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Viktor Hehn, der feinsinnige Kenner der klassischen Kultur, hat sich in seinem Buche über Italien ein diabolisches Vergnügen daraus gemacht, die Unberufenen von Italien abzuschrecken, indem er mit ironischem Lächeln erbarmungslos alle Enttäuschungen zusammenzählt, die den italiensüchtigen Nordländer in Wirklichkeit erwarten; hauptsächlich in Beziehung auf die berühmten landschaftlichen Schönheiten. Eines steht mir nach vielen Versuchen und Erfahrungen fest: Italien ist kein Land der Spaziergänge, selbst nicht in seinen schönsten Gegenden. So wenig der Italiener selber spazierengeht, so wenig will sich bei dem Nordländer der gesuchte und gewohnte Genuß einstellen. Ist es die Abwesenheit der Wälder? der Mangel an Fußpfaden, diesen Symbolen des Idylls? die Abgeschlossenheit der Gärten? die Latifundienwirtschaft? die mathematische Regelmäßigkeit des Ackerbaues? Ich bekehre mich mehr und mehr zu dem Glauben, daß klimatische Ursachen ausschlaggebend sind: die absolute Niedrigkeit der Höhenlage mit entsprechend veränderten Luftströmungen, die drückende Hitze und Blendung des Tages und die feuchte Abendkühle mit ihren ungesunden Ausdünstungen. Soviel steht fest: während das Auge genießt, wird der Körper nicht erlabt. Daß aber der Segen eines Spazierganges überhaupt vornehmlich auf körperlichen Vorgängen beruht, wird nicht bestreiten wollen, wer die Wirkung eines Alpenspazierganges mit einem Spaziergange in der Ebene vergleicht.
Die Schönheiten der italienischen Natur wollen weilend genossen sein, nicht im Wandel, sondern aus dem Rahmen von Palästen und Kunstgärten, träumend und erschöpfend. Es gehört ferner ein bedeutendes Abstraktionsvermögen dazu; denn die Form, wie sie eine stilisierte Villa im Rebberg, kurz jedes malerische Motiv bietet, wie es die Skizzenbücher unserer Künstler aus Italien heimbringen, ist eine Abstraktion, und zwar keine leichte. Es muß immer so und so vieles aus dem wirklichen Bilde hinweggedacht und hinweggesehen werden, um den Gewinn für das Auge rein herzustellen. Dem aber, der dieses vermag, der überdies die Kultur und die Architektur als landschaftliche Schönheitsmomente zu verstehen geschickt ist, der ferner statt Panoramen einzelne Schatten- und Farbeneffekte aufzuspüren weiß, dem bietet Italien, was sein Ruf versprach, und mehr: stilisierte Liniengruppen und ein unvergleichliches Kolorit. Auf den Einheimischen muß die Wirkung eine noch unendlich größere, wenn auch unbewußtere sein, weil nicht zum kleinsten Teil die landschaftliche Schönheit auf der Seele beruht, die wir hineinlegen, auf den Erinnerungen, die darum schweben.
Weit das Bezauberndste haben wir bekanntlich in unserer nächsten Nähe: die italienischen Seen. Ich muß indessen gestehen, daß mir persönlich der Magnet der großen italienischen Städte daselbst keine Ruhe läßt; ich mag und kann die Monumentalgröße der Bauten und das fröhliche Hin- und Herwogen eleganter Menschenmassen nicht missen. Auch haben die Höhen um die italienischen Seen noch allzu merklich winterliche Stimmung. An den Füssen Neapel, am Kopfe Sibirien. Das nächste völlig südliche Bild bietet Genua. In den Bahnhof von Sampierdarena einzufahren und später auf die Villa Negri von Genua zu steigen, und wäre es auch nur für eine Stunde, das scheint mir für sich allein eine Reise wert.
Wie urteilt übrigens der Italiener über seine Natur? Genau wie seine antiken Vorfahren, wie das gesamte Europa vor Rousseau. Was Frucht gibt, ist eine schöne Gegend, was nichts abträgt, ist abscheulich. Als wir bei Spezia durch die Felsklippen am rauschenden Meere hinfuhren, geschah ein allgemeines verächtliches Nasenrümpfen: «Was für eine häßliche Natur!»
