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Eindrücke klären sich, indem ein Teil sich verflüchtigt, ein anderer sich zu bleibendem Besitz verdichtet. Je mehr ich nun an die Aufführung des ersten Aktes von Arnold Otts «Karl dem Kühnen» in Basel zurückdenke und je mehr Tage sich dazwischenlegen, um so sicherer urteile ich: da haben wir einen bedeutenden Anfang eines gewichtigen Werkes, den ersten Bogenschwung einer großen Linie.
Der Stoff ‹Karl der Kühne› kann wie der ihm verwandte Waldmannstoff von verschiedenen Seiten, mithin in verschiedenem Stil angegriffen werden. Berechtigt sind sie alle; es kommt nur darauf an, daß ein ganzer Mann es ganz tue. Ott hat nun den Stil des nationalen Festspiels gewählt, das heißt, die Voraussetzung zugrunde gelegt, daß nicht ausschließlich eine literarische Auslese, sondern ein ganzes Volk seinen Hörerkreis bildet, also ein Publikum, welches neben der poetischen noch eine sachliche Teilnahme an den Vorgängen verspürt. Diese Voraussetzung bedingt größte Einfachheit und Übersichtlichkeit in der Führung der Handlung, scharfe Rustikazeichnung, schroffe Verteilung von Licht und Schatten, was wiederum das Verlassen der verwickelten dramaturgischen Regeln zugunsten einer gedrängteren Gruppierung zu wenigen Gesamtszenen zur Folge hat. ‹Freskostil›, dieses beliebte Schlagwort trifft hier durchaus zu.
Die Wahl gerade dieser Behandlung war in unserem Falle eine glückliche. Einerseits im Hinblicke auf die Art des Verfassers, welcher innerhalb des eigentlichen Kunstbühnendramas sich gebundener an Regeln, Vorbilder und theatralische Gedächtnisbilder zeigt, als mir ersprießlich scheint. Er bedarf neuer, breiterer Wege, um nicht zu vorsichtig den Spuren zu folgen, um sich frei nach seiner Eigenart zu bewegen. Anderseits in Hinsicht auf den Stoff. Denn ein Stoff von entscheidend historischem Inhalt kann kaum anders als mit Ausnahmsmitteln, ich meine mit Beseitigung der dramaturgischen Systematik, mit breiterem Strich und loserem Gefüge erschöpft werden. Nicht Shakespeares Römerdramen, sondern Schillers «Wilhelm Tell» ist hiefür vorbildlich. Denn außer der Charakteristik verlangen wir bei großen Begebenheiten noch einen besonderen Nimbus, um ohne Rest befriedigt zu werden. ‹Karl der Kühne› oder ‹Waldmann› es kommt auf dasselbe heraus ist nun solch ein entscheidend historischer Stoff. Er bezeichnet den Höhepunkt der schweizerischen Nation, den Punkt, von wo die Kraft des Staates am stärksten und freudigsten empfunden wird. Zum Tellenstoff verhält sich der Stoff ‹Karl der Kühne› und ‹Waldmann› wie der Mann zum Jüngling. Wenn daher der richtige Verfasser diesen Stoff in die Hände bekommt, so kann aus ihm ein nationales Stück, ein Seitenstück zum «Tell» gedeihen.
Und so kühn die Hoffnung scheint, nach der Probe von Basel ist sie erlaubt: die Hoffnung, daß Ott dieser richtige Verfasser sei.
