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Als einen pfiffigen Gesellen, welcher genau die Noten pfeift, die der ‹Geist der Zeit› bläst, fasse ich Hermann Bahr auf. Der Geist der Zeit bläst aber bekanntlich in Deutschland seit einem Jahrtausend französisch; wer von Paris kommt, ist allemal modern. Das haben die Realisten keineswegs erfunden, Lindau und Blumenthal taten dasselbe und vor ihnen Freytag, Laube, Gutzkow und Heine, bis zu Gottsched und noch viel weiter hinauf. Hermann Bahr nun hat richtig gewittert, daß in dem neuen Deutschen Reich wieder einmal Französisch Trumpf ist, daß folglich alles, was in Paris gekocht wird, in Berlin über kurz oder lang als schmackhaft wird erfunden werden. Da nun Sardou gottlob! als überwunden gelten darf, da ferner Zola einer ganzen Partei angehört, hat er, um eine Spezialität zu gewinnen, ein interessantes Mittel angewendet: er serviert uns nämlich einen Heringssalat aus allen möglichen französischen Autoren miteinander. Sein Roman «Die gute Schule», in welchem der naive Leser den brünstigen Schwulst eines naturwüchsigen Barbaren erblicken möchte, ist tatsächlich ein abgefeimt ausgeklügeltes französisches Potpourri in gebrannter Mehlsauce. Da werden die verschiedensten französischen Verfasser so getreu nachgeäfft, daß man beinahe Seite für Seite nachzuweisen vermag, wen Hermann Bahr gerade diesmal kopiert. Bourget, Daudet, Zola, Baudelaire, ja sogar, wenn ich mich nicht sehr täusche, Charles Lecocq werden in diese Olla Potrida verwurstet. Wenns nur französisch ist, so müssens die Deutschen fressen. Nun, diese Zumutung ist ja auch schon dagewesen. Was aber schwerlich jemals dagewesen, ist die Verwegenheit, den deutschen Satzbau zu verfranzen, wie es dieser Herr tut. Dieser deutsche Schriftsteller hofft in Deutschland durchzudringen, indem er sich stellt, als könne er vor lauter Französisch nicht einmal mehr Deutsch. Deutschland mag sich für die Schmeichelei bedanken. Ich aber möchte eine Wette eingehen, daß Hermann Bahr noch schlechter Französisch spricht und schreibt als Deutsch. Denn wer auch nur halbwegs Französisch versteht, lernt aus dem Französischen das sprachliche Schamgefühl, ich meine das Gefühl der Achtung für die Muttersprache. Ein Franzose, der so liebenswürdig gegen den Geist und die Grammatik der französischen Sprache daherschlingelte, wie es Hermann Bahr gegen die deutsche Sprache unternimmt, würde in Frankreich gar nicht zum Drucke und Verlag gelangen. Wenn man aber uns Schweizern hinfort von germanischem Geist in der Literatur redet, so bitten wir höflich, uns diesen Geist gefälligst erst zu zeigen. Wo wir hinblicken, in diesem wie in jenem Lager, stoßen wir auf die Verwerfung der nationalen Würde, auf Vergötterung des Fremden. Falls wir nun mit des Teufels Gewalt von Berlin aus französisch gemacht werden sollen, so erlauben wir uns, zu bemerken, daß wir die Franzosen echter und billiger auf der westlichen Grenze haben, und in dem Wettkampf um Verfranzung wollten wir, wenn es darauf ankäme, den Berlinern um einige Generationen voran sein. Ist es daher so gemeint, daß die deutsche Literatur nur ein Abklatsch der französischen sein solle, dann bleibt uns nichts anders übrig, als über Hals und Kopf Französisch zu treiben, um Deutsch zu verstehn.
In dem Affendienste, welchen Hermann Bahr in globetrotterischer Eitelkeit dem letzten Franzosen weiht, sehe ich das Schmähliche der «Guten Schule»; es liegt etwas von dem Großmannsbewußtsein eines Commis voyageur in diesem Ehrgeiz, der staunenden Welt auszuposaunen, daß er in Paris gewesen ist, und eine tiefere Stufe des Franzosendienstes, als sie Hermann Bahr bezeichnet, läßt sich kaum denken; mit ihm verglichen erscheint Gottsched als ein teutonischer Recke. Was das übrige betrifft, den Schwulst und die Brunst des Stils, welche hier ans Fabelhafte grenzen, so gehört das zu den Mätzchen der modernen deutschen Schule. Das Mätzchen ist übrigens in der Literaturgeschichte schon oft dagewesen: man bläst sich auf, um groß zu erscheinen, man gebärdet sich burschikos, in der Hoffnung, genial zu heißen. Bei alledem darf ja nicht geleugnet werden, daß die «Gute Schule» ein psychologisches Problem mit künstlerischem Willen und mit Talent behandelt und daß Hermann Bahr überhaupt ein begabter Springinsfeld ist.