Nicht die Verschiedenartigkeit, sondern die wesentliche Gleichartigkeit der italienischen Städte mit denjenigen des Nordens ist es, was Staunen verdient. In Florenz wird man der großen Einheitlichkeit des christlichen Mittelalters inne. Vom mittelländischen Meer bis nach der Nord- und Ostsee der nämliche Städtewille, nur im Maß und Grade, nicht in der Art verschieden. Ob Florenz oder Basel oder Köln oder Antwerpen, das Hauptgepräge ist das nämliche: die Kirche als idealer Mittelpunkt, Burg und Mauer und womöglich ein Fluß als Lebensbedingungen, enge Gassen mit Spießbürgern als Folge. Die Gegensätze der Kultur liegen eben in Europa nicht zwischen Nord und Süd, sondern zwischen Ost und West, mit andern Worten zwischen Alt- und Neueuropa. In Osteuropa der Bazar als Mittelpunkt der Stadt, worum sich in ungeheurer Weite, in breiten Straßen mit niedern Häuschen oder Hütten die Ansiedelung dorfähnlich anlegt, Platz für ein Volk gewährend und sogar Weideplätze in sich aufnehmend, wie das im alten Babylon der Fall gewesen sein soll und wovon im slawischen, ehemals tatarischen Osten noch heute das schwache Nachbild sichtbar ist. Es sind Barackenstädte, mit Palästen und Kirchen durchsät, aber nicht als Ganzes monumental gedacht, was übrigens schon das Material, Backstein, Gips und Holz, verwehrt. Der hohe Norden baut gänzlich aus Holz. Es sind, von stilistischem Standpunkt beurteilt, ‹Städte, die nicht sind›. Auch besitzt der europäische Osten und Nordosten neben einigen wenigen Hauptzentren keine Städte von Belang, keine Städte von namhafter Bevölkerungszahl, keine Städte zweiten und dritten Ranges; was wir in der Geographie von bedeutenden polnischen, russischen, finnischen und schwedischen Städten lernen, das sind, in der Nähe besehen, mit Ausnahme von einem halben Dutzend, elende Nester. In Italien dagegen erwarten uns umgekehrte Überraschungen: wovon wir kaum den Namen kennen, was wir uns bloß als Geburtsort eines Malers merkten, das erweist sich in der Nähe als eine recht imposante Stadt, originell, stilvoll und auch volkreich. Ist die Bevölkerungszahl hie oder da geschwunden, so zeigt doch die Stadt selbst noch dem staunenden Auge die einstige Größe durch Denkmäler und Ausdehnung. Im allgemeinen darf für Westeuropa gesagt werden: je älter eine Stadt, desto mehr Stadt, das heißt desto individueller, desto wirksamer, desto monumentaler; und zwar meine ich dies nicht im Sinne des antiquarischen Interesses, für welches ich durchaus kein Organ habe. Die Städte, die zuerst im Mittelalter emporblühten, die niederburgundischen und die italienischen, das sind noch heute diejenigen, deren Anblick am unvergeßlichsten im Gedächtnis haftet. Holland, Belgien und Norditalien, das sind die wahren Städteheimaten, da liegen sie zusammen wie die Sternhaufen in der Milchstraße.
Also, wie gesagt, der geringe Unterschied von Nord und Süd kommt gegen den gewaltigen Unterschied zwischen der westlichen christlichen Burgstadt und der osteuropäischen Marktansiedelung kaum in Betracht. Auch im Leben und Treiben der Bevölkerung vermag ich mit Ausnahme des obligaten Nachtwandelns der italienischen Menschheit nichts wesentlich Verschiedenes zu erkennen. Es braucht den Sonnenstrahl, jenen Sonnenstrahl von unvergleichlichem Goldglanz, das Hineinragen einer Fächerpinie, eines Zitronenstrauches, um uns innerhalb einer italienischen Stadt daran zu erinnern, daß wir uns zwischen dem fünfundvierzigsten und vierzigsten Breitegrad befinden. Die Natur ist südlicher als die Kultur, oder richtiger ausgedrückt: Nordeuropa vermochte die südliche, römisch-christliche Kultur sich anzueignen, das Klima ließ sich nicht nachahmen. Daher bietet die Stadt die Einheit, Garten und Feld die Verschiedenheit.
