildern und Einwirkungen zu. Um nun die Stellung des Realismus zum modernen Drama kurz und einfach zu charakterisieren, können wir sie mit der Stellung des Hundes zur Katze vergleichen. Ein grimmiger Haß nämlich beseelt den Realismus gegen alles, was nach Bühnentechnik aussieht. Übrigens verlangen Gerechtigkeit und Wahrheit, anzuerkennen, daß in diesem Streit der Realismus um ein reineres Gut mit edlern Waffen kämpft, nämlich um die Überzeugung mit Gründen; während der Gegner auf seine Triumphburg flüchtet und, sitzend im Neste des Lorbeers, statt aller Widerlegung mit den gewonnenen Goldstücken klimpert.
Der offenen Kriegserklärung gingen Zänkereien voraus. Längst waren die Dioskuren des Realismus, die literarischen Zwillingsbrüder Goncourt, mit dem Theater zerfallen. Das darf uns nicht wundern, denn sie hatten keine Ursache, mit dem Theater zufrieden zu sein, noch das Theater mit ihnen. Einerseits nämlich waren die beiden Herren im Theater ausgezischt worden; anderseits kultivierten sie die mathematische Spezialität, der gesamten dramatischen und theatralischen Kunst Europas den baldigen Tod vorzurechnen. Dieser Kalender aber steht bei den Bühnenbehörden nicht in Gunst. Es ist hier nicht der Ort, die Geschichte jenes Streites, der übrigens von Seite des französischen Theaters zu seiner Ehre sei es gesagt ritterlich und großmütig geführt wurde, zu erzählen. Um es kurz mitzuteilen: der Zank endete in Frieden und Versöhnung.
Dagegen hat nachher bekanntlich kein geringerer als Zola der Bühnentechnik in aller Form den Krieg erklärt, und zwar den Vernichtungskrieg. Und man muß ihm den Ruhm lassen, daß er den Feldzug meisterhaft führt, mit zerschmetternder Wucht, zugleich jedoch mit einer ernsten Sachlichkeit, welche jedem, der die betreffenden Schriften liest, Achtung abnötigt. Wer die geistige Bedeutung Zolas ermessen will, der lese seine ästhetischen Arbeiten. Es ist nicht ratsam, sich durch den Widerwillen gegen seine Romane oder seinen Namen davon abhalten zu lassen. Wir schätzen die Fabeln La Fontaines trotz seinen leichtsinnigen «Erzählungen». Lessing nahm keinen Anstand, die ästhetischen Lehren desselben Diderot zu studieren und zu preisen, der wohl noch bedenklichere Dinge geschrieben hat als Zola. Gegen Überlegenheit hilft nun einmal kein Sträuben; jedes Widerstreben und Zögern bedeutet nur Zeit- und Ideenverlust. Was wir nicht tun, werden unsere Söhne und Enkel nachholen müssen. In der Tat dürfte seit Lessing zwar manches im einzelnen Zutreffenderes, aber kaum etwas allgemein Einschneidenderes über das Drama geschrieben worden sein, als was die Sammlung «Das realistische Drama»( «Le naturalisme au théâtre») vorbringt. Zumal dem deutschen Leser bieten die Auseinandersetzungen Zolas eine fortlaufende Quelle der Belehrung durch Vergleichung und Anregung. Niemand besser als Zola vermag ihn, trotz dem Parteistandpunkt des Verfassers, über das Wesen des Handwerksdramas sowie über den unversöhnlichen Gegensatz zu unterrichten, in welchem dasselbe nicht allein zur französischen, sondern auch zur deutschen Klassik tritt.
Obschon nämlich Zola zu Schlüssen gelangt, die wir ablehnen müssen, steht er doch wie Parodi auf unserm Grund und Boden. Er kämpft auf der Seite der Lessing, Diderot und Shakespeare.
Wie Lessing für die Natürlichkeit gegenüber den pedantischen drei Einheiten, so streitet Zola für die Natürlichkeit gegenüber der Handwerksschablone. Und es hält schwer, sich der Überzeugung zu erwehren, daß Lessing die moderne Bühnentechnik unbedingt würde verworfen haben. Das leuchtet, abgesehen von einzelnen Aussprüchen, wie zum Beispiel seiner Warnung vor gehäufter Handlung, aus folgender Gleichung mit Wahrscheinlichkeit hervor. In der Vergangenheit: auf der einen Seite Lessing mit Shakespeare und Diderot, auf der andern die steife tragédie und das Handwerkstheater des Goldoni, gegen welchen Diderot eine tiefe Abneigung hegte. In der Gegenwart: auf der einen Seite Zola für Lessing, Shakespeare und Diderot, auf der andern der alte Gegner Lessings, die tragédie, und der verjüngte Gegner Diderots, das bühnentechnische Drama.
