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Von jeher ist mir folgendes kleine Kuriosum in unserer dramatischen Literatur aufgefallen. Während auf der Bühne und leider auch im Text der Titelheld sich die haarsträubendsten Vorrechte herausnimmt, als armer Ritter vor versammeltem Hofe sich in die Brust wirft, Könige anschreit und den vornehmsten Damen mit stolzer Gebärde den Rücken kehrt, beliebt den Verfassern gleichzeitig das harmlose gothaische Dominospiel, im Personenverzeichnis die Menschen nach feudalen Grundsätzen aufmarschieren zu lassen; hoch oben den König (oder Scheich oder Häuptling), selbst wenn er auch nur zwei Worte im Stück zu sagen hat, dann seine Gemahlin, hiernach ein paar halbstumme Herzöge oder Generäle, während der Held und die Heldin, die sich gleich darauf so unleidlich machen werden, irgendwo in der Mitte Versteckens spielen.
Es scheint, daß es unsern Poeten im stillen Kämmerlein Vergnügen macht, zur Abwechslung Zeremonienmeister zu spielen. Oder handelt es sich vielleicht um ein Rätsel? Will das Personenverzeichnis sagen: eine silberne Taschenuhr demjenigen, der die wichtigen Personen aus den Figuranten herausfindet?
Nun hatte ja diese Anordnung einen Sinn bei dem aristokratischen Shakespeare, der einen Herrn von Frankreich und ein Fräulein von England kennt, sie war ferner vollständig am Platze bei den ‹Staatsaktionen‹; heutzutage jedoch muß diese antiquarische Kasteneinrichtung, diese Rang- und Standesetikette einfach kindisch heißen. Wen in aller Welt kümmert es denn, ob in einem angekündigten Drama hoffähige Leute aufmarschieren werden oder nicht, und wie viele? Wer fühlt sich verletzt, wenn man einen Apotheker, der die Hauptrolle hat, vor einem Hofapotheker anführt, der bloß sechs Worte spricht? Was den Leser oder Zuschauer allenfalls interessiert, ist, zu wissen, welche von den Personen er zum voraus besonders ins Gedächtnis fassen soll, mit andern Worten, welchen von ihnen vom Verfasser die Hauptrollen zugedacht sind. Eine vernünftige Ordnung des Personenverzeichnisses müßte demnach lauten:
I. Hauptpersonen
Je nach ihrer dramatischen Bedeutung über- und untereinandergestellt, aber Held und Heldin obenan.
II. Nebenpersonen
§§§ III. Beiläufige Figuren (und Volk)
Ich sagte: was den Leser und Zuschauer allenfalls interessiert. Nämlich, es ist mir noch gar nicht ausgemacht, daß das Publikum überhaupt mathematisch genau zu wissen begehrt, wie viele und was für Personen in dem folgenden Stücke auftreten werden. Das erstere geht doch bloß den Regisseur und das letztere bloß die Schauspieler an, die sich natürlich im Theaterzettel namentlich aufgeführt sehen wollen. Allein der Theaterzettel ist eins, das Drama ein anderes, und zwar, wie ich denke, ein höheres. Der Dichter aber hat sich nicht der Eitelkeit von Fräulein Müller-Schröter anzubequemen. Der Brauch, jedem Drama einen Personenpolizeizettel beizugeben, stammt aus einem bereits etwas fernliegenden Jahrzehnt, nämlich aus der Zeit des Aristides, und hatte damals vortreffliche Gründe, religiöse und finanzielle. Was haben hingegen wir für Gründe? Ich sehe nur einen einzigen, nämlich Gedankenlosigkeit. Mit derselben Berechtigung könnten wir über unsere Novellen hinter den Titel setzen:
Landschaftsverzeichnis: ein Eichwald, mit Kiefern gemischt, eine Villa in Rokokostil, ein Dorf, ein Eisenbahnwagen.
Oder noch empfehlenswerter:
Toilettenverzeichnis: eine Spitzenmantille, eine Plüschjacke, ein Perlenhalsband, ein Zylinderhut und so weiter.
Dieses Verzeichnis hätte doch wenigstens den Vorzug, die Leserinnen zu fesseln. Aber ja sorgfältig darauf achtgeben, daß die seidenen Kleider vor den wollenen aufmarschieren!
«Aber die Charaktere haben ja doch im Drama eine ganz andere Bedeutung als » Einverstanden. Aber eine Person ist noch kein Charakter und ein König im Krönungsmantel, ein Ritter unter dem Helmbusch, der nur sechs Worte spricht, noch keine Person. Und dann, bei dieser Gelegenheit, beiläufig eine leise Vermutung und eine bescheidene Frage. Ist nicht vielleicht das Personenverzeichnis mit schuld an dem ausschließlichen Nachspüren nach den Charakteren in einem Drama? Und ist man so sicher, daß das gänzliche Aufgehen der dramatischen Empfänglichkeit in dem anthropologischen Interesse einen Nettogewinn bedeutet?