Aus dem ehrwürdigen und stilvollen Charakter der ursprünglichen Stadt wächst nun allmählich, doch sicher überall die uniforme moderne Stadt heraus, mit ihrem Ideal von Luft, Licht und Raum, von Einfachheit, Regelmäßigkeit und Übersichtlichkeit, den alten Rahmen unwiderstehlich sprengend. An Stelle der Gäßchen und Straßen: Boulevard, Viale, Corso und Perspektive, an Stelle der heiligen Plätze: Square, Quai und Promenade. Vor diesem rationellen, mithin universalen Ideal schwinden mehr und mehr die alten, historisch begründeten Eigentümlichkeiten. Ob Petersburg, ob Berlin oder Mailand oder Paris, die moderne Stadt strebt allenthalben dem nämlichen Ziel entgegen: Gesundheit, Bequemlichkeit, Lebensgenuß. Das mag tadeln, wer will, und aufhalten, wer kann. Ich meinerseits habe nicht den Mut, irgendeiner Nation die Zumutung zu stellen, der antiquarische Kustos ihrer Städte und der Don Quichotte ihrer Vergangenheit zu sein. Wenn ich daher auch den Italiener der Modernstadt zusteuern sehe, so kann ich kein Wort des Tadels finden, denn der Italiener lebt so gut wie wir im neunzehnten Jahrhundert, und bald im zwanzigsten; um eine halbe Stunde früher sogar als wir. Oder wollen wir ihm allen Ernstes zumuten, ewig an den Knochen seiner großen Toten zu saugen, der Kunstgeschichte zu Gefallen? Ein etwas magerer Genuß, jedenfalls eine unzureichende Nahrung für eine lebendige Nation. Es ist interessant und angenehm, während einer Hochzeitsreise am Arm der jungen Gattin sich durch die Gäßchen Genuas durchzuklemmen, aber dies fünfzig Jahre lang tun zu müssen, statt auf breiten, ebenen Trottoirs zu wandeln, das ist etwas anderes. Ich hörte in der Via Calzaioli von Florenz eine Geisterstimme: «Jetzt, da Florenz sich nicht mehr gegen Pisa, Papst, Kaiser, Türk und Spanier zu wehren hat, heute, da keine Mauern mehr nützen, wie wäre es, wenn eine prächtige breite, gerade Hauptstraße mitten durch die Stadt führte?» Hole mich dieser und jener, wenn das nicht die Stimme Michelangelos war; und Raffael stand auf dem andern Trottoir und nickte.
Einstweilen sehnt sich der Italiener, wie er ist und lebt, nicht derjenige der Legende, rückhalts- und rücksichtslos nach der modernen Idealstadt, mit Paris als Vorbild. Florenz, Genua: «Provinzstädte». Venedig: «Ein Krähwinkelnest». Rom: «Hat sich Gott sei Dank seit zwanzig Jahren bedeutend zu seinem Vorteil verändert.» Mit Wonne und Bewunderung nennt er nur drei Städte: Neapel, Mailand und Turin, namentlich Turin. Und damit hat er gar nicht so unrecht. Man frage doch einmal statt der Bücher unsere Frauen. Sie werden sämtlich eine deutliche Vorliebe für Turin und Mailand verraten. Die Frauen nämlich gehören stets zu den modernsten aller Menschen; und nicht bloß deswegen, weil sie meistens jünger sind, als ihr Geburtsschein behauptet. Wer mit seiner Frau nach Florenz reist, der huldigt der Kunst; wer sie nach Turin führt, der huldigt seiner Frau.
