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Wenn jemals ein Dichter Anlaß hätte, kopfscheu zu werden und nicht mehr zu wissen, wo aus und wo ein, so wäre es Wildenbruch. Lange genug hatte Deutschland nach einem Dramatiker geseufzt, der die Regeln der Dramaturgie mit den Forderungen der Bühne erfülle, die Poesie mit dem Handwerk vereine, zugleich dramatisch und theatralisch verfahre. Man versprach, ihn wie einen Messias zu begrüßen und alle Lorbeerbäume Deutschlands für ihn zu zerpflücken. Nun, was man begehrte, leistet Wildenbruch und dazu noch ein übriges, das man nicht begehrte und wozu ein Dramatiker gar nicht verpflichtet ist, nämlich Liebenswürdigkeit. Man sollte also vermuten, daß die Kritik ein seltenes Wohlbehagen bei diesem Namen kundgäbe. Doch was sehen wir? Nach einem rauschenden Beifallssturm zwar ein wohlwollendes Anerkennen, daneben aber ein Munkeln, Bedauern und Achselzucken. Die Lorbeerbäume sind Maulbeerbäume geworden. Da erlaube ich mir zu sagen: «Meine Herren, Sie wissen nicht, was Sie wollen!»
Wollt ihr einen reinen Poeten, der unbekümmert um die Schranken des modernen Theaters, welche, wie wir wissen, weit enger sind als diejenigen des klassischen, also unbekümmert um die zusammengeschrumpfte Bühnenzeit, um den neudramatischen Geschwindschritt, um die durch Operetten, Possen und französische Aktualitäten verhätschelte Neugier und Ungeduld des Zuschauers, um die Abneigungen der Direktionen gegen gehobene und ergiebige Diktion einen schweren tragischen Stoff aus der Tiefe heraus organisch aufbaue? Nein, den wollt ihr nicht; ihr würdet einem solchen das dramatische Vollblut abstreiten und sein Werk ein ‹Buchdrama› schelten.
Oder wollt ihr einen praktischen Bühnenhandwerker im Stil eines Sardou, der harthörig gegen die Stimme der Poesie allein dem Erfolg huldigte? Nein, den wollt ihr ebenfalls nicht; denn ihr seid dafür zu ernst, zu aufrichtig erfüllt von Bewunderung unserer Klassiker, zu anständig. Ihr würdet den Handwerker geringschätzen und seine Stücke aus der Literatur ausschließen.
Was wollt ihr also? Das Ungereimte: echt poetische Dramen, die sich nach einer Bühnenschablone bequemten, welche ihrerseits auf windige Stoffe und Handwerksarbeit berechnet ist. Und im Grunde wollt ihr auch das nicht, ihr möchtet es bloß. Denn wollen bedeutet die Mittel zum Zwecke annehmen. Die Mittel zu eurem Zwecke aber heißen: Zugeständnisse nach rechts, Zugeständnisse nach links, Zugeständnisse an jedem Punkte. Ein Vertrag zwischen der Poesie und der modernen Bühne kann ohne ansehnliche Opfer nicht geschlossen werden. Ehedem meinte man nun, das Theater müsse der Poesie zur größern Hälfte des Weges entgegenkommen. Ihr habt diese Ansicht abgewiesen, und nicht nur abgewiesen, sondern verdammt, und nicht nur verdammt, sondern verhöhnt. Ihr habt als obersten dramatischen Grundsatz ausgerufen, daß der jeweilige Bühnenbrauch ein unantastbares Gesetz bedeute, daß die Bühne niemals das mindeste Zugeständnis zu machen verpflichtet sei, daß umgekehrt der Dichter sich jeder Verordnung des Regisseurs und jedem Wunsche des Schauspielers fügen müsse. Ihr habt endlich diejenigen Dichter, die anders verfuhren, die sich nicht willenlos eurer Mimokratie und Szenarchie unterordneten, als ‹Buchdramatiker› dem Gespött der deutschen Nation überantwortet.
