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Hat das Klima einen nachweisbaren Einfluß auf das Temperament der Völker? Diese Frage ist noch unbeantwortet, denn die gebräuchliche Bejahung hat sich als vorschnell erwiesen. In der Tat, an allen möglichen Nationaleigenschaften mußte ehedem die Sonne schuld sein, und sie muß es in der Roman- und Journalliteratur noch heute; die nämliche Hitze soll den Italiener leidenschaftlich und den Türken träge gemacht haben. Und so wird denn auch die Apathie der Slawen und die Wortkargheit der Finnen und Lappen auf die melancholische Natur des Nordens zurückgeführt. Wie unrichtig das ist, kann man daraus ersehen, daß die Schweden, welche neben und zum Teil zwischen den Finnen, also unter denselben klimatischen Bedingungen leben wie diese letzteren und die Russen, von Heiterkeit, Fröhlichkeit und Lebhaftigkeit sprudeln.
Was über das Temperament der Völker allein entscheidet, das ist der Nationalcharakter, gegen welchen die Eindrücke der Naturumgebung eine kaum wägbare und bemerkbare Potenz bedeuten. Damit ist allerdings das Geheimnis nicht gelöst, wohl aber an die richtige Stelle geschoben.
Dänen und Schweden, das sind die heitern Gemüter des Nordens, ein Quecksilber, das nie gefriert. Der Winter ist ihre Lust, und den Sommer nehmen sie zum Vorwand für unaufhörliche Feste. Stockholm und Kopenhagen befinden sich während der ganzen warmen Jahreszeit in einem gelinden Taumel. Kolonien von Belustigungsanstalten siedeln sich vor den Toren an, wohin nun jeden Nachmittag die Einwohnerschaft wallfahrt, vornehm und gering bunt durcheinander. In dem prächtigen Kopenhagen ist es vor allem der Tivoli, welcher die Massen anlockt, ein Kollektivum von Vergnüglern, das nach meinem Urteil alles ähnliche hinter sich läßt. Und mit diesem Urteil stehe ich keineswegs allein; eben noch hat zum Beispiel der Korrespondent des «Figaro» ausgesprochen, daß sogar der Wiener Prater sich mit dem Kopenhagener Tivoli nicht messen dürfe. Was dann der Tivoli nicht gibt, ergänzt Klampenborg. An Eleganz kommt das Kopenhagener Publikum jedem anderen großstädtischen gleich; an Lebhaftigkeit übertrifft der Däne bei weitem den Franzosen.
Weniger glänzend, aber herzlicher und naturwüchsiger äußert sich die Sommerlust in Stockholm; da wird unter den letzten Eichen des Nordens gesungen und getanzt, daß es einem in der Seele wohltut. Wer hat nicht schon einige vereinzelte Repräsentanten dieses liebenswürdigen schwedischen Völkchens angetroffen? Wie ihnen das Gesicht vor Lebensfreude lacht; wie ihnen das Herz aufgeht, wenn sie von ihrem geliebten Stockholm reden! Nun, wer Stockholm gesehen, begreift sie. Da gleiten die unzählbaren kleinen Dampfschiffchen von Ufer zu Ufer wie die Wasserspinnen über einen Teich, und im Tiergarten geigt und trompetet und singt es jeden Gottestag bis in die Nacht hinein. Es gehört zu den hübschesten Bildern des schwedischen Novellisten Strindberg, wenn er uns eine hauptstädtische Familie zeigt, wie sie den langen Nachmittag mit Blindekuhspielen und Wurstessen zubringt. «Woher nur die Menschen Zeit und Geld zu all dieser Fröhlichkeit hernehmen!» hörte ich manchen Reisenden ausrufen. Jedenfalls ist Zeit und Geld nicht weggeworfen; nämlich mit Weib und Kind in Gottes freier Natur sich gehörig austanzen, ist auch eine Lösung der sozialen Frage. Was das Altertum vor sozialen Revolutionen bewahrte, ist nicht allein die Institution der Sklaverei, sondern mehr noch die Gleichheit des Anteils am Vergnügen für alle. Die schwedische Fröhlichkeit spiegelt sich auch in den Tänzen wider, die in ihrer kindlichen Ausgelassenheit beinahe einen possierlichen Eindruck machen. Selbst die hohe Kunst der Poesie und des Gesanges zeigt ihre Spuren; Esaias Tegnér ist ein jauchzender Lyriker, und es ist bezeichnend, daß der berühmte Hymnus auf die Sonne nicht aus dem Süden, sondern aus Schweden stammt. Dem Südländer vergoldet die Sonne unbewußt die Phantasie; mit verzückter, fast mystischer Innigkeit begrüßt ein Andersen und ein Tegnér den Sonnenstrahl.
Und nun der herrliche Gesang! Wie der in Schweden jubelt! Wie er naiv und ungekünstelt aus dem Herzen klingt! Nie werde ich ein Lied vergessen, das ich in einem Stockholmer Konzert gehört; das Lied hatte den Refrain: «Darum bin ich so froh! Därför är jag så glad!» Wo in aller Welt singt man sonst noch: «Ich bin so froh!» Und dazu in einem Konzertsaal! In dieser echten Seelenfreude liegt das Geheimnis der berühmten schwedischen Gesangkunst, die hinsichtlich der populären Verbreitung der italienischen überlegen sein dürfte. In Italien ist wohl der Sinn für Melodie und für Vokalisation allgemein, nicht aber das harmonische Gefühl; man kann in Italien haarsträubend akkompagnieren hören. Der schwedische Gesang dagegen quillt aus der germanischen Polyphonie, mit Rhythmen, die in ihrer Natürlichkeit so überzeugend wirken, daß man sie wie eine Erinnerung an die Kindheit im Herzen behält, man mag wollen oder nicht.