Soll ich es wagen? Darf ich es gestehen? Ich teile diese Schwäche für Mailand und Turin; ich segne diese breiten, schnurgeraden Straßen, diese bequemen Galerien, wo abends das elektrische Licht im Verein mit den funkelnden Juwelen der tageshell erleuchteten Magazine ein wahres Flammenmeer, ein blumiges Feenmärchen hervorzaubert; wo sich eine elegante Menschenmenge ruhig hin- und herschiebt, ohne sich zu drängen, ohne sich auf die Absätze zu treten. Ich weiß nicht, wie es andern geht, ich für meinen Teil habe für meinen ästhetischen Genuß nicht nötig überfahren zu werden. Namentlich für Turin, dieses strahlende Schmuckkästchen, wo schöne Menschen in schönen Galerien sich schön aufführen, hege ich eine besondere Schwäche. An der Oder will ich wohnen, wenn ich jemals wieder durch den Gotthard fahre, ohne Turin zu besuchen!
Die Liebenswürdigkeit des Italieners gegen den Fremden ist allgemein und stichhaltig. Hierin sind die Italiener den Franzosen unendlich überlegen. Schnippische oder höhnische Bemerkungen von Gassenjungen und -alten, Anschnödigungen durch Beamte, Frechheiten von Kutschern, Kellnern, Lakaien und Angestellten, wie sie in Paris alltäglich sind, kommen in Italien schlechterdings nicht vor. Man mag sich das ruppigste Protzengesicht, die hängenswürdigste Galgenphysiognomie eigens aussuchen, um eine Auskunft zu erbitten, stets wird dieselbe auf die verbindlichste Weise erteilt. Ich bin während einer vierzehntägigen Reise im steten Verkehr mit allerhand Menschen auch nicht einem einzigen groben Italiener begegnet. Die «Scusi» und «Grazie», welche stündlich in Italien ertönen, zählen nach Milliarden. Diese Liebenswürdigkeit bewährt sich bei den unglaublichsten Fällen und bei den unmöglichsten Menschenklassen. Es ereignet sich hier das Wunder, daß selbst Kutscher ich sage Kutscher! , Portiers und Kellner sich manierlich benehmen, sogar wenn das Trinkgeld nicht nach Erwarten ausfällt oder gänzlich ausbleibt, daß der Verkäufer noch artig lächelt, wenn man das Magazin verläßt, ohne gekauft zu haben, daß vielbeschäftigte Angestellte noch nebenbei gefällig Rat über Dinge erteilen, die nicht in ihr Ressort gehören, daß vornehme Damen freundlich lächeln.
Die italienische Liebenswürdigkeit deckt sich nicht mit dem, was wir Höflichkeit nennen; sie ist oft weniger, oft mehr als Höflichkeit; Urbanität ist wohl der richtigste, weil genaueste Ausdruck für die Sache. Der Kellner, und nicht bloß der Kellner, während er einem zuvorkommend Dienste leistet, spuckt dabei harmlos auf den Boden; der Bauer behält den Hut auf dem Kopf, elegant gekleidete Herren gestikulieren, rekeln sich und dehnen sich nach Behagen vor anwesenden Damen. Es herrscht eine gewisse Ungeniertheit und eine allgemeine nationale Vertraulichkeit, wie etwa in Österreich. Man sitzt im Eisenbahnwagen nicht stumm einander gegenüber; Damen scheuen sich nicht, einen Nachbarn zuerst anzureden; ehrsame Frauen dulden ohne pharisäische Entrüstung die Gegenwart leichtsinniger Sünderinnen in den besuchtesten Straßen, im Café und Theater. Der Fremde findet in jedem Italiener einen Fürsprecher und Beirat bei Verhandlungen mit Angestellten und Dienern.