Nun könnte ich mir ja keine angenehmere Aufgabe denken, als die Schreihälse der Modernität in Unfrieden zu lassen, um mich an ihren Gegnern zu ergötzen, wenn dort nur etwas Ergötzliches zu holen wäre! Da ist zum Beispiel «Adams Söhne», von dem erlauchten Wilbrandt, dem Exdirektor der Wiener Burgbühne, dem Dichter von «Arria und Messalina»! Das Buch, bei Hertz, dem Verleger Gottfried Kellers, erschienen, stellt ohne Frage den höchsten Durchschnitt der idealistischen Romankunst vor, und an sehnsüchtigem Willen, etwas Erquickliches daran zu finden, fehlt es mir wahrlich nicht. Allein wenn ich nun diese mädchenbildschönen Jünglinge erblicke, welche unter Waldbäumen schlafen und vor lauter Idealität hungern, und diese loyalen deutschen Reichsherkulesse aus der Modezeitung, wenn ich diesen unsicheren Stil der Erzählung und der Sprache gewahre, wo hübsche dichterische Züge mit theatralischem Pathos und mit schablonenmäßiger Romanfabrikmache kunterbunt durcheinander gewürfelt sind, so widerfährt mir das Schlimmste, was einem Leser widerfahren kann: ich vermag die ganze anspruchsvolle Geschichte mitsamt dem Verfasser nicht ernst zu nehmen, ich ertappe mich auf einem Gefühl, das aus Bedauern über die Unkunst eines schönen Talents und aus Heiterkeit gemischt ist. Nein, mit diesem schönlockigen, parfümierten Baritonidealismus ist es Matthäi am letzten, diesem ist denn doch der Realismus über. Ein Buch wie «Adams Söhne» kommt einer mit Ehren verlorenen Schlacht gleich, welche zwar Achtung für den Geschlagenen erzwingt, nichtsdestoweniger das Feld dem Gegner räumt. Verloren aber hat nicht bloß der Verfasser, sondern auch die Sache des alten Idealismus. Wilbrandts Roman besitzt alle Mängel der heyseschen Darstellung, ohne deren Vorzüge. Die eigenen Tugenden, die Wilbrandt beibringt, zum Beispiel der Schwung des Dialogs und der Glanz der Bilder, gucken zudringlich aus dem Rahmen der prosaischen Erzählung heraus und erweisen sich an dieser Stelle als ebenso viele Fehler gegen die Kunst. Ich fürchte, «Adams Söhne» werden sogar dem Kredit der landläufigen idealistischen Dramatik noch mehr Abbruch tun, da man hier gar deutlich inne wird, wo Wilbrandt das tragische Pathos sucht, nämlich in schallenden Hohlräumen.
Überhaupt, wenn man davon absieht, wofür die Realisten kämpfen, um zu betrachten, wogegen sie Krieg führen, so geht es einem wie mit den Maulwürfen: man weiß nicht recht, ob man sie zum schädlichen oder zum nützlichen Geziefer zählen soll. Sie zerstören zwar den Garten, aber vertilgen auch in Massen die Engerlinge, welche die jungen Keime abnagen. Vor Anfang der achtziger Jahre herrschte in Deutschland ein literarhistorisches Pfaffentum, welches einfach nichts Neues aufkommen ließ. Was sich regte, wurde, wenn es nicht von einem ästhetischen Papste oder einem einflußreichen Verleger protegiert war, entweder verhöhnt oder totgeschwiegen, denn eine Kritik gab es nicht, trotz der Unzahl von Zeitschriften. So wurde die ganze junge Generation in die Opposition getrieben, es sei denn, daß einer einen sehr starken und vornehmen Charakter gehabt hätte, um trotz den persönlichen Unbilden ruhig seinen Weg zu gehen. Vornehme und starke Charaktere sind jedoch selten, und so entbrannte der Krieg, indem alle Unzufriedenen sich um die erste beste Fahne sammelten, welche Erfolg versprach, und diese Fahne lieferte Frankreich mit dem Realismus.
