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In seinem vorletzten Lebensjahr wurde einmal Gottfried Keller von einigen Fanatikern der Modernität mit der Zumutung heimgesucht, ein realistisches Glaubensbekenntnis zu beten, ansonst ihm Urfehde geschworen werde; der Zorn des Meisters über diese Unverschämtheit aber war so gewaltig, daß er sich mit dem Plane trug, dem Realismus eine gesalzene Satire zu widmen. Die unbesonnenen Anstifter rochen die Bescherung, und so eröffneten sie denn zuvorkommenderweise ein kritisches Geplänkel, in welchem der große Gottfried in zarten Andeutungen als ein beschränkter Bourgeois und Philister hingestellt wurde. Solche Diskante erschollen mitten in den Jubel der letztjährigen Geburtstagsfeier; den offenen Kampf verhinderte die Krankheit und der Tod des Meisters.
Wenn somit das Verhältnis der süddeutschen Realisten und ihres Anhanges zu Gottfried Keller ein klares, nämlich ein gespanntes war, so blieben wir in neugieriger Erwartung, wie die Berliner Realisten, welche plötzlich von Keller weg mit Sack und Pack zu Ibsen und Zola übergingen, ihre Frontveränderung rechtfertigen und ihre noch immer zur Schau getragene Verehrung für den Zürcher Meister in Einklang bringen würden. Einem einfachen Menschenverstande schien es nämlich unmöglich, einerseits einen Dichter, dessen hervorstechendste Eigenschaft die Phantasie, und zwar eine bis ans Märchenhafte grenzende Phantasie, gewesen ist, auf den Thron zu erheben und anderseits die Phantasie in der Dichtkunst grundsätzlich zu verdammen. Wir ahnten zwar wohl, daß die literarhistorische Gelehrsamkeit auch dieses Kunststück fertigbringen werde, waren aber immerhin begierig, die logischen Seiltänzersprünge kennenzulernen, mittelst dessen es einem gelingt, mit gespreizten Beinen den einen Fuß auf Zola und den andern auf Keller zu stellen.
Solange nun Keller lebte, blieb die Erklärung aus. Die ehemaligen Kellerenthusiasten predigten das Evangelium von Zola und Ibsen, stifteten ihre engherzige «Freie Bühne», griffen polemisch alle Grundlagen derjenigen Literatur an, zu welcher unter anderm auch Keller gehört, enthielten sich jedoch jeder Bemerkung, die eine Gesinnungsänderung gegenüber Keller offenbart hätte. Jetzt endlich, nach des Meisters Tode, findet die Auseinandersetzung statt, und zwar von Seiten des Allerberufensten: Otto Brahm. Ein guter Dank überlebt spätere Ereignisse; wir sollen und wollen daher nie vergessen, daß Otto Brahm einmal unsern Gottfried Keller den Deutschen mundgerecht erklärt und als den größten Meister der Gegenwart gepriesen hat; wir wollen ferner daran denken, daß es nach der Überläuferei der Schererschen Schule zur Sekte des ausländischen Realismus noch hätte schlimmer werden, daß sie nämlich ihren früheren Gott hätten anspucken können. Ich empfehle also Otto Brahm trotz dem widerwärtigen Schauspiel seines nachträglichen Abfalles und seiner ausländischen Reisläuferei dem Danke des schweizerischen Publikums für seine vergangenen Verdienste um Gottfried Kellers Würdigung und huldige der Ansicht, wir hätten die Anstandspflicht, diesen Herrn bei allem unsern Bedauern über seine neuesten Verirrungen bleibend ernst zu nehmen und durch jene Achtung auszuzeichnen, welche man früheren Verdiensten schuldet.
Die Gleichung, welche Otto Brahm ausgetiftelt hat, um Keller mit Zola unter einen Enthusiasmus unterzubringen, ist ebenso einfach wie verblüffend: Keller ist Vorläufer Zolas, der Apostel Johannes, der vor dem Christus einhergeht; die ganze Entwicklung Kellers zielt auf den Realismus hin, wobei denn «Martin Salander» das vollendetste, der «Grüne Heinrich» das veraltetste Werk vorstellen soll. Die «Züricher Novellen» bedeuten einen Fortschritt gegenüber den «Leuten von Seldwyla», weil die letzteren nebelhaft «irgendwo in der Schweiz» spielen, erstere realistisch in Zürich. Überall Fortschritt aus der Romantik zum Realismus. Leider sind «Rückfälle in die phantastisch verzerrende frühere Weise des Erzählers» häufig, und selbst im «Martin Salander» wagt es Keller nicht, ‹resolut› von Zürich zu sprechen; aber man kann doch auf die Persönlichkeiten «mit den Fingern» deuten «wie nur vor dem Roman eines französischen Realisten». Das also ist das Wahre der Poesie, daß man mit den Fingern auf die Modelle deuten könne! «Martin Salander» aber muß man aus der Lektüre Zolas erklären, so daß alles in allem Keller als ein unfertiger Zola dasteht! Hierüber ein Wort zu verlieren, lohnt sich nicht; Otto Brahm urteilt ja längst nicht mehr als Kritiker, sondern als eingeschworener Sektenmensch. So legt er zum Beispiel Kellers Polemik gegen die einstige Modeschwärmerei für das Pittoreske als ein Programm des Pleinairismus aus! An einem andern Ort behauptet er, der Realismus wäre ein schweizerischer Zug! Wenn ich noch erwähne, daß alles Realistische in Keller ewig, alles andere überlebt sein soll, wenn ich endlich melde, daß auch Brahm die Kellersche Prosa nicht zu charakterisieren und als eine einzigartig markige aufzufassen weiß, sondern sie mit Goethes glatter Prosa vergleicht, so haben wohl meine Leser genug dessen, was der bekehrte Otto Brahm über Gottfried Keller schreibt und etwa noch schreiben mag. Hier wird ja der Dichter bloß noch als Königsbauer für ein theoretisches Schachspiel vorgeschoben. Immerhin, ich betone es nochmals, ist Brahms Absicht eine löbliche und sein Horizont verhältnismäßig noch ein weiter. Mit herzlicher Wärme und aufrichtiger Verehrung erkennt Brahm in Keller alles an, was nicht geradezu den Gelübden des literarischen Kapuzinerordens widerspricht, welchem der gescheite, gelehrte und wohl auch etwas kluge Herr in einer schwachen Stunde zugeschworen.