Geradezu verblüffend wirkt auf uns Nordländer, die wir an geisterhafte Bedienung gewohnt sind, die Vertraulichkeit der Kellner. Ihr Benehmen gegen den Gast hat etwas Väterliches, Zudringliches. Der Kellner fühlt sich als Stellvertreter des Wirtes verpflichtet, den Gast zu unterhalten; stets wird er versuchen, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen. Und der italienische Gast scheint dieses Bedürfnis zu verstehen und zu erwidern. Ich habe in Pisa einen Kavallerieobersten, der mit Frau und Kind in einem Restaurant speiste, den Kellner herbeirufen sehen, um mit ihm ein weitläufiges Gespräch anzuspinnen, an welchem sich Madame beteiligte, auf dem Fuße der Gleichheit. Über die Wahl von Brot und Suppe entstehen freundschaftliche Verhandlungen, wobei der Kellner wohlgemeinte Ratschläge erteilt; in nationalen Trattorien wird wohl gar der Gast in die Küche geführt, wo ihm der Koch die dampfenden Braten mit der Gabel unter die Nase hält, damit er auswähle. Die Suppenschüssel stülpt der bedienende Kellner dem Gast einfach in den Teller um, ehe dieser Zeit findet, sich gegen den gewalttätigen Eingriff zu wehren; dasselbe geschieht wohl später mit dem Braten, unter freundlichem Schmunzeln. Und diese Väterlichkeiten sind nicht etwa auf unsern Geldbeutel gemünzt; man erwartet dafür keine klingende Entschädigung, wie denn überhaupt das Lächeln der italienischen Bedienung nicht nach Geld stinkt. Der Italiener ist geizig, aber nicht gierig; eine Menge Gefälligkeiten leistet er umsonst, ist in Trinkgeldern anspruchslos und für dieselben dankbar bis zu Tränen.
In den Magazinen ist der Empfang unter Umständen geradezu bezaubernd, man wird mit Zucker übers Ohr gehauen. Übrigens besitzt der italienische Kaufmann Tradition und eigene Erfahrung genug, um sich einer gewissen mittlern Redlichkeit gegen den Fremden nie ganz zu entschlagen; er ist zu gerieben, um fremdenindustriellen Raubbau zu treiben. Ich werde, wenigstens in Norditalien, stets von der Zuverlässigkeit der Menschen überrascht. Wenn wir auf der Straße einem Trödeljungen etwas abkaufen, ihm das Geld einhändigen, mit der Weisung, den Gegenstand in den Gasthof zu bringen, so langt er sicher an. Die Schutzleute sind in allen italienischen Städten Kavaliere, denen das unbedingteste Vertrauen entgegengebracht werden darf. Bei den Angestellten privater wie staatlicher Gesellschaften habe ich ein wohltuendes Pflichtgefühl angetroffen. Und sie sind nicht bloß angestellt, sondern auch anstellig; es wächst ihnen nicht so leicht etwas über den Kopf. Bewunderungswert ist der Personenbetrieb auf den Bahnhöfen. Welche Ruhe! welche Stille! welche Sicherheit! welche Gefälligkeit! Während bei uns kaum der kläglichste Bummelzug ohne unendliches Hin- und Herrufen und -pfeifen, ohne Verweise, ohne Schelten, ohne Anrufung dahingeschiedener Tiergestalten vom Stapel läuft, stehen in den italienischen Riesenkreuzungsstationen, in Alessandria, in Mailand, in Genua, in Turin und so weiter halbe Dutzende von Schnellzügen mäuschenstill nebeneinandergepackt wie in einer Spielschachtel da; die Reisenden ziehen von verschiedenen Seiten in Trüppchen nach den betreffenden Aufschriften, ein einziger lauter Ruf: «Partenza!» und mit einem kleinen Pfiff schnurrt eines der vielen Päckchen von dannen. Verirrt sich ein Reisender, so wird ihm der erste beste Angestellte bereitwillig den gesuchten Zug weisen, ohne Murren und Knurren. Man sollte, wie Frankreich und Deutschland Künstlerstiftungen für eine Lehrzeit in Rom besitzen, in der Schweiz Höflichkeitsstipendien für einen Kursus unseres Eisenbahnpersonals in Alessandria oder Mailand gründen.
Aus der Urbanität des Italieners darf indessen nicht einfach auf Gutmütigkeit oder gar auf Gutherzigkeit geschlossen werden. Das ist ein anderes Kapitel, und kein erbauliches.
