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1886
In Paris ist soeben Diderot eine Statue gesetzt und mit einigem Geräusch, wenn auch nicht eben mit Feierlichkeit und Andacht, enthüllt worden. Der alte Büchner («Kraft und Stoff») kam aus Deutschland herüber und las «mit dem denkbar stärksten deutschen Akzent» die französische Übersetzung einer Rede vor; nicht ohne Hindernisse, da man ihn zuvor als Deutschen bedroht hatte und noch während der Rede auszuzischen versuchte. Und das war der einzige ernstliche Redner. Kurz, es scheint eine ziemlich mißlungene Feier gewesen zu sein. An Diderot liegt die Schuld nicht; denn hätten sich die Feiernden an Diderot inspiriert, so würden sie der Gedanken genug gefunden haben und vielleicht als besten diesen: das Statuensetzen zu unterlassen. In der Tat, abgesehen von dem nachgerade unleidlichen Unfug, kreuz und quer allerhand Privatmänner aus Stein an öffentlichen Plätzen hinzustellen, Männer, die weder schön waren noch unter mittelmäßigen Künstlerhänden bedeutend erscheinen, so gebührt dem geistreichen, lebhaften und chamäleontischen Geschlecht der enzyklopädischen Feuilletonphilosophen alles eher als eine Huldigung von seiten der monumentalen Kunst. Die grinsende Fratze eines Voltaire, das mondsüchtige Misanthropengesicht eines Rousseau und die quecksilbrige Liebenswürdigkeit eines Diderot gehören dem Charakterzeichner, aber nicht dem Bildhauer. Und wie haben sie den steinernen Diderot hergestellt? Im Schlafrock! Warum nicht im Hemde? Mit einer Katze auf dem Rücken?
«Aere perennius», sagt jemand von den Werken der Dichter. Und dabei dürfte man es bewenden lassen. Zwar hat Diderot nach dem richtigen Ausspruch der Franzosen kein einziges vollendetes ‹Buch› geschaffen, aber seine Werke lassen sich lesen, und zwar alle, ohne Ausnahme. Und wie lesen? Als ob sie gestern geschrieben wären. Auf ihn kann man das mißbrauchte Wort mit Recht anwenden, daß er ewig jung bleibt. Während aus Rousseau (mit Ausnahme seiner «Confessions») schon die tödlichste Langeweile uns angähnt, während ein Chateaubriand, ein Dumas père, ein Sue und sogar ein Feuillet wie aus einer längst entschwundenen Zeit uns anschauen, glänzt Diderot in lebendiger Frische. Was ist sein Geheimnis? Liebenswürdigkeit und Geist. Er ist vollendeter Franzose, leichtsinnig wie ein zweiter La Fontaine, daß einem Moralisten die Haare zu Berge stehen, aber dabei so harmlos, so gutartig und so sprudelnd gescheit, daß nur ein Pedant ihm böse werden kann.
Lessing ist ihm bekanntlich nicht böse gewesen, und auch die deutsche Kritik geht recht sanft mit ihm um, während sie noch immer trotz und zum Teil mit Strauß vor Voltaire das Kreuz schlägt. Rosenkranz hat in einem schweren zweibändigen Buche zu beweisen gesucht, daß Diderot eigentlich deutsch denkt. Das mag dahingestellt bleiben, das Deutsche wird wohl vielmehr in dem Universalismus des damaligen französischen Geistes liegen; jedenfalls hat Deutschland recht, sich mit Diderot liebevoll zu beschäftigen. Wir möchten nur wünschen, daß nicht immer von deutscher Seite der Hauptakzent auf die philosophische und dramaturgische Tätigkeit Diderots gelegt würde; denn das führt zu einer schiefen Auffassung des Mannes und seiner Werke.
Wodurch ist Diderot bedeutend?