Und jetzt verwundert ihr euch darüber, daß euer Messias mit beiden Füßen auf die Bretter springt und von den poetischen Elementen des Dramas alle diejenigen preisgibt, welche ihm für den dramatischen Geschwindschritt nach dem Bühnenerfolg hinderlich erscheinen! Handelte er anders, so wäre er gar nicht zur Aufführung gelangt, er schliefe bei den übrigen ‹Buchdramatikern›, und ihr würdet immer noch schmerzlich nach einem Wildenbruch rufen. Seien wir froh, daß Wildenbruch wenigstens von Poesie mitnimmt, was er irgend kann und darf. Es hätte anders kommen können. Es ist nicht das Verdienst unserer Bühne und unserer Theatrologie, daß nicht anstatt eines Wildenbruch, der, wie man auch über ihn urteile, jedenfalls poetische Ziele verfolgt, ein tüchtiger theatralischer Handwerker ohne poetisches Gewissen und ohne höheres Streben das deutsche Theater in den unverschämten Kultus der Prosa und der Aktualitäten nach sich gerissen hat. An Bereitwilligkeit fehlte es unserer Bühne wahrlich nicht, und die Presse zeigte nicht übel Lust, ihr den Boden dafür zu ebnen. Wildenbruch hat es zustandegebracht, daß das moderne deutsche Theater wieder ein kleines Stückchen Poesie in einem Winkel ihrer Bretter duldet, daß es nicht mehr zum voraus jeden historischen Stoff ablehnt, daß es nicht mehr beim Anblick von ‹Jamben› in zynisches Gelächter ausbricht. Und das ist keine geringe Leistung.
Hierauf möchte ich die einzelnen Vorwürfe, die Wildenbruchs Talent gemacht werden, an die richtige Adresse senden, nämlich an unsere dramaturgische Weisheit:
«Wildenbruch ist allzu theatralisch; er verschmäht sogar nicht eigentliche Theatercoups.» Wer hat denn im Eifer gegen das Buchdrama jemals die Möglichkeit zugegeben, daß man allzu theatralisch sein könnte? Zielten nicht alle eure Ermahnungen auf Bühneneffekt? Habt ihr nicht Tag für Tag das Theatralische mit dem Dramatischen verwechselt, wenn nicht gar das Dramatische dem Theatralischen untergeordnet?
«Es fehlt ihm an Innigkeit; er gleitet über vieles zu schnell hinweg, er schöpft die Szenen nicht dichterisch aus; bisweilen versagt ihm im entscheidenden Momente die Sprache.» Gellen denn nicht die Ohren Deutschlands von den Rufen nach «Knappheit der Diktion» und nach «stürmisch drängender Handlung»? Klingelt nicht in einem fort eure Bühnenzeit: «Eilen Sie, mein Herr, um Gottes willen nur schnell! Und lassen Sie sich nur ja in keine Diskussion ein.»
«Er haut seine Gestalten nur so im groben hin; es fehlt ihm die Feinheit der Charakteristik.» Aber womit soll denn ein Dramatiker die Charakteristik verfeinern, wenn man ihm nur noch in kurzen Naturlauten, mit Albumversen gemischt, zu sprechen erlaubt?
«Sein Kunststil hat nichts Individuelles, Originelles.» Wie in aller Welt soll sich Individualität und Originalität eines Autors kundtun, wenn derselbe bloß das Schema eines Konfliktsexempels für die dramaturgische Chrestomathie bieten darf?
«Er sinnt und brütet nicht genug über seiner Arbeit.» Das fehlte noch, daß er darüber brütete! Das wäre ja das sicherste Mittel, ein Buchdrama zu schaffen. Um ein zugfähiges Bühnendrama nach dem Willen des modernen deutschen Theaters zu erreichen, gibt es nur eine einzige Art des Schaffens: Man hält beide Arme zum Schutz vor das Angesicht, nimmt einen gewaltigen Anlauf, stürmt durch die Spießruten der vier Akte, links und rechts von Regeln herunterreißend, was im Laufen erhältlich ist, und haut endlich im letzten Akt um sich. Ein anderes Mittel, Bühnentragödien zu dichten, gibt es heute nicht. Man kann doch nicht im Geschwindschritt brüten.
«Wildenbruch besitzt einen schwächlichen Humor.» Das ist nicht richtig, denn Wildenbruch besitzt gar keinen Humor, wie denn überhaupt kein Tragiker Humor besitzt. Ihr aber beschreibt und lobpreist den Humor, der mit dem Tragischen durchaus nichts zu tun hat, als den Triumph der Tragödie und verleitet damit den dramatischen Dichter, sich gegen seine Neigung und Anlage humoristisch zu gebärden, wobei er dann natürlich Läppisches zutage fördert. Vorausgesetzt übrigens, Wildenbruch besäße jenen Humor, den ihr von ihm begehrt, so würde er manchem den Spiegel des Jahrhunderts vorhalten, und da würde mancher wieder nicht zufrieden sein.