Unter diejenigen, welche ursprünglich die realistische Fahne in Deutschland zuerst erhoben, gehören die Gebrüder Hart, Julius und Heinrich. Sie haben die ersten Gefechte geliefert, die ersten Angriffe ausgehalten und erinnern sich dessen mit einem gewissen Selbstbewußtsein. Ob mit Recht, wage ich zu bezweifeln; denn sie haben die nämliche Fahne seither ins Korn geworfen und schleppen als Andenken der Kriegsjahre noch einen Anhang mit sich, der ihnen nicht eben wohl ansteht und dessen sie sich heute, wie ich glaube, von Herzen gern entledigten, wenn sie es mit Anstand könnten. Die Gebrüder Hart traten als Kämpfer für die Modernität auf, während sie im Grunde nichts waren als Unzufriedene, in welchen ein Talent keimte, das unter obwaltenden Umständen unmöglich zur Geltung gelangen konnte. Die Hauptsache ist, daß sie wirklich Talent besitzen, und zwar jeder ein hervorragendes. Seit ich von Heinrich Hart das «Lied der Menschheit» gelesen, halte ich diesen Schriftsteller für einen der begabtesten, den Deutschland gegenwärtig besitzt, denn in dem «Liede der Menschheit» zeigt sich echte, unleugbare Kraft und Kunst. Ich wüßte überhaupt nicht, wer ihn an epischem Talent erreichte. Als Theoretiker wirkt Heinrich Hart namentlich zugunsten des von Vischer verpönten Versepos. Wer aber heutzutage den Vers in Schutz nimmt, ist alles andere eher als ein Realist. Kein Wunder, wenn die einstigen Vorkämpfer des Realismus gegenwärtig mit den Realisten im Krieg liegen. Julius, ein ansehnlicher Lyriker, kämpft mit Mut und Eifer nicht bloß für den verpönten Vers, sondern auch für die verhöhnte Phantasie. Überdies hat er die Poetik des verstorbenen Scherer besonders aufs Korn genommen, was einer Erlösung gleichkommt, denn Scherer mit seiner Schule regierte mit ansehnlicher Süffisanz und Anmaßung. Julius Harts Abhandlungen lassen alles, was von naturalistischer Seite vorgebracht wird, weit hinter sich; wie denn überhaupt die Gebrüder Hart seit ihrer Häutung nicht die «Moderne», sondern die Zukunft vertreten. Zur Verfechtung ihres besondern Standpunktes haben sie ein «Kritisches Jahrbuch» gegründet, das ich dem Leser warm empfehlen möchte. Außer den Herausgebern zählen Männer wie Ferdinand Avenarius und Heinrich Bulthaupt zu Mitarbeitern, wenigstens grundsätzlich, denn Beiträge dieser Herren sind mir noch nicht zu Gesicht gekommen. Man muß freilich bei der Lektüre immer auf seiner Hut bleiben, denn da schreibt Krethi und Plethi mit hinein. Während nämlich anderswo eine Redaktion Einheitlichkeit anstrebt, Beiträge, welche den Grundgedanken widersprechen, ausschließend, nehmen die Gebrüder Hart Kraut und Rüben auf, fahren dagegen ihren Mitarbeitern gelegentlich mitten im Text durch munkelnde Anmerkungen unsanft übers Maul.
Das diesjährige Heft der «Kritischen Jahrbücher» erhält einen hohen Wert durch einen Aufsatz von Julius Hart, betitelt «Der Kampf um die Form in der zeitgenössischen Dichtung», worin einmal die Gegengründe gegen die naturalistische Befürwortung der Prosaform mit Fleiß und Einsicht auf dem Wege der ästhetischen Untersuchung dargelegt werden. Solch eine Lektüre ist eine wahre Erquickung, und ich kann mirs nicht versagen, wenigstens einen Satz zur Probe mitzuteilen:
«Um die Sinnlichkeit und Bildlichkeit der Verssprache zu erreichen, muß sie nochmal so inhaltreich sein wie diese; was in einem einzigen Verse der Dichter konzentriert, dazu bedarf sie vielleicht einer halben Seite. Ihr droht daher immer die Gefahr der Weitschweifigkeit und der Überladung, und gerade die von stärkstem poetischem Geiste erfüllten Prosadichtungen zeugen dafür.»
Nicht jede Behauptung des Verfassers ist stichfest, und eine gewisse Überschätzung des Vokalklanges der Worte erweckt Unbehagen; allein es bleibt eine gediegene Abhandlung eines denkenden und sachverständigen Mannes über Poesie, wie man sie heutzutage selten mehr findet. Die Gebrüder Hart gelten mir neben Heinrich Bulthaupt für die besten Ratgeber in poetischen Dingen, jene für Epos und Lyrik, dieser für das Drama; alle drei haben mit den alten Schablonen gebrochen, nicht um eine neue Poesie auszutrompeten, sondern um die ewige, stets die nämliche bleibende Poesie besser zu ergründen. «Die bloße Autorität der Ibsen, Zola, Sardou und Spielhagen schrumpft gegen die der Homer, Firdusi, Shakespeare und so weiter doch wohl zu einem wesenlosen Nichts zusammen», schreibt Julius Hart. Das meinen wir auch!