Ich glaube, Robert Vischer war es, der die Legende von dem Mantel erfunden hat, welchen selbst der schmutzigste Italiener malerisch über die Schulter werfe. Nun, über die Ästhetik der Kleidung hatte Robert Vischer seine eigenen und höchst eigentümlichen Ansichten. Ich kann beim besten Willen den malerischen Sinn des niedern Volkes in Italien nicht entdecken, eher die Abwesenheit davon; etwas Koketterie, etwas Pose, ja, aber die Koketterie eines Kegeladonis, die Pose eines Heldentenors einer Liebhaberbühne. Mißfarbene, mittelmäßige graue und braune Kleidung, blutrote Halstücher, überhaupt viel Blut und viel Schmutz. Aber der Schmutz soll da poetisch sein. Was ist überhaupt poetischer Schmutz? Ich bitte, mir doch einmal solchen zu zeigen. Bis ich den sehe, glaube ich zwar an schmutzige Poeten, nicht aber an poetischen Schmutz. Offen gestanden, mir ist vielmehr der prosaische, unmalerische Gegensatz der italienischen Bevölkerung gegenüber dem Glanz, der Pracht und der stilistischen Würde der italienischen Städte aufgefallen. Was für Metzgergestalten unter dem Volk, was für Philisterphysiognomien unter dem Kleinbürgertum in Florenz! Und was für ein profaner Höllenlärm, was für eine Aufgedonnertheit der zwerghaften Pferdchen, hinter denen die riesige Kutsche dahereilt, als wollte sie das Tier überfahren! Ich habe, soviel ich mit eigenen Augen beobachten konnte, den Schönheitssinn des Italieners da anfangen sehen, wo die Seife beginnt, und da gipfeln, wo der Luxus thront: bei den eleganten Damen. Hier offenbart sich der Farbensinn, jener Farbensinn, wie er der eleganten Weiblichkeit aller romanischen Völker eignet, das Verständnis und die Kunst, das Gesicht als Mittelpunkt und Zweck zu betrachten und seiner individuellen Färbung die Kleidung dienstbar zu machen. Bei den Männern der vornehmen Klasse dagegen zeigt sich häufig eine Neigung zum Stutzerhaften, die sich auch in der Uniformierung der Armee verrät. Schön sind die Italiener; aber schön und schönheitssinnig ist zweierlei. Jenes ist das Produkt der Rassenmischung und Rassenveredlung, das Erbteil einer alten Kultur; dieses ist eine individuelle Tugend, die stets nur einzelnen von der Natur verliehen wird. Ein ganzes Volk mit künstlerischen Instinkten, eine Nation von Raffaelen ohne Arme ist ein Märchen; die großen italienischen Maler bildeten so gut Ausnahmen in ihrem Volke und in ihrer Zeit wie anderswo; sie fanden Gönner, sie fanden Duldung und Hochschätzung, und das genügt zur künstlerischen Ehre der Nation. Was mehr ist, haben nordische Dichter, Maler und Gelehrte in das italienische Volk hineinkonstruiert und nachher hineingesehen.
Ich rede nicht vom Kunstgesang, denn dieser ist ein unbestrittenes Monopol Italiens. Wovon ich reden will, das ist die Volksmusik und das dilettantische Musikverständnis. In dieser Hinsicht erlebe ich stets von neuem von zwei entgegengesetzten Seiten Überraschungen. Einerseits ein unglaubliches, unbeschreibliches Nationalinteresse, ja Nationalbedürfnis für Musik, erstaunliche Popularität der einheimischen Meisterwerke, selbst der kompliziertesten, zum Beispiel Harmonikaspieler, welche auf Verlangen ganze Szenen aus «Ernani», «Rigoletto» oder «Lucia» auswendig zum besten geben, Stimmen von wahrhaft bezauberndem Wohlklang neben wüstem Gebrüll, ein volles, reines Loslegen des Tones, ohne jene ekelhaften Beimischungen von Ziererei, welche im Norden die Stimme quetscht, ferner natürliches Pathos, zu viel Pathos sogar, angeborene Sicherheit im Ausdruck der musikalischen Phrase, also zum Beispiel in der Tonstärke, im Crescendo, in der Akzentgebung, endlich ein instinktives Verständnis für alle Künste des Taktes, seine Beschleunigung, seine Aufhebung, also für das Stretto, für den Vorhalt, die Fermate, das Rubato und dergleichen. Nicht in eben demselben Grade für Rhythmus und Gegenrhythmus, in welchen die orientalischen Völker, namentlich die Ungarn und die Slawen, unerreichte Meister bleiben.
