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Der Finger Gottes

Die Ansichten der Gelehrten über die Ursachen der Erdbeben gehen bekanntlich sehr auseinander. Ein Leitartikel, welchen die ultramontane «Gazette du Valais» an der Spitze ihrer heutigen Nummer veröffentlicht, löst das Rätsel vollständig. Die Ursache der Erdbeben, wie überhaupt aller größern tellurischen Katastrophen, ist   der Finger Gottes. Von Zeit zu Zeit bewegt Gott seinen Finger, um die sündigen Menschen zu strafen, und siehe da, es gibt ein großes Unglück. «Die Weltgeschichte», schreibt das Walliser Blatt, «ist voll frappanter Beispiele dieser Art.» Als solche weltgeschichtliche Beispiele werden vom Blatte zitiert: die Sündflut, die Ausschwefelung von Sodom und Gomorrha, die zehn ägyptischen Plagen, der Fluch, der seit bald neunzehn Jahrhunderten auf dem jüdischen Volke lastet (Baron Rothschild und manche andere Israeliten befinden sich, glauben wir bei diesem Fluche sehr wohl, wohler als die meisten christlichen Proletarier), der Schlagfluß, der den Bischof Arius, Chef der arianischen Sekte, traf, die Erderschütterung in Konstantinopel am Tage nach der Verbannung des heiligen Chrysostomus und so weiter. «Und erst in der Neuzeit», fügt das Blatt bei, «wie zahlreich und handgreiflich sind da die Fälle dieser Art. Man lese nur einmal das Werk des Mönches Huguet ‹Terribles châtiments des révolutionnaires›, und man wird sich überzeugen, wie in allen großen Katastrophen der Neuzeit Gott seine Hand im Spiele hat.»

Wir haben gegen die Theorie der «Gazette du Valais» nichts einzuwenden; sie ist mindestens so plausibel als alle übrigen bisher ersonnenen Erdbebentheorien, und die ‹weltgeschichtlichen› Beispiele, mit denen sie belegt wird, sind allerdings konkludent. Etwas unvorsichtig war es aber doch von dem Wallis er Blatte, gerade in diesem Falle den Finger Gottes hervorzuziehen. Denn, wie männiglich weiß, war gerade bei diesem Erdbeben der größte Unglücksfall derjenige jener dreihundert Einwohner von Diano Marino, welche sich am Aschermittwoch aus lauter Frömmigkeit in der Kirche zum Gottesdienst versammelt hatten und unter deren Trümmern samt und sonders verschüttet wurden, während ihre gottlosern Mitbürger jetzt noch gesund herumspazieren. Freilich, der Priester fand Zeit, sich zu retten, und da sitzt offenbar, nach dem Urteil des geistlichen Leitartikels, der Finger Gottes.

Wir möchten dem unter dem Mantel der Frömmigkeit so frivolen Herrn einen Satz zu ernster Beherzigung empfehlen, den wir jüngst in der Tessiner «Libertà» lasen, in einer Zeitung also, deren Ultramontanismus von ebenso reinem Wasser ist als derjenige der «Gazette du Valais». «Auch wir», schrieb das Tessiner Blatt, «glauben an eine Gerechtigkeit Gottes; wir haben niemals an derselben gezweifelt, aber wir sind nicht minder überzeugt, daß es dem Menschen schlecht anstehe, die Gerechtigkeit Gottes kontrollieren zu wollen.»

Ein solcher Standpunkt ist gewiß anständiger und demütiger als derjenige der unverschämten Kreatur, die sich vermißt, dem lieben Gott von hinten in die Karten zu sehen.


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