Wie interessant jedoch die grundlegenden Erörterungen Zolas immer sein mögen, der Hauptwert seiner Aufsätze liegt in der Polemik. Dort tritt häufig ein schlimmer Fehler des kreuzprosaischen Mannes zutage, der griesgrämige Pedantismus; hier überwältigt er die Kritik des Lesers bald durch den Sarkasmus, mit welchem er seine Gegner zermalmt, bald durch einfache Größe. Wie er mit unerbittlichem Fleiß die kleinlichen Handwerkskniffe bloßlegt und Stück um Stück den prahlerischen Zunfthochmut auf seine Eitelkeit zurückführt, um schließlich mit einer höflichen Verbeugung seinen verehrten Kollegen das Zeugnis zu überreichen, daß sie die erbärmlichsten Schriftsteller und die gewissenlosesten Künstler seien, das sollte jeder selbst lesen. Denn unabhängig von der Zustimmung oder Ablehnung bleibt die Lektüre durch den Wert der Gedanken, durch die Kraft des Stils und nicht am wenigsten durch den Mut des Autors genußreich. Schon allein um dieses moralischen Mutes willen, mit welchem Zola seine Überzeugung aller Welt ins Gesicht schleudert und in die gefährlichsten Wespennester, vor welchen andere verbindlich lächelnd vorüberschleichen, mit dem Licht gelassen hineinzündet, muß er ein bedeutender Mensch heißen.
Über das betreffende Buch eingehender Bericht zu erstatten wäre eine ebenso leichte als angenehme Aufgabe. Doch glaube ich, mir diese Erholung versagen zu müssen, da ich die Überzeugung hege, daß jedermann, der sich um ästhetische Fragen kümmert, die persönliche Bekanntschaft mit dem «Naturalisme au théâtre» schließen sollte. Doch will ich immerhin einige Sätze als Probe der grimmigen Verachtung und der beispiellosen Kühnheit, mit welcher sich Zola gegen das moderne Drama ausläßt, mitteilen.
Wie wir gesehen, ist das Publikum (le spectateur lui-même) der Leitstern des modernen Dramas. Über das Publikum und seinen Wert als Kompaß für den dramatischen Autor urteilt Zola folgendermaßen:
«Die Theorie von der Souveränität des Publikums ist eine der lächerlichsten (des plus bouffonnes), die ich kenne. Sie führt unmittelbar zur Vernichtung jeder Originalität und jedes großen Talentes. Wer hat nicht schon die Tatsache beobachtet, daß in einem Theater ein albernes Couplet selbst das gebildetste Publikum hinreißt? Jeder einzelne findet dasselbe abscheulich. Sobald sie sich aber im Theater versammelt wissen, freuen sie sich über die Albernheit und beklatschen sie. Es kommt mitunter vor, daß ein Zuschauer, für sich allein betrachtet, ein vernünftiger Mensch ist. Aber sämtliche Zuschauer zusammengenommen sind eine Viehherde, welche nötig hat, von einem Genie mit der Peitsche regiert zu werden. Etwas Unliterarischeres (das will sagen: Urteilunfähigeres) als eine versammelte Menschenmenge gibt es nicht. Das muß man vor allem als obersten Grundsatz feststellen. Es wäre interessant, eine Liste der schiefen Urteile des europäischen Theaterpublikums zu machen, in der Weise, daß man auf die eine Seite alle die Meisterwerke schriebe, die es elendiglich ausgepfiffen, und auf die andere Seite all den Blödsinn, den es in den Himmel erhoben. Diese Liste würde höchst charakteristisch für das Publikum ausfallen. Sie würde zeigen, daß dasselbe jedesmal, wenn ein origineller Dramatiker auftrat, sich kalt oder feindselig gegen ihn verhielt mit sehr wenigen Ausnahmen.
Wenn wirklich das Grundgesetz des Dramas darin bestände, es dem Publikum recht zu machen, dann müßte der Dramatiker ohne Umschweife sentimentale Albernheiten, erkünstelte Rührung, Modetorheiten und Gemeinplätze liefern. Und dabei behaupte ich, daß er an keiner noch so tiefen Stufe die unterste Grenze erreichen würde, das Publikum würde ihm immer und immer wieder zurufen: ‹Noch tiefer herunter!› Hätte er schon das Theater zur Meßbude erniedrigt, das Publikum würde verlangen, daß er es noch gründlicher in den Schmutz zerre, bis alles miteinander im Schmutz versinkt und ertrinkt.»
Und an einer andern Stelle:
«Wenn das Publikum ein Theaterstück über die Maßen beklatscht, so kann man sicher sein, daß dasselbe nichts taugt.»
«Die einzige ‹Souveränität› des Publikums besteht darin, ein Drama für schlecht zu erklären, welches die Nachwelt als gut erkennen wird.»
Man kann Zola nicht vorwerfen, daß er dem Publikum schmeichle.