«Er ist mitunter barbarisch und streift an die Schauerromantik.» Gewiß wirkt jedes Überwiegen des Handlungselementes barbarisierend, und jede Metzelei in der Katastrophe gehört zur Schauerromantik. Allein habt ihr denn je einen Dramatiker vor dem Überwiegen der Handlung gewarnt? Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schriet ihr nach Handlung, und noch einmal Handlung, und zum drittenmal Handlung. Und findet ihr etwa den Mut, das Schauerromantische in den Abschlüssen desjenigen zu tadeln, den man für den Autor von «Titus Andronicus» halten durfte?
«In ‹Opfer um Opfer› buhlt Wildenbruch um die Gunst des Publikums und rechnet auf die gemeine Tränenseligkeit.» Habt denn nicht ihr den Bühnenerfolg als den höchsten Gott des dramatischen Dichters verkündigt?
«Wildenbruchs Marlow ist ein Wicht.» Zugegeben. Wie kommt indessen der Schöpfer so vieler erfreulicher Gestalten dazu, eine so unleidliche Figur zu ersinnen? Weil Wildenbruchs Seele anfing, Fühlung mit dem Theater zu gewinnen. Ihr aber preist das Theater wie einen poetischen Gesundbrunnen.
Und desgleichen so mehr. Man hat Wildenbruch in die Kohlenhütte gewiesen und wirft ihm vor, daß er ein wenig schwarz sei. Man tadelt ihn, weil er nicht das tut, was, wenn er es täte, man erst recht tadeln würde. Was für ein Gewinn soll dabei herauskommen? Doch schwerlich Belehrung für den Dichter oder für das Publikum. Jedenfalls ist diese Kreiselbewegung der Kritik der sicherste Weg dazu, daß der Dichter Auge und Ohr nach der Seite der Presse gänzlich verklebe, und wir dürfen ihn darum nicht einmal schelten, denn andernfalls würde das Schwindelgefühl über all die kritischen Selbstwidersprüche sein Schaffen lähmen. Es wird nächstens dahin kommen, daß der dramatische Autor die Überzeugung gewinnt, es sei schlechthin unmöglich, es einer deutschen dramatischen Kritik jemals recht zu machen. Warum? Weil dieselbe zwischen Forderung und Urteil die Meinung wechselt, weil sie, um noch einmal unser Leitmotiv auszusprechen, nicht weiß, was sie will.
Gewiß fordert Wildenbruchs Wirken die Kritik ganz besonders heraus, einmal, weil es sich auf einem Gipfel abspielt, und zum andern, weil es die praktische Bejahung oder Verneinung einer Prinzipienfrage allerersten Ranges bedeutet, der Frage nämlich, ob sich überhaupt die Poesie mit den Velleitäten der modernen französisierenden Bühne vertrage. Wildenbruch ist der gläubige und tatkräftige Prophet der modern-dramaturgischen Anschauungen Deutschlands, und seine Werke sind die denkbar höchste Erscheinungsform des Schuldramas. Auch ich halte seine Werke für anfechtbar, doch nur dann, wenn man zugleich den Standpunkt derselben angreift. Von dem gegebenen Standpunkt aus gesehen, welcher ja zugleich der Standpunkt der Kritik ist, erscheinen die vermeintlichen Fehler der Wildenbruchschen Stücke als unerläßliche Bedingungen ihrer Tugenden, ja ihrer Existenz überhaupt. Wildenbruch, dank einer glücklichen Mischung individueller Anlagen, bedeutet die Überbrückung der innern Gegensätze, die sich durch die Summierung von Anforderungen aus den verschiedenartigsten einander widersprechenden Kunstzielen ergeben. Wem diese Überbrückung nicht behagt, der sehe zu, wie er auf einem andern Wege über die Kluft gelange. Eitel aber ist die Hoffnung auf einen zweiten dramatischen Messias. Denn kein Messias wird jemals leisten, was ihr begehrt, nämlich daß er euch Omeletten liefere, ohne die Eier zu zerschlagen.