Dagegen wieder auf der andern Seite, was für eine Gehörlosigkeit hinsichtlich der Harmonie! Und was für eine Kritiklosigkeit gegenüber dem Gehalt eines Musikstückes! Die haarsträubendsten Fehler der Akkordfolge in der Begleitung eines Gesangstückes werden von einem großstädtischen Publikum ruhig heruntergeschluckt, die elendesten Trivialitäten mit frenetischem Beifall überschüttet, wofern es nur flott heruntergespielt wird. Trivialitäten aus aller Herren Ländern, verballhornt, verwässert, einerlei; wenn es nur Spektakel macht und die Bewegungsnerven aufjuckt. Die Italiener sind musikalische Allesfresser; kein musikalischer Gedanke ist zu elend, um nicht bei tüchtiger Ausführung Beifall zu finden. Schon der bloße Lärm der Instrumente wird verdankt, und das Klatschen ist den Leuten an sich ein Bedürfnis, welches nur auf den nächsten einigermaßen applausiblen Anlaß wartet. Ich habe in Genua, in Florenz die abgeleiertesten, unerträglichsten Cafésängerinnen durch folgendes ebenso einfaches wie dreistes Experiment unfehlbar Beifall ernten sehen: das unmögliche Geschöpf kräht ihre Albernheiten herunter, tritt ab, ohne daß sich eine Hand rührte, tritt unverfroren nochmals auf, als hätte man sie hervorgerufen, singt noch schlechter; wenn sie aber jetzt zum zweiten Mal verschwindet, regen sich schon die Hände; kommt sie zum dritten Mal, so erringt sie beim Abgang einen allgemeinen Jubel. Die Fabel lehrt, daß es in Italien schon als ein verdienstliches Werk empfunden wird, wenn ein Mensch nur ein hinlängliches Quantum von Geräusch von sich gibt. Der Italiener ist und bleibt musikalisch, aber in noch viel höherem Grade ist er lärmsüchtig.
Auf den ersten Blick möchte man das verneinen, auf den zweiten wenigstens bezweifeln. In den politischen Zeitungen, im Umgangsgespräch findet man kaum die Spur davon, ja nicht einmal das Bestreben danach und das Verständnis dafür; die Witzblätter erscheinen merkwürdig genügsam. Humor, Fröhlichkeit und Satire, aber nicht jener haarscharfe Schliff des Gedankens, jene angenehm verblüffenden Gegensätze der Zusammenstellung, jener zierliche Tanz der Worte und der Klänge, wie sie der Franzose übt. Der französische ‹Geist› beruht eben auf der absoluten Vorherrschaft des Verstandes bei gleichzeitiger Virtuosität im Gebrauch des gemeinsamen Sprachmaterials. Der Italiener hingegen fühlt und denkt noch naiver und spricht entweder einfacher oder, wenn nicht, dann rhetorischer. Er übt Schönrednerei, nicht Feinrednerei. Die blumige Redeweise des Südromanen liegt nun entschieden in der Richtung nach der Poesie, zu welcher sie als ‹hoher Stil› eine Vorstufe bildet; doch liegt die Gefahr des Schwulstes, der Geschmacklosigkeit und der Hohlheit nahe, und etwas mehr Schärfe und Strenge des Verstandes in den Gebieten der Prosa, in Abhandlung und Rede würde nicht schaden. Denn zu den Gebieten der Prosa gehört unter anderm auch das ganze Leben einer Nation und des Einzelnen.