Wir haben zunächst die berühmte philosophische «Encyclopédie», die wir aus der Geschichte und aus dem Konfirmationsunterricht zur Genüge kennen, wenn auch nicht dem Wesen, so doch dem Namen nach. Es stellt sich mehr und mehr heraus (und die deutsche Literaturgeschichtsforschung hat sich bei diesen Untersuchungen kein kleines Verdienst erworben), daß Diderot die einzige feste Säule dieses riesigen Unternehmens von welthistorischer Bedeutung bildete. Während eines Jahrzehntes ruhte es allein auf seinen Schultern. Er hat dabei unendliche Zeit und Mühe und Opfer verschwendet und war schließlich gezwungen, aus Geldnot seine Bibliothek an Katharina von Rußland zu veräußern. Der Ruhm der «Encyclopédie» rühmte zugleich den Namen Diderots; kein Wunder, daß derjenige, der die französischen Schriftsteller bloß lernt und nicht liest, bei Diderot zunächst an den Atheisten und Philosophen denkt. Aber die «Encyclopédie» ist es nicht, die Diderot zu dem bedeutenden Schriftsteller stempelt, der er ist und bleiben wird.
Wären es seine dramatischen Werke «Le fils naturel» und «Le père de famille» nebst der berühmten Vorrede, die Lessing für seinen Kampf gegen das klassische Theater der Franzosen so geschickt benützte? Die Oppositionsstellung des Meisters zu dem Klassizismus zieht immer wieder die Augen auf ihn; nicht allein Lessing, sondern selbst die Franzosen möchten gerne in ihm den Reformator sehen, der den Boden für das richtige Drama ebnete. So bekennen ihn die modernen Pariser Lustspieldichter als ihren Meister, wofern es sich um das Rührstück handelt, und Zola in seinem grimmigen Kriegszug gegen die Bühnentechnik springt auf den Standpunkt Lessings zurück und schwingt nochmals die Fahne Diderots. Leider müssen selbst seine begeisterten Lobredner sich darauf beschränken, die Grundsätze Diderots zu verfechten, seine Dramen hat nach Lessing kaum jemand mehr gerühmt, es sei denn einer, der sie nicht las. Die Freunde Diderots müssen sich mit Bedauern gestehen, daß dieselben unter dem tüchtigen Mittelmäßigen bleiben, und das indifferente Frankreich sagt es offen heraus: die Grundsätze sind beherzigenswert, die Dramen sind schlechterdings weder zu lesen noch zu spielen.
Wo haben wir also die Bedeutung Diderots zu suchen? Nun, wo man sie bei solchen überreichen Geist- und Talentverschwendern findet: überall und nirgends. Man ist bei Diderot niemals sicher, daß man nicht da, wo man es am wenigsten erwartet, einen Einfall von allerfeinstem Geist und von unglaublicher Anmut findet. Und darum mag man ihn immerzu lesen. Denn Diderot ist ein ureigner, frischer, sprudelnder Quell; wir bedauern nur, daß der Quell nicht gedämmt und kanalisiert, also gesammelt auftritt. Am ehesten möchte ich sie in den ästhetischen Schriften suchen, zum Beispiel in seinen leuchtenden «Salons». Übrigens spiegelt sich der blendende sympathische Glanz dieser Persönlichkeit nicht sowohl in seinen Werken, weil er nur so zwischenhinein schrieb und niemals mit ganzer Kraft schuf. Aus den Korrespondenzen, aus den Eindrücken der Zeitgenossen muß man lernen, welcher Zauber von Diderot ausstrahlte und zu was allem er tüchtig gewesen wäre, wenn er etwas getaugt hätte. Daß seine Gesammelten Werke nicht auf den Tisch junger Mädchen gehören, haben wir schon erwähnt, man dürfte ihnen eher noch Zola in die Hand geben. Aber auf den Tisch eines rechtschaffenen gebildeten Mannes gehören sie; denn es ist in einem einzigen Buche Diderots mehr Geist enthalten als in dem ganzen Rousseau und mehr Liebenswürdigkeit als in dem ganzen Voltaire.