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Aus einem geplanten Werk
Wenn jemand Ursache hat, sich gegen den Eroberungszug der angeblich französischen ‹Bühnentechnik› mit Händen und Füßen zu wehren, so ist es wahrlich die deutsche Ästhetik, Dramaturgie und Kritik, deren drittes Wort Shakespeare, Schiller und Goethe lautet, welche so ziemlich das Gegenteil von dem anstrebten, was die Bühnentechnik begehrt, nämlich ein tiefsinniges, originales, in eigenen Gesetzen schwimmendes Drama. Man dürfte also billigerweise erwarten, daß in Deutschland die Opposition gegen die Bühnentechnik noch viel offener und kühner zutage trete als in Frankreich, um so mehr, als alle deutsche Dramaturgie auf Lessing zurückführt. Nachdem Lessing die edelste Form des französischen Dramas abgewiesen, sollte man seinen Nachfolgern soviel Kraft zutrauen, sich der gemeinsten Gattung desselben zu erwehren, oder wenn nicht die Kraft, so doch den Willen, oder wenn nicht den Willen, so doch den Wunsch. Das Allermindeste, was wir begehren können, ist jedenfalls eine wohlwollende Neutralität.
Statt dessen singen unsere Weisen den Handwerkerzunftgesang und den Bühnenkatechismus und das Hohelied vom Regisseur mit einem Eifer, wie ihn Frankreich selbst nicht unter den Orthodoxesten der Kulissengemeinde kennt, und, weit entfernt, den Dichter in seinem ehrlichen Kampf gegen kunstwidrige Zumutungen der Bühne zu unterstützen, springt die dramaturgische Kritik wie ein ungetreuer Hund auf des Gegners Seite, um den eignen Herrn und Meister anzubellen. Jedermann bekommt die weiche Zunge der Dramaturgie zu fühlen; der geringste Statist, der ungebildetste Regisseur und der dümmste Zuschauer wird mit Ehrfurcht umstrichen, nur allein dem Dichter weist man die Zähne.
Zum Publikum sagt man:
Es würde ungemein interessant sein, wenn Sie die Güte hätten, uns Ihre Bedürfnisse der Gegenwart und Ihre Anforderungen unserer Zeit mitzuteilen. Halten Sie ja nicht damit zurück, und seien Sie nicht zu bescheiden, das Theater ist dazu da, Ihnen zu willfahren. Beiläufig haben wir die Ehre, Ihnen mitzuteilen, daß der Geschmack des Publikums im ganzen und großen unfehlbar ist.
Zu den Theaterdirektoren spricht man:
Nun, wie sind Sie mit der Lage zufrieden? Ziehn die Stücke? Geht das Geschäft? Meinen Sie nicht vielleicht, man sollte das Drama noch etwas kürzer fassen und die Diktion noch mehr zusammendrängen? Handlung, meine Herrn, Handlung, Handlung! Und nehmen Sie ja um Gotteswillen nur keine Rücksicht auf den Dichter! Sie müssen sich völlig in den Gedanken einleben, daß Sie ganz allein den Wünschen des Publikums und den Bedürfnissen Ihres Handwerks zu gehorchen haben. Ihr Handwerk nämlich, wie Sie wissen, ist eine Hochschule des Menschengeschlechts.
Zu den Schauspielern:
Haben Sie gute Abgänge? Gibt man Ihnen auch anständige Rollen? Lassen Sie sich nur durchaus nichts gefallen, und weisen Sie unbarmherzig jedes Stück ab, das Ihnen nicht erlaubt, Ihre Vorzüge herauszukehren. Sie haben das Recht dazu, denn die Mimik ist in gewisser Beziehung ein Gottesdienst der Poesie. Sie sind Priester. Das muß Ihnen ein beneidenswertes Selbstgefühl geben. Vielleicht ist Ihnen unbekannt, daß Sie den Geheimschlüssel zum Verständnis der großen Tragiker in Ihrem Busen tragen. Und bitte tun Sie mir den Gefallen, Sie würden damit sich ein unendliches Verdienst erwerben , nehmen Sie sich der Dichter ein wenig an! Exerzieren Sie mir dieselben, aber scharf; denn die verstehn vom Drama soviel wie die Kuh vom Sonntag.