Es ist unbedingt nötig, ehe man nach Italien reist, sich ein klein bißchen Italienisch anzueignen, will man sich nicht wie ein lebloses Stück Gepäck von einem Gasthof zum andern schaukeln lassen. Denn daß jeder gebildete Italiener ein wenig Französisch verstände, ist ein naheliegender, aber großer Irrtum. Tatsächlich versteht man bloß in Turin halbwegs französisch, in Mailand nur in seltenen Ausnahmen, überall anderswo ganz und gar nicht. In den großen Magazinen Mailands herrscht das Italienische allein; in den großen Gasthöfen mehr, als man erwarten sollte; bloß die Angestellten der Post und des Telegraphen machen eine Ausnahme. Welcher Italiener übrigens auch französisch redet, spricht es merkwürdig mühsam und gebrochen, übrigens mit einer beneidenswerten Fülle des Wortschatzes, der sich aus der nahen Verwandtschaft der Sprachen erklärt. Was die Aussprache betrifft, so kann man an sich selbst die Beobachtung machen, daß nach einigen Tagen italienischer Konversation das Französische nicht mehr recht über die Zunge will. Der vollere Vokalton und die stärkere Betonung des Italienischen ist eine schlechte Vorbereitung für den abgeschliffenen und engverbundenen Satz der Franzosen.
Es lohnt sich aber auch, Italienisch zu lernen, nicht bloß wegen der Vorzüge der Sprache und der Genüsse, die sie erschließt, sondern weil jedes, auch das geringste Bruchstück schon praktischen Gewinn für den Reisenden abwirft, mehr als bei irgendeiner andern Sprache. Wer gebrochen Deutsch spricht, wird in Deutschland ausgelacht, wer einen einzigen französischen Fehler begeht, in Frankreich gemieden, wer das Englische nicht gut spricht, in England verachtet; in Italien dagegen heißt es, wenn einer auch nur drei Worte zustande bringt: «Sie sind ja ein geborener Italiener.» Meine italienische Sprachkenntnis verhält sich zufällig zu meiner französischen wie 1,001 zu dreißig; dennoch bin ich keines freundlichen Empfanges in Paris gewärtig, in Italien bin ich dessen sicher. Denn der Franzose bemerkt bloß die Sprachmängel, der Italiener verdankt die wenigen richtigen Worte, ja schon den bloßen Willen zum Italienischsprechen, wie eine Huldigung, dem italienischen Volke dargebracht. Eine ähnliche Erkenntlichkeit für stammelnde Sprachbemühungen habe ich anderswo nur noch in schwedischen Landen gefunden.
Sich verständlich machen und andere verstehen ist nicht dasselbe; wenigstens ist das letztere schwieriger als das erstere. Doch wird das Verstehen in Italien mehr und mehr erleichtert durch das rasch zunehmende Vordringen der gemeinsamen Buchsprache in das Gebiet der lokalen Dialekte; es kommt in den Städten kaum mehr vor, daß einem Fremden im Dialekt geantwortet würde. Durch die Klarheit der Aussprache ist ferner das Verständnis der gesprochenen Rede beinahe so leicht wie das Verständnis eines geschriebenen Satzes. Also nicht warten, bis man Zeit findet, einmal das Italienische gründlich zu lernen, was doch nie geschieht; sondern sich drei Tage vor der Abreise eine Grammatik kaufen und ein bißchen hineinblicken. Ich sage eine Grammatik, nicht ein Wörterbuch oder eine Chrestomathie oder einen Umgangssprachkatechismus; denn das Verständnis einer lebendigen Sprache hängt in erster Linie von der Kenntnis der Adverbien, Präpositionen und Konjunktionen ab, in zweiter Linie von der Kenntnis der Hilfszeitwörter und Zeitwörter, nicht von der Summe der Hauptwörter. Tausende von Hauptwörtern ergeben doch nur eine Zeichendeuterei, die logischen Abstraktionen dagegen ermöglichen ein Gespräch; die Hauptwörter fliegen dann von selbst herbei wie die Stare auf einen Pappelbaum. Darum nützt das grammatische Studium von wenigen Stunden mehr als wiederholte Reisen. Jeder geistesgewandte Mensch und der Italiener ist ja geistesgewandt vermag aus dem Zusammenhang der Rede die Hauptwörter, die dem Fremden fehlen, zu ersetzen oder zu korrigieren, nicht aber die kleinen logischen Satzpartikeln; erstens weil ihm die letztern selbstverständlich vorkommen, zweitens weil Irrtümer in denselben einen unlogischen Unsinn erzeugen, angesichts dessen der beste Wille zum Mitdenken scheitert.