Den Unterschied zwischen bühnentechnischer und literarischer Dramatik führt er auf folgende Gleichung zurück:
«Es gibt zweierlei Arten von Dramatikern: die einen sind allein auf den Erfolg bedacht und erreichen ihn, indem sie den Zeitgenossen schmeicheln; die andern denken an die Zukunft und schauen hoch über das gegenwärtige Geschlecht in die Ferne.»
Von einer Bühnentechnik will er natürlich gar nichts wissen, aber auch nicht das mindeste. Die Grundgesetze der Bühne sind so einfach und selbstverständlich wie rechts und links:
«Die Bühne verlangt nichts weiteres, als daß die Personen auftreten, sprechen (ein Deutscher würde gesagt haben: handeln) und wieder gehen. Mehr nicht. Alles übrige ist dem Belieben des Autors anheimgestellt.»
Auftreten, sprechen, abtreten was sagen Sie zu dieser französischen Mache? Mit diesen drei Regeln des modernen Aristoteles ließe sich auskommen.
Das sind so einige wenige Beispiele. Hinsichtlich der Lektüre des «Naturalisme au théâtre» muß ich nochmals besonders darauf aufmerksam machen, was ich in der Einleitung allgemein angedeutet, nämlich daß die technischen Ausdrücke der dramaturgischen Sprache durch ihre scheinbare Selbstverständlichkeit leicht zu Mißverständnissen führen. Der etymologische Sinn deckt sich selten mit dem konventionellen, es ist vielmehr eine Ausnahme, wenn ein griechischer Ausdruck im französischen Text dasselbe sagen will, was wir damit begreifen. Der beiderseitige Sprachgebrauch hat in dieser Beziehung Begriffs Verschiebungen vorgenommen, die eine ebenso allgemeine Ungleichheit zur Folge haben wie die Verschiebung der beiden Hälften eines zusammengeklebten Bildes. Nicht eines paßt mehr genau auf das andere. Der scharfe Wortsinn muß jedesmal durch Brüche auf dem Weg der Subtraktion und Division ausgerechnet werden. Da nun eine solche spitzfindige Begriffsmathematik nicht jedermanns Sache oder jedermanns Lust sein dürfte, überdies auch nicht in der Absicht des Buches liegt, so halte ich eine Übersetzung für wünschbar.
Als Ergänzung des genannten Werkes kann Zolas «Nos auteurs dramatiques» dienen. Doch hat diese Sammlung bei weitem nicht die prinzipielle Wichtigkeit der ersteren.
Vergleichen wir nun die Stellungnahme der Franzosen zu ihrem modernen Drama mit der unsrigen, so spricht der Unterschied des Urteils so deutlich, daß ich keine Worte hinzuzufügen brauche. Ich unterlasse es um so bereitwilliger, als die Vergleichung schwerlich zu unsern Gunsten lautet. Stellen wir darum lieber zum Schlüsse einige Hauptergebnisse, die mir für den deutschen Leser besonders bemerkenswert erscheinen, übersichtlich zusammen.
Das Eigentümliche der französischen Anschauungen über das Drama besteht in der Überzeugung, daß dramatische Poesie und Theaterschriftstellerei zwei grundverschiedene Dinge seien. Dieser Überzeugung gemäß scheidet er das Drama in zwei Klassen, in das Drama der höhern Ordnung, das seinen Wert durch Literatur betätigt, und in das Drama der niederen Ordnung, das keinen Wert, sondern bloß Anerkennung (Erfolg) vonseiten des Theaterpublikums beansprucht. Das Drama höherer Ordnung ist ein Buchdrama, indem es sich einzig um die poetischen, nicht um die bühnentechnischen Gesetze kümmert. Dieses Buchdrama wird indessen in Frankreich aufgeführt, weil daselbst auch das Theater literarisch beseelt ist, so daß dem Buchdrama eine Buchbühne zur Seite steht.
In Frankreich gehorcht nicht die Poesie dem Theater (dem ‹Bühnenbrauch›), sondern sie befiehlt ihm.
Die Zukunft des Dramas sucht der Franzose nicht in der Richtung des Handwerks, sondern in der Richtung der Literatur.
Die Bühnentechnik gilt dem Franzosen keineswegs als ein obligatorisches Gesetz für das gesamte Drama. Sie bedeutet ihm nur eine Eigentümlichkeit einer bestimmten Gattung, und zwar einer untergeordneten Gattung. Sämtliche höhern Gattungen, also alle diejenigen, welche zur dramatischen Poesie gehören, sind von der Bühnentechnik dispensiert.
Die Bühnentechnik auf das historische Schauspiel und Trauerspiel oder auf die ideale Tragödie anzuwenden, fällt dem Franzosen nicht ein. Er würde die Zumutung, dies zu tun, als Unverstand zurückweisen. Übrigens mutet niemand in Frankreich dem Dichter solches zu.
Das sind die französischen Anschauungen über das Drama. Wollen wir nun von den Franzosen lernen, so bin ich der letzte, dies zu mißbilligen.