Zum Dichter:
Das sind ja Jamben! Wie oft habe ich Ihnen nicht schon gesagt, daß all Ihre Verse für das Theater der reinste Plunder sind, daß Monologe nicht auf die Bühne gehören und daß ein Drama nicht länger als zwei Stunden dauern darf! Schweigen Sie! Alles, was Sie sagen wollen, ist Unsinn; übrigens täten Sie wohl daran, wenn Sie sich ein wenig mehr um das Publikum als um die Personen Ihrer Einbildung kümmern wollten. Studieren Sie die Franzosen; das sind Kerle; die verstehens! Hier sind die Statuten der Bühne; lernen Sie dieselben auswendig, und enthalten Sie sich jeder Bemerkung, Sie haben ganz einfach zu tun, was Ihnen befohlen wird.
Wenn Börsenbarone im roten Jagdfrack diese Sprache führten, so könnten wir es entschuldigen. Aber so redet und denkt heutzutage unsere gesamte dramatische Weisheit und Bildung. Was soll das bedeuten? Wollen unsre hochgelehrten Shakespearologen wirklich den dramatischen Dichter zum Buchhalter der Theaterkasse herabwürdigen? Es ist nicht so schlimm gemeint; im Gegenteil: Wenn dasjenige, was die Herren predigen, Wahrheit würde, sie würden nicht übel erschrecken. Wie sollen wir daher die Handwerksbegeisterung der Herren Dramagogen erklären?
Zunächst handelt es sich einfach darum, wieder einmal den eignen Scharfsinn leuchten zu lassen, für welchen nun einmal der Deutsche hauptsächlich das Drama zum Opfer ausersehen hat. Die alten dramaturgischen Streitfragen über die metaphysischen Grundlagen der Tragödie, die Philosopheme über Schuld und Sühne und dergleichen sind nachgerade zu Boden geredet. Nun, in der höchsten Not, kommt die Handwerksterminologie und gießt neues Öl in die Lampe derjenigen, welche für ihre Gesundheit durchaus nötig haben, über Drama und Theater zu lehren. Derjenigen aber sind alle.
Dann hat die Neuheit und die derbgemeine Keckheit der Handwerksausdrücke offenbar für viele einen gewissen Reiz.
Die Hauptsache bleibt immer das Vergnügen, den dramatischen Dichter zu maßregeln. Eine echt schulmeisterliche Wollust, die nachgerade ein nationales Bedürfnis geworden zu sein scheint, neben der Ophelienmystik und Gretchensophie. Nun hat freilich der Dramatiker niemals über Mangel an Lehrmeistern geklagt; von Aristoteles bis Pleiteles war jederzeit alle Welt gewissenhaft bemüht, ihm die Hand zu führen; und wenn Daumenschrauben und spanische Stiefel dem Drama heilsam wären, wir könnten unsere Meisterwerke gar nicht mehr übersehen. Sind doch die Fußangeln und Gliederpressen so künstlich in jedem Akt angebracht, daß der Weg zur Katastrophe nicht allein für den Helden, sondern auch für den Autor zu einer Passion wird. Das scheint indessen noch nicht zu genügen; die vereinten Kräfte des Regisseurs, der Schauspieler und der Zuschauer sollen nun ebenfalls als Dampfmotoren gegen den Dichter benützt werden. Ich weiß es ja, ich bin fest davon überzeugt, Sie meinens gut, herzlich gut, Sie wollen uns nur helfen. Aber bitte, um Gotteswillen, helfen Sie uns nicht!