Sein Werk besitzt vor allem die nötige Feierlichkeit; in der Feierlichkeit Klarheit und in der Klarheit Spannung. Am Anfang wird uns der höchste Gipfel der Macht eindringlich vorgeführt, damit später die Tiefe des Sturzes um so deutlicher ermessen werde. Die Vorführung dieser Macht wieder geschieht nicht durch Berichte, sondern durch den Augenschein eines imposanten Festes. Gleich zu Beginn kommt der Gegensatz, mithin die Spannung zur Geltung, durch Herbeiziehung der schweizerischen Gesandtschaft, unter welche Ott mit echt dramatischem Instinkt Hans Waldmann gemischt hat, wodurch er zugleich eine wirksame Charakterparallele gewann: auf beiden Seiten ein Exempel schrankenloser persönlicher Willkür, der Hybris, wie es die Griechen nannten, im Streit mit dem gesunden, im Maße starken Volksgeist. Denn ob auch die Festbühne dem Verfasser vor Augen schwebe, so verzichtet er darum nicht auf Charakteristik. Im Gegenteil, sie ist geradezu meisterhaft. Namentlich in der Zeichnung Waldmanns und Karls des Kühnen, welch letzterer durch Hinzudichtung eines phantastisch-idealen Strebens unserer Sympathie näher empfohlen wird. Wie bereits bemerkt, wickelt sich durch den Streit der Schweizer Gesandtschaft mit Karl die Handlung ungemein spannend ab; und in dem Augenblick, da der Streit mühsam durch Mittelpersonen beschwichtigt und vertagt wird, erscheint ein Bote, der die Enthauptung Hagenbachs meldet, womit der Konflikt erst recht entbrennt. Daß die Sprache Otts eine zutreffende, nämlich knappe und mannhafte ist, das braucht nach dem Altdorfer Festspiel nicht erst ausdrückliche Versicherung.
Jeder Stil bedeutet eine Umrechnung aus der Wirklichkeit in die Wahrheit; jeder bedingt einige Einbußen und verlangt einige Zugeständnisse der Phantasie. Mit Wahrscheinlichkeit ist noch kein großes Kunstwerk geschaffen und mit dem Verstande allein noch keines verstanden worden. Kein Zweifel, daß die Handlung in der Wirklichkeit unmöglich so verlaufen konnte, wie sie Ott verlaufen läßt. Tyrannen perorieren und brüllen nicht, sondern beschränken sich auf wenige Zischlaute und Knurrlaute; und solche Schnödigkeiten, wie die Schweizer Gesandten dem stolzen Herzog Karl bieten, hätte selbst der sanfteste Heinrich ja keine halbe Minute geduldet, nicht einmal die heilige Agnes. Gewiß waren Gesandte unverletzlich, aber Fürsten auf der Höhe der Macht sind auch unbeschimpflich; wenigstens schimpft man sie in der Wirklichkeit nicht halbe Stunden lang vor versammeltem Volke an. Zum wenigsten zieht sich eine Hoheit in solchem Fall zurück und überläßt das weitere ihren Höflingen. Also die Wahrscheinlichkeit hätte da manches dareinzureden, wenn wir sie reden ließen. Allein man nenne mir doch einmal ein Mittel, in der Poesie einen Charakter zu entwickeln, ohne ihn ausreden zu lassen, oder im Drama Kraft zu zeigen, außer in der Weise, daß sie in Worte umgesetzt wird. Man hat es ja in Deutschland im Zeitalter der famosen Bühnentechnik versucht; man hat zum Zwecke der Wahrscheinlichkeit und der Handlungsknappheit einen eigenen dramatischen Telegrammstil erfunden. Und die Folge davon? Größere Wahrscheinlichkeit, aber poetische Nichtswürdigkeit. Nein, Ott hat recht, die Leute reden zu lassen, und nicht das reden zu lassen, was sie in Wirklichkeit in ähnlichen Fällen möchten geredet haben, sondern das, was wir verlangen, daß sie gemäß ihrem Charakter reden. Im Festspiel wäre das Gegenteil ein Fehler.
Mehr als jeder andere Dichter hat der Dramatiker und mehr als jeder andere Dramatiker der Volksspieldichter das Bewußtsein nötig, nicht auf einem stummen Klavier zu spielen, sondern einen Resonanzboden unter den Händen zu haben. Wenn Ott den ersten Akt seines Werkes gesondert vorführte, ohne die Vollendung des Ganzen abzuwarten, so geschah es ohne Zweifel, um die Wirkung zu erproben und aus dem freundlichen Widerhall neuen Mut und frische Kraft zur Vollendung des langatmigen, schwierigen und nervenverzehrenden Werkes zu schöpfen. Diese Absicht wurde in Basel erreicht; es wurde dem Verfasser bewiesen, daß er auf dem rechten Wege ist, auf welchem ihn das Publikum mit freudiger Hoffnung begleitet; die Kritik hat dem Spruche des Publikums bloß hinzuzufügen, daß sie auf Grund dieses ersten Aktes das Höchste erwartet.